Schweitzer Fachinformationen
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»Sei bitte nicht so ein Instagram-Opfer .«
STELLA HAGER, Baujahr 1994
»Hilfe«, flüsterte meine Freundin K., »ich werde sie einliefern müssen.« - »Wen?« - »Meine Mutter. Sie leidet an Instagramitis und postet im Minutentakt.« - »Aber ist das nicht ein kollektives Leiden, irgendwie?« - »Ahnungslose! Schau dir das an, das ist doch pathologisch.« Sie klappte ihr iPad auf und zeigte mir die Bilder einer zweifelsfrei gut erhaltenen Endsechzigerin, die im Badeanzug nach Art von 20-minus-Models aus dem bulgarischen Raum posierte: den Mund pseudolasziv eine Haselnussbreite geöffnet, ein grimmiger, nahezu an Melania Trumps verkniffene Sehschlitze gemahnender Blick und (wirklich Hilfe!) auf allen Vieren vornübergebeugt, ihren Tuches (das schöne jiddische Wort für Hintern) Bereitschaft signalisierend in die Höhe gereckt, all diese Offenherzigkeiten mit einer tollpatschigen Photoshop-App bearbeitet. Zwischen diesen »Playboy für Arme«-Inszenierungen waren auf ihrem Instagram-Account noch die üblichen Spaß-im-Schnee-Sujets, pseudonatürliche Schnappschüsse mit wehenden Haar-Extensions und grünen Drinks am Strand, Geschnäbel mit dem etwas jüngeren Stiefvater vor Champagnerbuden. Die Hashtags hatten es auch in sich, unter jedem Foto zirka 25, Marke #soblessed, #besthubbyintheworld, #lifeisbeautiful. »Und als ob das nicht alles schlimm genug wäre, will sie jetzt eine Influencer-Karriere für Konsumprodukte der Generation Silver Surfers beginnen. Gegen meine Mutti altert Madonna in Würde.«
Da hatte ich ja wirklich Glück: Meine Mutter hatte gerade erst einmal Emojis entdeckt und befeuerte jede Nachricht mit einer Armada Regenbogen-speiender Einhörner oder Smileys in allen Gemütslagen, beim Posten beschränkte sie sich auf botanische Highlights aus ihrem Garten.
Das Paris-Hilton-Syndrom hatte also nach 20 Jahren die Menschheit flächendeckend erfasst. Als ich meinen Facebook-Account aufklappte, wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass Pepi Pospischil jetzt gleich live on air gehen würde, um Grilltipps abzusondern, und Mechthild Kalchmair, Berufsbezeichnung »collector of happy moments«, möchte, dass ich ihre Fanpage mit einem Gefällt-mir-Däumchen bedenke.
Vor fast 30 Jahren hatte ich in New York mit dem Fotografen Ashkan Sahihi eine Reportage über das damals neue Phänomen des »Public Television« gemacht. Es gab in New York ein paar offene TV-Kanäle, wo Menschen der Selbstinszenierung frönen durften. Wir besuchten damals unter anderem in Queens einen Typen, der sich auf diesem Kanal in seiner Badewanne liegend inszenierte und mit einer Armada Gummi-Entchen das Alltagsgeschehen mit verstellten Stimmen kommentierte. Ein alterndes Porno-Starlet namens Robin gab in einem anderen Teil der Stadt Schminktipps und Betriebsanleitungen für den perfekten Blowjob vor laufender Kamera zum Besten. Alle unsere durchwegs schrägen Interviewpartner wirkten damals sehr glücklich, dass ihnen etwas Öffentlichkeit vergönnt war.
Jahre später kam »Big Brother« mit seinen Container-Gladiatoren; das Ekelfernsehen gipfelte dann im Dschungelcamp. Rückblickend betrachtet alles Kinderkram, bevor Facebook und Instagram unser Leben und unsere Bedürfnisse zur Selbstinszenierung befeuerten und in Folge total umkrempelten.
Der Vater aller Insta-Accounts
Was würde Andy Warhol, der Urvater der Demokratisierung von Ruhm, wohl zu dieser Flut der Selbstinszenierungen sagen? Mit Sicherheit ein enthusiastisches »Like a lot.«
Als Andrej Warhola, so sein bürgerlicher Name, im Juni 1968 im Alter von 40 Jahren nach dem Schussattentat auf ihn frisch operiert in Manhattan in einem Spital zwischen Leben und Tod dämmerte, hörte er die Krankenschwester neben sich schluchzen und die Direktübertragung einer bombastischen Trauerfeier aus der nahe gelegenen St.-Patrick's-Kathedrale aus dem TV-Gerät. Erst Stunden später realisierte er, dass die Menschenansammlung auf dem Schirm, die weinend im Gebet versunken war, nicht ihm gegolten hatte, sondern Robert Kennedy, der am 5. Juni bei einer Vorwahlveranstaltung in Kalifornien einem Attentat zum Opfer gefallen war.
