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Jede bedeutende Kultur scheint einen herausragenden literarischen Repräsentanten zu besitzen. Für Griechenland ist es Homer, für Italien Dante, für Spanien Cervantes, für England Shakespeare, für Frankreich (laut der letzten Umfrage) Stendhal,[1] für Russland Puschkin und für Deutschland Goethe. Auch wenn der Gedanke heute nicht mehr der Mode entspricht, sind all diese Autoren Nationalschriftsteller: Dichter, die eine ganze Kultur erfassen und in vielfältiger Weise zum Ausdruck bringen. Selbst unter den genannten Autoren hat Goethe etwas Besonderes. Tatsächlich übertrifft er die Mehrzahl seiner künstlerischen Mitstreiter so sehr an Breite und Tiefe, dass er als einer der beachtlichsten Künstler aller Zeiten gelten darf - auf einer Stufe mit Michelangelo und Mozart. Diese Gestalten dachten die menschliche Identität neu. Denn auch wenn behauptet wurde, Shakespeare habe «das Menschliche» erfunden,[1] wäre es doch gerechter, wenn man sagte, jeder dieser Schriftsteller habe eine neue Art geschaffen, Mensch zu sein. Ihr Werk wurde zum Vorbild für die Zukunft. Zeitgenossen betrachteten sie voll Bewunderung - wie etwa Haydn Mozart bewunderte. Und über Generationen blickte man voll Dankbarkeit und Staunen auf ihre Leistung. Auch wenn Novalis seine Meinung später änderte, hatte er zuvor doch gesagt: «Goethe ist der wahre Statthalter des poetischen Geistes auf Erden.»[2] Marcel Proust bezeichnete Goethe als den «größten Geist, der jemals gelebt hat»,[3] und Friedrich Nietzsche behauptete angesichts seiner Leistung, Goethe sei nicht nur ein «grosser Mensch, sondern eine Cultur».[4] Das heißt, er habe die Maßstäbe und Werte, die Praktiken und Überzeugungen geformt, die sein Zeitalter definierten. In Anerkennung seiner Rolle wurde seine Epoche gar nach ihm als die «Goethezeit» benannt, um ihn wie einen Kaiser zu deren repräsentativster Gestalt zu erheben. Kein Wunder, dass Napoleon ihn auf dem Erfurter Fürstenkongress kennenlernen wollte. Goethes Ansehen als Künstler kam dem politischen Ansehen Napoleons gleich.[5]
Große Autoren seiner Art prägen nicht nur ihre Zeit. Thomas Mann pries ihn als die repräsentative Gestalt des bürgerlichen Zeitalters schlechthin und kam immer wieder auf seine Schöpfungen zurück.[6] Er traute Goethe welthistorische Bedeutung zu[7] und setzte ihn in einen Zusammenhang mit der Entwicklung der Zivilisation.[8] Das höchste Lob stammt allerdings von Einstein, der in einem Brief an Freud Goethe neben Jesus als ein geistiges Vorbild bezeichnete.[9] Aus lauter Verehrung für Goethes Größe fällt es einem schwer, sich vor Überschwänglichkeit zu schützen.
Auch die deutsche Politik blickt auf Goethe. Die Verfassung der ersten Demokratie des Landes, der Weimarer Republik, wurde nach dem Ersten Weltkrieg in Weimar beschlossen. Die Wahl fiel hauptsächlich aus praktischen Gründen auf diese Stadt, aber wohl auch zu Ehren von Herder und Wieland, von Goethe und Schiller. Goethe wurde eng mit den Idealen der Republik assoziiert. Er wurde zur charismatischen Figur im Gründungsmythos des neuen Staates. Mutige Intellektuelle wie Wolfgang Frommel und Ernst Robert Curtius[10] beriefen sich im Kampf gegen den Nationalsozialismus auf ihn. Bei den Festlichkeiten zum Jahrestag der Unterzeichnung der Verfassung hielt der Journalist Werner Thormann am 11. August 1932 (kurz nach Goethes hundertstem Todestag) eine kämpferische Rede, in der er auf Goethe verwies und daran erinnerte, dass dessen Ethos die Weimarer Verfassung inspiriert hatte.[11] Auch wenn man einst glaubte, die Nazis hätten wenig mit Goethe anfangen können, scheint es heute, dass sie durchaus versuchten, seine Ansichten für politische Zwecke zu missbrauchen, wenngleich nicht in großem Stil.[12] Der Missbrauch hat ihm nicht geschadet: Nach dem Zweiten Weltkrieg wiesen führende öffentliche Intellektuelle wie der Philosoph Karl Jaspers,[13] der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt und der Politiker Carlo Schmid[14] diese ungebührliche Vereinnahmung zurück und wandten sich wieder Goethes authentischen Ansichten zu. Sie versuchten, seine Überzeugungen - Freiheit und Bildung, Menschlichkeit und Kosmopolitismus - zu verwirklichen, um die Ideologie des Dritten Reichs zu überwinden. Seine Ideen dienten dazu, der neuen Politik eine positive Richtung zu geben, und das nicht zuletzt durch deren Beitrag zur Ausgestaltung des deutschen Grundgesetzes.[15] Goethe war dem Wesen nach ein Reformpolitiker, nach eigener Aussage kein Freund des Bestehenden, und er gehörte zu den Archiktekten des modernen Liberalismus und des modernen liberalen Staates.
