Schweitzer Fachinformationen
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Jedes Weihnachtsfest braucht sein eigenes Wunder Draußen ist es kalt, Weihnachten steht vor der Tür und der Dorfpfarrer Don Bruno platzt mit einem Bündel im Arm bei Agata herein: Es ist ein Neugeborenes, das er verlassen in der Kälte an einer Straßenecke gefunden hat. Das Mädchen wird von Agata und ihren Freunden liebevoll umsorgt. Die Weihnachtstage verwandeln sich in ein Karussell aus Lachen, Tränen, Vergnügungen, aber auch aus Ängsten und Zweifeln: Wer ist die Frau, die ihr Kind der Kälte überlassen konnte? Ist ihr etwas zugestoßen? Was sollen sie mit diesem Kindchen machen, das bereits die Herzen von mindestens sieben Müttern und fünf Vätern gewonnen hat?
Von hier oben, von der Kuppe des Hügels, wirkt das Dorf wie ein Haufen Bauklötze in der Hand Gottes, dachte sie. Andere sagten, dieses Dorf sehe aus wie eine Weihnachtskrippe, und vielleicht hatten sie damit recht, aber eine Krippe ist es nur im Dunkeln, sagte sie sich, wenn das Licht der Straßenlaternen die Mauern in eine keksgoldene Farbe taucht und die Hässlichkeiten der Moderne verbirgt.
Es war Heiligabend, und es war eiskalt. Nun fing es sogar an zu nieseln, und sie war ohne Schirm und ohne Mantel hinausgelaufen; im letzten Moment hatte sie einen Schal gegriffen und sich darin eingewickelt wie eine alte Frau, die in dem Schwarz und den Fransen völlig verschwand. Sie wollte nicht erkannt werden, wollte weg von den Festessen und Familientreffen, von den Feierlichkeiten, Umarmungen, der Schalmeienmusik, den Geschenken in Glitzerpapier, dem frohe, frohe, frohe Weihnachten, das den Ritus der - ernst gemeinten oder vorgeschobenen - Liebesbezeugungen erneuerte, denn es ist doch Weihnachten, und so gehört es sich. Sie wollte das alles nicht.
Deshalb war sie hier hinaufgestiegen über steile Pfade, hatte die Einkaufsstraßen gemieden, die Horde der Auf-den-letzten-Drücker-Käufer, die den Gabentisch noch ordentlich mit Glitzerkram bestückten. Sie wollte weder Lichter noch Glitzer, sondern nur diese atemberaubende Aussicht - auf die verstreuten Häuser am Hang und auf das schwarze Meer im Hintergrund, auf die unzähligen Lichter der Küste, als gäbe es dort eine Metropole, doch da war keine Metropole, sondern nur eine Industrieruine, die das Dunkel mit blauen, rubinroten, smaragdgrünen und goldenen Punkten durchbohrte und in ein Märchenreich verwandelte.
Agata zog den Schal fester um sich. Der Nordwind ließ den Regen wie Nadelspitzen auf ihr Gesicht prasseln. Sie sollte nach Hause gehen, doch sie blieb und betrachtete in der Ferne die Provinzstraße mit der langen Autoschlange der Heimkehrer: Alle fuhren nach Hause, selbst vom Kontinent kamen sie und aus den entlegensten Ecken Siziliens, denn am Weihnachtsfest ist Einsamkeit nicht erlaubt.
»Wenn's sein muss, hol ich dich mit Gewalt«, hatte Toni Scianna gesagt, ihr bester Freund. Einst war er von ihr verzaubert gewesen, nun jedoch war er wie verrückt in Violante verliebt, seine blutjunge Ehefrau, die ihm erst kürzlich einen zweiten Sohn geboren hatte. »Wir treffen uns alle bei mir. Da dürfen Sie einfach nicht fehlen, Bürgermeisterin.«
Bürgermeisterin . So nannte er sie, wenn er einem Gespräch einen offiziellen Ton verleihen oder eine trügerische Distanz herstellen wollte, mit der sie im Rathaus Schulter an Schulter arbeiteten, sie als Bürgermeisterin, er als Stadtrat für Öffentlichkeitsarbeit und ihr Stellvertreter. Er war der Mann, dem sie so sehr vertraute, dass sie im Notfall sogar ihr Leben in seine Hände legen würde.
