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Eine Frau fällt vom Himmel.
Ich zählte die Sekunden zwischen Blitz und Donner - eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Multiplizierte sie mit dreihundertvierzig, die Meter, die der Schall pro Sekunde zurücklegt, um auszurechnen, in welcher Entfernung der erste Blitz eingeschlagen hatte: zwei Kilometer und dreihundertachtzig Meter. Ich berechnete den zweiten, den dritten, den vierten Blitz. Das Unwetter stürmte auf uns zu. Noch bevor der fünfte Blitz den Himmel aufriss, wusste ich bereits, wo er einschlagen würde.
Kianda war hundert Meter entfernt von mir und lief weiter voran, immer weiter, wie auf einer Bühne, angetrieben vom Licht. Ihre Schuhe versanken im Morast, rotes Lackleder auf rotem Rot. In der Ferne tanzten die Palmen. Dahinter ragte die unerschütterliche Silhouette eines Baobab auf. Kianda ging aufrecht, mit erhobenem Haupt, ihre schönen Hände mit den langen, schlanken Fingern über der Brust gekreuzt. Das Licht war wie eine goldene Substanz, zäh, fast schon flüssig, an die sich trockene Blätter hefteten, Papierschnipsel, feiner, aufgewirbelter Staub, Material, das der Wind in seinen gewundenen Armen mit sich riss.
Und meine Liebe schritt weiter der schwarzen Wolkenmasse entgegen. Ich musste daran denken, was ein berühmter Musikkritiker, ein alter, exzentrischer Engländer, einmal über sie gesagt hatte, um ihren Erfolg zu erklären: »Als Erstes berührt uns der Gegensatz zwischen der Zerbrechlichkeit ihrer auf eigentümliche Weise schroffen Gestalt und dem ungezähmten Stolz in ihrem Blick. Ihre mächtige und doch sanfte Stimme. Man möchte sie in Schutz nehmen und gleichzeitig schlagen.«
Kianda geriet in den Regen. Ihr leichtes, strahlend rotes Kleid aus Seide klebte an ihrer Haut, wurde dunkler, fast violett. Im tiefen Rückenausschnitt sah man die zwei blauen Flügel, die sie sich in Japan hatte tätowieren lassen. Je länger ich sie kannte, desto mehr faszinierten sie mich. Die Trompe-l'oeil-Technik lässt sie wie echt aussehen. Flügel, die sich bewegen, wenn sie atmet. Ihre wilde, flammende Mähne, die so viele Frauen nachzuahmen versuchen, hatte sich aufgelöst, hatte Fülle und Glanz verloren und hing nun über ihre sich deutlich abzeichnenden Schultern herab.
Ich öffnete die Autotür und stieg aus. Ein alter, dunkelgelber Chrysler, ein Oldtimer. Der nasse Wind schlug mir ins Gesicht. Ich rief ihren Namen, übertönte das Donnern des Unwetters. Kianda drehte sich zu mir um, und in diesem Moment ging ihr Blick in stummem Entsetzen nach oben.
Jetzt, wo ich alles noch einmal durchlese, merke ich, dass es sich liest wie das Drehbuch zu einem Werbespot. Nun käme die Parfumflasche ins Bild. Mit einem passenden Namen. »La tempête« oder so ähnlich. Aber nein. Ab hier kippt der Film.
Ich folgte Kiandas Blick und sah, wie die Frau vom Himmel gefallen kam - sie stürzte, nackt, schwarz, mit ausgebreiteten Armen -, fast im selben Moment wie der Blitz. Der Blitz schlug in einen Baobab ein und zerfetzte ihn. Ein Meteorologe hat mir vor Jahren einmal erklärt, dass Blitze Bäume sprengen, weil sich das Harz schlagartig erhitzt. Ich rannte zu ihr. Ihr Körper steckte halb im Morast. Ihr Kopf war nach hinten geknickt. Ich konnte die aufgerissenen, tiefschwarzen Augen erkennen. Sie leuchteten noch. Entsetzt wich ich zurück. Ich wollte nicht, dass Kianda das sah. »Lass uns gehen!«
»Gehen? Und sie?«
»Sie ist tot, Liebling! Um die musst du dich nicht mehr kümmern. Willst du die Polizei rufen?«
»Nein, nein! Nicht die Polizei. Ich will niemanden rufen. Du weißt genau, dass wir nicht zusammen gesehen werden dürfen.«
Ich nahm sie in den Arm. Kianda zitterte. Ich begleitete sie zum Wagen, setzte sie auf den Beifahrersitz und wir fuhren schweigend nach Luanda zurück. Als wir die Stadt erreichten, begann es gerade, dunkel zu werden. Ich parkte den Wagen zwei Straßen von ihrer Wohnung entfernt und beugte mich zu ihr herüber, um sie zu küssen.
Kianda wandte sich ab. »Nein! Nie wieder.«
Ich stieg aus. Sie rutschte auf meinen Platz, startete den Wagen und verschwand. Ich hielt ein Taxi an. Lange hatte es in Luanda keine richtigen Taxis gegeben, nur Candongueiros, Sammeltaxis im Dienste des Volkes.
Das Volk oder sie, so nennen wir, die Reichen oder fast Reichen Angolas, diejenigen, die überhaupt nichts haben. Also die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung.
Der Taxifahrer war ein dicker Kongolese. Sein Gesicht war glatt und glänzte im kupferfarbenen Licht des untergehenden Tages wie ein Spiegel. Er schenkte mir ein riesiges Lächeln.