Die Moderne definiert ihre Art des Denkens und Fühlens unter Bezug auf Goethes Innovationen. Was Giorgio Vasari über Michelangelo sagte, könnte auch auf Goethe gemünzt sein: ein «Geist [.], allvermögend in jeder Kunst und jedem Beruf», dem zudem «wahre Philosophie und die Zierde der holden Dichtkunst» eigen sei.[16] Solche Wertschätzungen von Goethe gibt es in großer Zahl, versucht man jedoch, seine Qualitäten genauer zu bestimmen, zerrinnen sie zwischen den Fingern.
Goethes Sprache, die für seine Leistung so überragende Bedeutung besitzt, lässt sich nur schwer übersetzen; seine Ideen scheinen sich trotz ihrer Originalität in Luft aufzulösen; seine literarischen Fähigkeiten, die in seinen eigenen Worten so klar zutage treten, widersetzen sich einer Übertragung; und seine naturwissenschaftlichen Vorstellungen, so neu und brillant sie sein mögen, wollen nicht recht dem Temperament des englischen Publikums entsprechen, meiner ursprünglichen Leserinnen und Leser. Selbst seine Weisheit - und davon findet sich viel - erscheint dem englischen Empfinden oft als banal. Dennoch ist die Liste der englischen Schriftsteller, die Goethe bewunderten, recht lang. William Makepeace Thackeray besuchte ihn in Weimar, und Thomas Carlyle schloss Freundschaft mit dem alternden Meister. Unter den Romantikern erwiesen ihm William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge, Lord Byron und Percy Bysshe Shelley ihre Ehrerbietung. In der großen Tradition der Romanciers von Charles Dickens und George Eliot bis hin zu Henry James und D.H. Lawrence spielte Goethe eine zentrale Rolle, nicht zuletzt als Autor des herausragenden Bildungsromans. Und James Joyces Finnegans Wake räumt ihm mit «Daunty, Gouty and Shopkeeper» - einem Wortspiel mit den Namen Dante, Goethe und Shakespeare - einen Platz unter den Giganten ein.
Goethes Autobiographie und das davon inspirierte Buch, The Life of Goethe (1855) von G.H. Lewes, prägten die neue Gattung der Biographie, wie wir sie heute kennen, die Geschichte und Fakten mit Empathie und phantasievoller Neuschöpfung verbindet. Auch die Literaturwissenschaft, von Matthew Arnold und Walter Pater bis hin zu F.R. Leavis - der weder wusste noch sich darum scherte, was er Goethe verdankte -, übernahm seine Prinzipien und verwirklichte sein ästhetisches Programm, vor allem seine Wertschätzung für «das Leben».
Nur wenige gingen solche Risiken ein. Keiner erreichte in seinen Leistungen solch eine Bandbreite. Gewiss, ein englischer Dichter verwies kritisch auf Goethes «gefährliche Vielfalt» (perilous multiplicity), doch das erscheint mir abwegig.[17] Wenn je ein Autor sein Talent mit Leichtigkeit entfaltete, dann Goethe, der sich am selben Tag mit Fragen aus vielen verschiedenen Bereichen befassen konnte, einschließlich Verwaltung und Philosophie oder Poesie und Naturwissenschaft.
Goethe verstand zu leben und zu lieben und das Leben weitestmöglich auszuschöpfen, aber zugleich auch - wie Konfuzius oder Montaigne - Weisheit zu vermitteln. Die Weisheit ist der Hüter der Kultur. Das hat man besonders in Frankreich erkannt. André Gide, der von Goethe fasziniert war, entdeckte in ihm eine «höhere» oder «herablassende» Banalität (banalité superieur): «Er wird wieder banal, in einem höheren Sinne.»[18] Goethe verstand es, die Tatsachen des Lebens in eine höhere Potenz zu erheben und Erfahrung in Weisheit zu verwandeln. Flaubert nennt ihn in einem Atemzug mit Kant,[19] und sein Briefwechsel mit Schiller wurde in Frankreich von gebildeten Personen gelesen wie etwa der Mutter von Marcel Proust, Jeanne Weill Proust.[20] Diese schenkte ihrem Sohn ein Exemplar dieses Werks.[21] Proust selbst fand es nützlich bei seinen Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Philosophie. Romain Rolland erkennt in Goethe den «lebenslangen Freund und...
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