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Heuchelei. Der Gedanke raubte mir den Schlaf. Immer wieder wälzte ich mich von der einen Seite auf die andere, lag mal bäuchlings, mal rücklings auf dem Bett, ohne aber jemals in eine Position zu kommen, in der sich meine Muskulatur entspannte und mein Geist langsam in einen Dämmerzustand verfiel. Ich schwitzte. Obwohl ich das Fenster sowie die Läden davor geöffnet hatte, klebte das Oberteil meines Pyjamas auf meiner Haut, und die Poren darunter sonderten laufend mehr Flüssigkeit ab, die mein Bett langsam, aber sicher in ein warmes, feuchtes Nest verwandelten. Ich hasste es, wenn mein Bettlaken sich nicht trocken anfühlte. Ich hasste es, wenn ich deswegen nicht schlafen konnte. Aber noch mehr hasste ich es, wenn mein Verstand nicht aufhören konnte zu denken, mich überhaupt erst in diesen Teufelskreis hineinmanövrierte. Ich musste schlafen.
Obwohl ich wusste, dass es eine Dummheit war, mich selbst unter Druck zu setzen, tat ich es dennoch. Ich konnte nicht anders. Mein Verstand konnte nicht anders. Ich konnte meine Gedanken nicht loswerden. Sie sagten, dass ich morgen frisch sein musste, dass die Prüfungen näher kamen, dass die Zeit knapp war, dass ich sonst versagen würde.
Mit einem Ruck stand ich auf. Ich zwang mich, nicht auf meinen Wecker zu sehen, das Bedürfnis zu unterdrücken, auszurechnen, ob ich noch auf die acht Stunden Schlaf kommen würde, die ich erfahrungsgemäss brauchte, um am nächsten Morgen effizient lernen zu können. Ich durfte dem Teufelskreis keine weitere Nahrung geben. Ohne das Licht einzuschalten, tappte ich zur Toilette. Ich hatte mich schon oft gefragt, ob ich wirklich so eine schwache Blase hatte, wie es für die Mitbewohner meiner Wohngemeinschaft den Anschein machen musste. Sicher war einzig, dass ich immer, wenn ich nicht schlafen konnte, an meine Blase dachte. Und sobald ich an meine Blase dachte, musste ich auch auf die Toilette. Ich drückte die Spülung der Toilette und zog die Taste gleiche wieder zurück. In Anbetracht der Möglichkeit, dass ich in zehn Minuten vielleicht schon wieder urinieren musste, war es sinnvoll, Wasser zu sparen. Auf dem Rückweg ins Zimmer achtete ich darauf, die Tür so leise wie möglich ins Schloss gleiten zu lassen. Marcel, der im Zimmer gleich nebenan wohnte, hatte mich schon öfters darauf hingewiesen, die Tür nicht immer zuzuknallen, was bei geöffnetem Schlaf- und Badezimmerfenster meist ganz ohne mein Zutun geschah. Heute klappte es problemlos.
Ich ging um mein Bett herum und stellte mich ans offene Schlafzimmerfenster. Draussen fielen vereinzelte Schneeflocken auf den Gallusplatz vor dem Kloster St. Gallen. Augenblicklich fing ich an, im feuchten Pyjama zu frieren. Doch die Kälte störte mich nicht. Ich genoss es fast ein wenig, wie sich die Härchen auf meinen Armen und meiner Brust aufstellten und ich Gänsehaut bekam. Frische Luft. Endlich konnte ich wieder ruhig atmen. In einiger Entfernung hörte ich das Geräusch eines Automotors. Kurz darauf war es wieder still. Ich liess meinen Blick über den Platz wandern. Das Kloster, der Brunnen, aus dem zu dieser Jahreszeit kein Wasser kam, der Baum mit den Sitzbänken in der Mitte des Platzes. Alles war so friedlich. Zum ersten Mal seit ich vor anderthalb Jahren für mein Wirtschaftsstudium nach St. Gallen gezogen war, wurde mir bewusst, wie sehr ich doch St. Gallen mochte. Meine Wohnung, im Zentrum der Altstadt, den Dorfcharakter des Ortes, die Umgebung mit den Drei Weihern, die sich im Sommer zum Schwimmen und das ganze Jahr als Joggingparadies anboten. Eigentlich hätte ich glücklich sein müssen, wenn nicht .
Heuchelei. Der Gedanke schoss mir wieder durch den Kopf und vernichtete den Anflug von Behagen, das sich für kurze Zeit in meinem Körper hatte ausbreiten wollen. Nun fror ich, aber nicht mehr auf eine angenehme Weise. Meine Muskeln verkrampften sich, als wollten sie sich dagegen wehren, dass die Kälte an sie herandrang. Ich schlang meine Arme um meinen Oberkörper und trat einen Schritt vom Fenster weg. Das war genug. Entschlossen verschloss ich das Fenster und legte mich zurück ins Bett. Eigentlich hätte ich auch die Läden verschliessen sollen, aber um noch einmal aufzustehen, fehlte mir der Nerv. Warum hatte ich mir das nur angetan? Warum war ich hier? Warum war ich nur nach St. Gallen gekommen? Sosehr ich mir versuchte einzureden, dass es mir in dieser Stadt gefiele, dass ich glücklich wäre, ich fühlte in meinem Innersten, dass ich mich selbst belog. Wie konnte man schon glücklich sein, wenn der eigene Lebensmittelpunkt so viel Energie kostete, ein Kampf gegen mich selbst war, eine Tortur, die ich mindestens drei Jahre lang über mich ergehen lassen musste?