»Was sagen Sie?«, drängte er.
»Wir feiern morgen, Professore«, erwiderte sie müde.
»Aber auch heute Abend, Bürgermeisterin!« Es war mehr ein Befehl als eine Bitte.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich will allein sein, Toni.«
»Aber warum?« Er war wütend.
Sie hatte ihm nicht geantwortet. Was hätte sie ihm auch sagen sollen? Andrea fehlt mir? Ich kann ohne ihn nicht leben?
Sie wäre sich dumm vorgekommen. Sentimental.
Sie sah zum Haus des Freundes. Es funkelte wie ein Weihnachtsbaum. Diese Überfülle hätte der alte Scianna gehasst, der neue hingegen bestaunte sie genauso fasziniert wie sein Sohn Francesco, ein Knirps von gerade einmal zwei Jahren, der bereits flink durch die Gegend flitzte und unaufhörlich plapperte.
Seit er Violante geheiratet hatte, war Toni ein anderer: Vom besserwisserischen Latein- und Griechischlehrer, Weiberhelden, Dichter im Verborgenen, der einst mit Dante und zuletzt auch mit Gott diskutiert hatte, war wenig geblieben. Jetzt schien er sich in einem Zustand ständiger Aufregung zu befinden, und auf ihre diesbezügliche Feststellung hatte er die Arme ausgebreitet und gesagt: »Stimmt. Violante macht mich ganz wuschig. Sie steckt so voller Energie, dass ich neben ihr wieder zwanzig bin oder fünfzehn oder zehn, und manchmal kommt es mir vor, als wäre ich wieder der kleine Junge, den schon ein Lutscher glücklich macht.«
Genervt schüttelte Agata den Kopf. Bist du eifersüchtig auf sein Glück?, fragte sie sich. Und wieder fühlte sie sich töricht. Und traurig. Und betrübt. Und einsam in dieser Dunkelheit und dieser Stille, in dieser Nieselschönheit, die die entfernten Lichter durchfurchte und mit Traurigkeit tränkte.
Agata wollte weinen, doch die Tränen kamen nicht.
Die Uhr am Turm begann zu schlagen. Acht Schläge, die in der kristallklaren Luft noch schärfer klangen.
»Um acht Uhr bei mir«, hatte Toni gesagt.
Und tatsächlich klopften zwei Gäste überpünktlich an seine Tür. Selbst von hier oben erkannte sie Lisabetta an ihren üppigen Locken, die der Wind wie die Schlangen eines Gorgonenhauptes bewegte. Einen Moment sah Agata sie mit den Augen anderer Leute, dieses Weib, das mit seinen Kräutermischungen selbst Tote wiedererwecken konnte, so hieß es im Dorf; doch statt Angst zu haben oder ehrfürchtigen Respekt zu empfinden, bewunderte Agata sie umso mehr. An ihrem Arm ging Peppino Grimaldi, der Arzt, über den selbst die schlimmsten Giftzungen nur Gutes sagen konnten.
Anfangs, als Grimaldi und Lisabetta ihre Verlobung bekannt gegeben hatten, waren die Leute äußerst verwundert gewesen: Wie jetzt? Der Dottore vertraut der Megäre? Der Mann der Wissenschaft verbürgt sich für ihr Hexengebräu?
Doch wurden alle eines Besseren belehrt, denn der Doktor und die Megäre gaben ein hervorragendes Paar ab, selbst bei der Ausübung ihrer Berufe, denn dort, wo sie mit ihren Heilkräutern nicht weiterkam, übernahm er mit seinen Pharmazeutika, und noch nie waren Kranke so schnell von ihren Wehwehchen geheilt worden.