Kippende Realitätsebenen, austauschbare Protagonisten, das Leben als Kunstwerk und die Kunst als zufälliges Nebenprodukt des Alltags - all diese Komponenten verdichteten sich in diesem Moment. Sie bildeten auch das Fundament für das, was Andy Warhol später »Popism« nannte, ein Überbegriff, den er über seine gesamte Kunst- und Lebensphilosophie gestülpt hatte. Seine Polaroids, die er täglich wie besessen von allen und allem, was ihm unterkam, schoss, waren Teil dieser Philosophie, in der die Grenzen zwischen Banalität und Glamour, Beliebigkeit und Kalkül ständig überschritten, ausgereizt und aufgehoben wurden. In einem ähnlichen Konstrukt leben wir auch heute, mehr als 40 Jahre später.
Er selbst wertete seine Chronisten-Tätigkeit gerne ab: »Die Polaroids sind eine Art visuelles Tagebuch, das keine besondere Bedeutung hat.«
Nach der ernüchternden Erkenntnis, dass er leider doch nicht Zeuge seines eigenen Gedenkgottesdienstes geworden war, verlangte er übrigens an diesem Junitag 1968 im Spital nach seiner Perücke und seufzte etwas bedrückt vor dem TV-Schirm, dass die Publicity bezüglich seines Fast-Todes bedauerlicherweise von diesem anderen tragischen Großereignis überschattet worden sei, doch dann tröstete er sich selbst: »Wenigstens hat mich die gute alte Fernsehwelt wieder!«
Der Mordversuch, den Valerie Solanas, Radikalfeministin der Gruppe S. C. U. M. (»Society of Cutting Up Men«), deren einziges Mitglied sie war, auf Warhol in seinem »Factory«-Labor am New Yorker Union Square aus einem 32er-Kaliber ausführte, ließ damals die Preise von Warhols Siebdrucken von 200 auf 15.000 Dollar in die Höhe schnellen. Zwei Bilder, eine »Marilyn« und ein »Elvis«, wurden sogar mit den Einschusslöchern Solanas verkauft.
»Gute Geschäfte sind die beste Kunst« - diesen Satz hatte der Nachfahre tschechoslowakischer Einwanderer schon als sein Credo etabliert, als er in den späten 1950er-Jahren »aus Ermangelung anderer Ideen« Dollarscheine und Suppendosen anfangs abmalte und sie dann im Siebdruck-Verfahren vervielfältigte. Heute erzielen die Arbeiten des ehemaligen Gebrauchsgrafikers und Werbeillustrators auf Kunstauktionen Preise in zweistelliger Millionenhöhe.
Von Warhols Konzept des Künstlers als kapitalistischem Unternehmer in eigener Sache sollten einige bahnbrechende Künstler zehren: der 1990 verstorbene Keith Haring, ein Zögling aus der »Factory«-Schmiede, Jeff Koons, der sich durch seine Hochzeit mit dem Pornostarlet Ilona Staller in den Olymp der Selbstvermarktung katapultierte, Damien Hirst mit seinem langsam vor sich hin rottenden Tigerhai-Präparat oder Tracey Emin, deren von Liebeskummertränen, blutigen Unterhosen und gebrauchten Tampons getränktes Bett »My Bed« als Dauerleihgabe in der Londoner Tate Gallery steht.
Die subversive Attacke auf den Kunstmarkt, dem der britische Streetart-Künstler Banksy (seine Identität ruht bis heute im Verborgenen) seit 20 Jahren mit intelligenter Wendigkeit dessen Beliebigkeit vor Augen führt, gipfelte im Oktober 2018 in einem Selbstzerstörungs-Aktionismus: Im Rahmen einer Sotheby's-Auktion in London wurde die untere Hälfte des Bildes »Girl With Balloon« kurz nach dem Verkauf um 1,18 Millionen Euro durch einen im Rahmen versteckten Schredder zerstört. Durch eine Fehlkonstruktion des eingebauten Schredders wurde nur die Hälfte des Bildes in Streifen geschnitten, wie Banksy später via Videobotschaft publik machte. Die Käuferin, eine Frau von Geld und Sinn für Subversivität, übernahm das Werk trotzdem zum gebotenen Preis, es bekam nur einen neuen Titel: »Love is in the Bin« - Liebe ist im Abfall.
Auf Banksys Instagram-Account (mit dem biografischen Vermerk »Not on Facebook, not on Twitter«) kann man sich an dem Video, das die schreckensgeweiteten Blicke der versammelten Kunst- und Geldcrowd im vornehmen Sotheby's-Auktionssaal einfängt, ergötzen.
Es lief damals alles exakt nach dem Glaubensprinzip von Banksys ideologischem Großvater Warhol, dass gute Geschäfte die beste Kunst sind - und Grenzen da sind, um niedergerissen zu werden.
Im Mai 2019 setzte Banksy noch einen drauf, indem er sich während der Biennale auf dem Markusplatz unter die Touristen-Maler mengte und dort einen Stand aufschlug. Nicht sehr lange, denn bald vertrieben ihn zwei Carabinieris, weil er keine Genehmigung vorweisen konnte.
»Drella«, wie Warhol innerhalb der »Factory«-Truppe genannt wurde, weil er mit seinem bleichen und wächsernen Teint wie eine Mischung aus Cinderella und Dracula aussah, war ein Sonnenkönig der Avantgarde, aber ein...
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