Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Die Vorfahren der Libellen, die über das Wasser jagten, stammten aus Nordindien und hatten sich von einem milden frühmorgendlichen Wind, dem Matlai - ein Vorbote des Monsuns - über den riesigen Ozean im Süden tragen lassen. Heute, vier Generationen später, an einem Tag des Jahres 1992, ließen sich diese unbeständigen Wesen unter einem mit dunkelvioletten Wolken verhangenen Himmel an der mangrovengesäumten Südwestküste der Insel nieder, auf der ein kleines Mädchen lebte. Der Matlai hatte sich mit dem schimmernden Vollmond verschworen, um die Insel und ihre Bewohner - Fischer, Propheten, Händler, Seemänner, Heiler, Schiffsbauer, Träumer, Schneider, Verrückte, Lehrer, Mütter und Väter - mit einer Unrast zu plagen, die sich in der des aufgewühlten türkisblauen Meeres widerspiegelte.
Die Abenddämmerung pirschte sich an die größte und trübsinnigste Insel des Lamu-Archipels heran, wanderte über Siyu an der Nordküste über die Fangflotten von Kizingitini nach Südwesten und erreichte schließlich Pate Town, das in unerfüllter Sehnsucht dahinsiechte. Von endlosen Hinterhalten, Belagerungen, Kriegen und Verlockungen zermürbt, zeigte die Stadt - ebenso wie die Insel, auf der sie sich befand - alle Anzeichen von Melancholie. Stumpfrotes Licht ergoss sich durch die dunkle Wolkendecke auf ihre launischen Geister, ihre schwelenden Fehden, ihre verlorenen Ehren, ihre unsichtbaren Pfade und ihre sich im Laufe der Jahrtausende verfestigten Verschwörungen. Blasse Lichtstrahlen fielen in uralte Felsspalten, auf Gräber und Ruinen, die den Bewohnern der Insel, die schicksalsergeben Tür an Tür mit Tragödien lebten, die Hoffnung gaben, man könne darauf bauen, dass die Zeit selbst die größten Katastrophen in ferne Echos zu verwandeln vermochte.
Im Landesinneren von Pate krähte ein Hahn, und aus dem Herzen des Landes erklang, lauter und lauter, der Adhan, der Gebetsruf des Muezzins. Meereswinde zupften am limettengrünen Kopftuch eines kleinen Mädchens und befreiten dichte schwarze Locken, die ihr in die Augen fielen. In ihrem Mangrovenversteck beobachtete die magere Siebenjährige, die ein übergroßes Kleid mit Blumenmuster trug, wie sich eine Gewitterfront landeinwärts schob. Das Wolkengebilde erinnerte sie an ein Ungeheuer, das mit Riesenschritten über den Himmel wanderte und rosafarbene Lichtspuren hinterließ. Meerwasser brandete um ihre Knie, ihre nackten Füße sanken im schwarzen Sand ein, und sie drückte ein ebenso mageres Wesen, ein schnurrendes schmutzig weißes Kätzchen an sich. Vermutlich würde der Gewittersturm - ihr Ungeheuer - noch vor der mit Passagieren überladenen Dau, die gerade langsam auf den ramponierten Anlegesteg zu ihrer Rechten zusteuerte, das Festland erreichen. Sie hielt den Atem an. Die Wajio - die Heimkehrer -, wie sie die Passagiere nannte, würden, wie sie aus Erfahrung wusste, schon beim geringsten bisschen Regen durchgeschüttelt werden wie Marionetten. Sie kicherte schadenfroh, während die Dau, auf der in abblätternder gelber Farbe der Name Bi Kidude geschrieben stand, langsam in die kleine Bucht manövrierte.
Einzelne sanfte Regentropfen fielen.
Ein markerschütternder Donnerschlag sorgte dafür, dass die Heimkehrer erschrocken den Blick gen Himmel richteten und kreischten wie Nashornvögel. Vor Vergnügen zwickte das Mädchen das Kätzchen unwillkürlich ins Fell, das empört maunzte. »Pst«, flüsterte das Mädchen und spähte zwischen den Mangrovenblättern hindurch, um die im Nieselregen nur verschwommen erkennbaren Gesichter der Heimkehrer besser sehen zu können. Es nahm Worte, Bilder, Geräusche, Stimmungen, Farben, Gespräche und Formen in sich auf, verstaute sie in den Schubladen seiner Erinnerung, damit es sie später wieder hervorholen und darüber nachdenken konnte.
Tag für Tag schlich das Kind zu den Pforten des Meeres, seines Meeres. Wartete auf jemanden.
Das Kind setzte sich das Kätzchen, dessen große blaue Augen wie gebannt den Tanz von acht schwebenden goldenen Libellen verfolgten, auf die Schulter. Wieder donnerte es. Die Dau befand sich jetzt parallel zu dem Mädchen, und es sah, wie ein Mann in einem cremefarbenen Anzug sich über den Schiffsrand beugte, um sich zu übergeben. Sie wollte ihn gerade auslachen, als eine hohe, gehetzt klingende Stimme rief:
»Ayaaaana!«
Ein Blitz, der den Himmel zerriss, lenkte sie von dem Mann ab.
Es war ihre Mutter.