Auch Lisabetta hatte sie gedrängt, am heutigen Abend mit den Freunden zu feiern: »Schwes, ich will nicht, dass du allein bleibst.«
Schwes, Schwester, so nannten sie sich gegenseitig, denn das waren sie - die beiden Einzelkinder - füreinander wirklich geworden: die Schwester, die die andere nie gehabt hatte.
»Ich muss was erledigen«, hatte Agata geantwortet.
»Wie? Ausgerechnet an Heiligabend? Kommt gar nicht infrage.«
»Bitte, Lisa, versteh doch .« Ihre Stimme hatte versagt, und Lisa hatte aufgegeben.
»Andrea, wo bist du?«, murmelte Agata und blickte in die Ferne zum Meer.
Als Antwort ertönte ein Klagelied, gespielt von vorbeiziehenden Musikanten, und steigerte ihre Traurigkeit noch.
Agata sah zur Kaserne. Verschlossen und dunkel, nicht ein Fitzelchen erinnerte daran, dass Weihnachten war und man froh sein musste. Besser gesagt, glücklich. Ist es nicht so, Maresciallo?
Ein Kloß verschloss ihr die Kehle. Sie schob den Schal vom Kopf, damit der Wind ihre trübsinnigen Gedanken forttrug. Alles wollte sie vergessen: dass sie die Bürgermeisterin dieses Dorfes war, das sich durch »Poesieschüsse« tatsächlich veränderte - indem es vor allem der Jugend Kultur einflößte -, dass sie die Tabbacchera war, die seit vier Jahren jeden Morgen aufstand und dabei an den toten Ehemann dachte, an Costanzo Di Dio, dem sie am Grab »nie endende Liebe« geschworen hatte, und nie war nun einmal ein bindendes Wort.
Und doch hatte sie sich in den Maresciallo verliebt, ganz langsam: ein angedeuteter Gruß an einem Tag, ein höfliches Lächeln an einem anderen, dann die Bitte um einen Rat bei einer Sache, die er, der Neuling vom Kontinent, nicht lösen konnte, später ein Buch als Geschenk: »Das müssen Sie lesen, Signora. Es wird Ihnen gefallen.« Und so war aus ihnen Andrea und Agata geworden: Verschwunden war der Maresciallo, verschwunden die Tabbacchera, außer im Scherz oder wenn die Bürgermeisterin sich ganz offiziell an den Maresciallo wandte und sie gemeinsam gegen das Organisierte Verbrechen kämpften, das dieses Land wie eine Quecke besiedelte. Er war an ihrer Seite, rücksichtsvoll, hilfsbereit, höflich, nie ein Wort zu viel, nie eine ungebührliche Geste, und doch überkam beide die Glut des Begehrens, und Agata spürte sie, spürte sie in jeder zurückgehaltenen Handbewegung, in jedem unvermittelt abgebrochenen Satz. Andrea Locatelli wusste, dass sie Witwe war, und respektierte sie.
Im Laufe der Zeit hatten sie es sich angewöhnt, kurze SMS hin- und herzuschicken, meist poetische Verse, die ihnen wichtig waren. Er hatte angefangen: »Frage uns nicht nach der weltenöffnenden Formel .« Sie hatte sofort geantwortet: ». such nach der Silbe, die knorrig und dürr ist wie Reisig .«
Ein wunderschönes Spiel, das sie einander noch näher gebracht hatte und das zu einem E-Mail-Wechsel wurde, in dem sie sich ihre Geschichten erzählten.
So erfuhr sie von seiner Kindheit in Turin, seiner Vorstellung von Gerechtigkeit, die er zusammen mit der Milch seiner Mutter eingesaugt hatte, einer eisernen Richterin, die ihm die grundlegenden Prinzipien der Verfassung in Reimform eingebläut und ihm beigebracht hatte, dass das Recht über allem steht.
»Wie hätte ich da nicht Bulle werden sollen?«, schrieb er ihr eines Tages.
Sie wiederum hatte ihm von dem über alles geliebten Vater erzählt, der auch zur...
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