Das Studium, die Universität, die Leute an der Universität, ich konnte sie allesamt nicht ausstehen. Diese Geldgier, dieses Streben nach Macht und Anerkennung, dieses Gefühl, besser zu sein als alle anderen, das sowohl Studierende als auch Dozenten prägte. Das war nicht ich. Und dennoch ging ich tagtäglich die Treppen hinauf zum Rosenberg, verbrachte meinen ganzen Tag in den düsteren grauen Universitätsgebäuden aus Sichtbeton und war am Ende genauso ein HSG-Student wie alle anderen. Heuchelei? Ich wusste es nicht. Oder zumindest war ich mir nicht sicher. Wie immer wenn der Heuchelei-Gedanke drohte, mich in ein geistiges Hamsterrad zu verfrachten, versuchte ich mir zurück ins Gedächtnis zu rufen, wie ich mich entschieden hatte, nach St. Gallen zu gehen. Ich war schon als Kind ein Naivling gewesen, oder zumindest ein unverbesserlicher Optimist, gespickt mit einer Prise Grössenwahn, was auch meine Studienwahl nachhaltig geprägt hatte.
Wie so viele meiner Kollegen hatte ich nach dem Gymnasium nicht sicher gewusst, was ich studieren wollte. Was ich aber wusste, war, dass ich mich für Menschen interessierte. Wie sie sich verhielten und was sie dazu veranlasste, die Entscheidungen zu treffen, die sie trafen. Psychologie wäre eine naheliegende Entscheidung gewesen. Ich hätte in Bern studieren können, nur gut eine halbe Stunde entfernt von Langenthal, jener Kleinstadt im Oberaargau, in der ich aufgewachsen war. Ich hätte weiterhin zu Hause wohnen können und weder selbst einkaufen noch waschen müssen. Doch ich hatte mehr gewollt. Ich hatte mich für Grösseres bestimmt gesehen als für ein reibungsloses Studium und ein wohliges Nest, in dem ich wohnen konnte. Ein Psychologiestudium, nachdem ich die Matura als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte? Psychologie studierte doch heute jeder, sagt man, Psychologie ist etwas für die Leistungsschwachen, als Psychologe bist du ein halber Psychiater, aber eben nur ein halber, da du keine Medikamente verschreiben darfst. Also hatte ich die Idee verworfen. Ich hätte es nicht ertragen, als leistungsschwach gebrandmarkt zu werden, auch wenn dies niemand laut ausgesprochen hätte. Ich hätte es gespürt. Genauso wie ich an der HSG spürte, dass mich Leute aufgrund meines Berner Dialektes im ersten Augenblick für intellektuell beschränkt hielten, weil sie nicht verstehen wollten, dass sich von meiner Artikulationsgeschwindigkeit nicht direkt auf meine Denkleistung schliessen liess. An meiner ersten Studentenparty hatte ein Kommilitone meinen WG-Mitbewohner Marcel gefragt, ob ich geistig behindert sei. Doch das war für mich nur noch die Bestätigung gewesen. Gespürt hatte ich diesen leicht jovialen Blick, sobald ich meinen Mund geöffnet hatte.
Meine zweite Idee war ein Politikwissenschaftsstudium gewesen. Schliesslich wollte ich mehr, nicht im materiellen Sinn, sondern als Legitimation für meine Existenz. Mich trieb der Gedanken an, die Welt zu verändern, sie zu verbessern, sie zu einem lebenswerten Ort für alle zu machen. Das war sie wieder. Die Prise Grössenwahn, die in meinem Fall wohl eher ein ganzer Esslöffel war. Ich hatte ganze Tage meines Lebens dafür verwendet, Artikel über Todesstrafen in verschiedenen Ländern zu lesen, allen voran in den Vereinigten Staaten. Ich hatte davon geträumt, mich für existenzielle Rechte einzusetzen, mich mit den ganz Grossen anzulegen, für eine Welt zu kämpfen, die wenigstens in den Grundzügen dem entsprach, worin ich mich wohlfühlte. Doch nachdem ich gesehen hatte, wie der amerikanische Präsident Obama erfolglos versuchte hatte, auf Kuba Guantanamo zu schliessen, seine «Yes We Can»-Bewegung zwar zu einem Friedensnobelpreis, aber zu keiner sichtbaren Veränderungen geführt hatte, hatte ich resigniert. Wenn es der mächtigste Politiker der Welt nicht einmal schaffte, ein Gefangenenlager zu schliessen, dann brauchte ich Politik gar nicht erst zu studieren. Dann war Politik grundsätzlich der falsche Weg, die Welt zu verändern. Und ich wollte die Welt verändern. Ich wusste, dass es grössenwahnsinnig war. Ich spürte, dass mir meine Einstellung der Welt gegenüber als Arroganz ausgelegt wurde. Aber dennoch fühlte ich mich auf irgendeine Weise dazu bestimmt.
Also dachte ich weiter, wälzte mich nächtelang schlaflos in meinem Bett, bis es mir eines Tages, als ich an der Coop-Kasse stand, in der einen Hand einen Apfel, in der anderen eine Zehnernote, wie Schuppen von den Augen fiel. Wer Menschen verstehen wollte, musste nicht Psychologie studieren, musste nicht Psychiater werden. Er musste einzig und alleine verstehen, was wir heutzutage alle brauchten, um zu leben, um zu überleben - Geld. Obwohl ich bis heute der Meinung bin, dass sich Glück nicht mit Geld kaufen lässt, war ich der Überzeugung, dass der Grossteil der westlichen Gesellschaft dieses Wissen nicht zu leben schien. Dass die Menschen zwar schon sagten, das Geld mache sie nicht glücklich, dann aber dennoch vor nichts zurückschreckten, um die Beförderung zu ergattern, stundenlang zur Arbeit pendelten, obwohl ihnen die Arbeit vor Ort mehr zusagte, und sich zum Geburtstag nur die...
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