Das kleine Mädchen erstarrte. Dann duckte es sich so tief, dass es fast im Wasser kniete, streichelte das Kätzchen und flüsterte: »Haidhuru« - Hör nicht hin. »Sie kann uns nicht sehen.«
Ayaana hatte am Vormittag einen Asthmaanfall gehabt und sollte sich eigentlich ausruhen. Bi Munira, ihre Mutter, hatte ihr die Brust mit Nelkenöl eingerieben und ihr Kalonji, Schwarzkümmelsamen, eingeflößt, die als Allheilmittel galten. Dann hatten sie zusammen nackt unter einem Laken gesessen und Dampf aus einem Topf mit Kräutersud eingeatmet, der unter anderem Eukalyptus und Minze enthielt und die Lungen frei machen sollte. Danach musste Ayaana die Luft anhalten, um sechs Löffel voll Dorschlebertran zu schlucken, gurgelte mit einem bitteren Gebräu und ließ sich vom »Do-do-do« ihrer Mutter einlullen. Als sie wieder erwachte, hörte sie das Klirren der Glas-, Messing- und Keramikgefäße und den melodischen Singsang der Frauenstimmen in dem rudimentären Schönheitssalon, den ihre Mutter zu Hause führte, und roch den Duft von Gewürznelken, Ylang-Ylang und Mondblumen.
Ayaana hatte sich wirklich bemüht. Hatte gedöst, bis ein pfeifender Seewind in ihre Träume drang und diese zerstreute. Als sie den noch weit entfernten Donner hörte, zwang sie sich, im Bett zu bleiben, bis sie der Versuchung nicht mehr widerstehen konnte. Sie verließ das Bett und arrangierte die Kissen so, als würde jemand unter den Laken liegen. Dann zwängte sie sich durch ein schmales, hoch gelegenes Fenster und kletterte an einer Regenrinne die zerbröckelnde Mauer aus Korallenkalk hinunter. Vor der Tür entdeckte sie das Kätzchen, das sie vor ein paar Tagen aus einem schlammigen Abflussrohr gerettet hatte, und setzte es auf ihre rechte Schulter. Dann rannte sie Richtung Norden zu einer von Mangroven gesäumten Bucht, aus der sie die Welt ungesehen bespitzeln konnte.
Der Wind, der ihr ins Gesicht blies, war angenehm kühl. Das Kätzchen schnurrte. Sie richtete den Blick wieder auf die Dau. Der fremde ältere Mann im cremefarbenen Anzug hob den Kopf, und ihre Blicke begegneten sich. Sie duckte sich tiefer und zog sich mit klopfendem Herzen in den Schatten zwischen den Mangroven zurück.
»Ayaaaana!« Die Stimme ihrer Mutter kam immer näher. »Wo steckt das Kind bloß wieder? Ayaaaana?«
Erneut ließ Ayaana ihren Blick vom Schiff zu dem sich zunehmend dunkler färbenden Himmel wandern. Jetzt würde sie nie erfahren, wer das Festland zuerst erreichte - das Gewitter oder das Schiff. Ihr fiel der Mann ein, der sie angesehen hatte. Würde er sie verraten? Sie suchte die Umgebung nach ihm ab. Das Kätzchen auf ihrer Schulter rieb den Kopf an ihren Hals.
»Ayaaaana! Haki ya Mungu . aiee!« Die Stimme drang jetzt links von ihr aus den Büschen und klang bedrohlich nah. »Aii, mwanangu, mbona wanitesa?« Ayaana verließ ihr Versteck, watete durch das flache Wasser, um den Sandstrand zu erreichen, balancierte von Stein zu Stein, während sich das Kätzchen an ihren Hals klammerte, und rannte davon.
Der Fremde, der aus Nanjing stammte, sah, wie sich vor dem Hintergrund des schwarzen Himmels eine kleine Gestalt erhob, kurz verharrte und dann schlagartig wieder verschwand; er gluckste. Seine Mitreisenden, die ihn wegen seiner ständigen Übelkeit bemitleideten, warfen ihm unbehagliche Blicke zu. Es kam vor, dass selbst geistig gesunde Menschen von Seekrankheit in den Wahnsinn getrieben wurden. Der Mann spähte angestrengt zum Festland hinüber, und seine Augen waren das einzig Bewegliche in seinem reglosen Gesicht. Eine Linsentrübung in seinem rechten Auge ließ es aus der Entfernung wie einen hellen Fleck erscheinen; der kahle Kopf saß auf einem sehnigen Hals. Als er eine Frauenstimme »Ayaaaana!« rufen hörte, drehte er den Kopf. Erneut wurde ihm übel. Er sehnte sich danach, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, und versuchte abzuschätzen, wie weit der Anlegesteg noch entfernt war.
Eine Viertelstunde später ging der Besucher in dem schlecht sitzenden Anzug, der um seinen Körper schlotterte, von Bord und watete durch das flache Wasser zu dem schwarzen Sandstrand. Trotz Unterstützung durch fremde Hände strauchelte er. Er fiel hin, griff in den Sand, holte tief Luft. Glaubte, das Raunen einsamer Geister zu vernehmen, das Wispern derer, die fern der Heimat gestorben waren und an die sich zu lange niemand erinnert hatte, nach denen niemand suchte. Eine braune Hand tauchte in seinem Blickfeld auf, und er ergriff sie. Einer der Seemänner half ihm auf, ehe er ihm seine graue Tasche reichte. Der Mann stimmte ein Lied an, dann lachte er wie über einen geheimen Scherz.
Blinzelnd stand der Reisende in der von Wohlgerüchen gesättigten Abendluft. Er roch bittere Orange, süßen Balsam, den Odem der See und atmete tief ein. Dann senkte er den Kopf und lauschte dem Stimmengewirr der Neuankömmlinge und der Melodie der Brandung. Betrachtete den Gewittersturm, der sich am Horizont zusammenbraute. Was für ein Ort ist das? Abrupt...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.