»Wo soll's denn hingehen?«
»Keine Ahnung«, gestand ich mit tonloser Stimme. Die Angst ließ mich keinen klaren Gedanken fassen. »Irgendwohin.«
Der Mann lächelte wieder. »Keine Sorge. Ich bringe Sie hin.«
Eine halbe Stunde später setzte er mich vor einer kleinen Bar ab. Mir fiel die pulsierende Neonschrift über der Tür auf: »O Orgulho Grego« - Der griechische Stolz. Das Grinsen des Taxifahrers hatte inzwischen die Ausmaße einer ganzen Welt angenommen.
»Gehen Sie hinein und fragen Sie nach Mãe Mocinha. Sie wird Ihnen sagen, wo es hingehen soll. Sie irrt sich nie.«
Ich sah sie, kaum dass ich die Abflughalle betreten hatte. Auch die Frau hatte mich gesehen und heftete das unbarmherzige Strahlen ihrer großen schwarzen Augen auf mich, so intensiv, dass ich zu Boden sah. Als ich wieder aufblickte, war sie immer noch da, saß nun aufrecht auf einem Stuhl, elegant und erhaben wie eine äthiopische Prinzessin. Sie trug eine Pelzjacke von archaischem Luxus und eine schwarze Schlaghose. Ich setzte mich zwei Reihen hinter sie, um diesem Blick zu entkommen und sie ungestört beobachten zu können.
Wer war sie? Oder besser, was .? Ich begann mir verschiedene Varianten vorzustellen. Aus gutem Hause wahrscheinlich, aus einer der alten Familien von Luanda oder Benguela. Einer der Großväter könnte Beamter der Kolonialverwaltung gewesen sein. Der Vater dann Bürokrat im Dienste der Regierung, vielleicht auch erfolgreicher Unternehmer, ein zum Bergbau-Unternehmer konvertierter General. Sie könnte in Lissabon studiert haben oder in London oder New York. Oder gar in Lissabon, London und New York. Ihrer Kleidung nach zu urteilen widersprach ihr Geschmack allen aktuellen ökologischen Standards. Vielleicht machte es ihr aber auch nur Spaß zu provozieren, oder sie war reich genug, um über dem Urteil der Masse zu stehen. Immerhin war ich mir sicher, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. Ich musste an »Dornröschens Flugzeug« denken, eine der »Zwölf Geschichten aus der Fremde« von Gabriel García Márquez. Darin erzählt der Kolumbianer von einer Reise an der Seite der schönsten Frau der Welt, die kein einziges Wort mit ihm spricht. Ich bin oft mit dem Flugzeug unterwegs, fast jeden Monat, und kann mich nicht erinnern, je neben einer schönen Frau gesessen zu haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Fluggesellschaften Anweisung haben, schöne Frauen nicht neben Männer zu setzen, ganz gleich welche, ausgenommen sehr respektable Alte oder Priester vielleicht.
Als der Flug aufgerufen wurde, wartete ich, bis die Frau aufgestanden war, und stellte mich hinter sie in die Schlange. Zu meiner Überraschung drehte sie sich um, deutete mit ihrem rechten Zeigefinger auf mich und fragte: »Sind Sie Bartolomeu Falcato?«
»Meistens schon«, sagte ich und versuchte krampfhaft, mir etwas Geistreiches auszudenken, einen witzigen Spruch, irgendetwas, womit ich mir Luft verschaffen und meine Sicherheit wiedererlangen könnte. »Ich bin allerdings bereit, alles zu sein, was Sie möchten, wann und wo immer es Ihnen beliebt.« Ich sehe ein, das war nicht besonders originell. Meine Plumpheit schien sie jedoch nicht weiter zu stören.
»Ich heiße Núbia«, sagte sie einen Tick zu laut. »Ich wusste, dass wir uns begegnen würden, in Lissabon, in Luanda, irgendwo auf der Welt. Ich war mir sicher.«
Ich traute mich nicht zu fragen, warum sie so sicher war. Stattdessen wollte ich wissen, was sie machte. Sie lächelte nur. Dann rief jemand ihren Namen, sie ging, und ich sah sie erst im Flugzeug wieder. Sie saß ein gutes Stück vor mir. Der Sitz neben mir war frei. Als Núbia dies bemerkte, kam sie, legte ihre Pelzjacke ab und verstaute sie im Gepäckfach. Sie trug eine einfache weiße Bluse, sehr elegant, unter der große, feste Brüste zu erahnen waren. Dann öffnete sie einen kleinen roten Koffer aus Plastik, holte einen Stapel Zeitschriften heraus und legte ihn mir auf den Schoß.
»Damit Sie mich besser kennenlernen.«
Die Illustrierten hatten Namen wie »Cacau«, »Mulher Africana«, »Tropical«, »Caras e Cores«. Auf allen Titelblättern war Núbia. Einmal als Braut, die eine lange gewendelte Treppe hinabschreitet, auf dem zweiten posierte sie im Bikini auf einem Strandlaken, im Hintergrund schimmerte zwischen den Felsen ein smaragdgrünes Meer. Auf dem dritten trug sie nichts als knappe Jeans-Shorts und lachte ein jugendliches Lachen, während ihre Hände versuchten, die Brüste zu verbergen.
»Ach so«, seufzte ich erstaunt. »Sie sind Fotomodell .«
»Ich war vor zehn Jahren einmal Miss Angola. Danach habe ich...
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