Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Donnerstag, 15. September 1966
Jarre Behrend seufzte tief, als er auf die kleine Gruppe sah, die sich vor ihm im Hof des Schlosses Marienburg, dem malerischen Sitz der Welfen, versammelt hatte. Für einen Moment wünschte er sich sogar, Prinzessin Victoria Luise, die das Schloss bis zum letzten Jahr bewohnt hatte, sei nie in das Kloster Riddagshausen gezogen, weil ihm so dieser Besuch erspart geblieben wäre. Als die Prinzessin hier gelebt hatte, wäre es niemandem eingefallen, das Schloss zu besichtigen.
Dabei waren die acht interessiert dreinblickenden Herrschaften, die ihm gegenüberstanden, nicht unfreundlich, eher im Gegenteil. Vielleicht lag es daran, dass sie alle den Zenit ihres Lebens überschritten hatten, um es einmal freundlich zu beschreiben. Als er vor zwei Jahren sein Reiseunternehmen gegründet hatte, waren ihm jedenfalls nicht diese Klienten in den Sinn gekommen, das wusste er. Er hatte an Menschen gedacht, die die Kulturschätze Deutschlands zusammen mit einer Prise Abenteuer genießen wollten. Vier goldbehängte Amerikanerinnen mit viel zu großen Brillen und deren Männer gehörten nicht in diese Zielgruppe, das war klar. Er fragte sich dennoch, ob das der einzige Grund war, warum diese ausgesprochen arglosen Touristen ihn so irritierten. Vielleicht lag es daran, dass er einfach nicht mit der naiven, selbstvergessenen Sturheit der Amerikaner zurechtkam.
Da war zum Beispiel Tammy Merriweather. Tammy war 72 Jahre alt und mit ihrem Mann Willard unterwegs. Die beiden waren eigentlich ein liebenswertes altes Ehepaar, aber Tammy war nun einmal nicht von der Idee abzubringen, dass Jarre kein Englisch sprach, da er ja schließlich Deutscher war. Dass Jarre den ganzen Tag mit ihr akzentfreies, geläufiges Englisch redete und drei Jahre in London gelebt hatte, schien ihre Meinung in keiner Weise zu beeinflussen. Jedes Mal, wenn sie sich an ihn wandte, benutzte sie die einfachsten Sätze und sprach besonders laut und deutlich mit möglichst vielen Pausen, damit er sie ja verstand. »Verstehen?«, war immer die Frage, mit der sie abschloss, wobei das mehr wie ›Varstäään?‹ klang. Natürlich verstand Jarre sie, jedoch hatte er ihr das bis jetzt nicht klarmachen können.
Oder Bruce Cartwright. Der pensionierte Buchhalter war ein weit gereister, weltgewandter Mann, der die Sehenswürdigkeiten, die Jarre der Gruppe präsentierte, von allen am ehesten zu schätzen wusste. Trotzdem hatte er Jarre heute Mittag in fassungsloses Staunen versetzt, als er darum gebeten hatte, doch einmal echt amerikanisches Essen auf den Speiseplan zu setzen. Pflichtschuldigst hatte Jarre ein gutes Restaurant vorgeschlagen, das in der Nähe von Nordstemmen lag und leckere Steaks servierte. Aber nein, Bruce wollte kein Steak, sondern echt amerikanisches Fast Food, Pizza eben.
»Pizza?«, hatte Jarre verblüfft gefragt.
»Ja, Pizza. Das beliebteste amerikanische Fast Food, wenn man einmal von diesen blöden Burgern absieht«, hatte Bruce erklärt und hinzugefügt, dass kürzlich auch in seiner Nachbarschaft eine Filiale von Pizza Hut aufgemacht habe. Man sehe sie überall in den USA, und er würde sich freuen, hier eine original amerikanische Pizza zu essen.
Jarre sah ihn verständnislos an. Er fuhr gerne nach Italien und hatte des Öfteren eine Pizza gegessen, als einen Gang von vielen, allerdings war ihm nie bewusst gewesen, dass Amerikaner Pizza dorthin exportiert hatten. Vielleicht hatte sie ja Kolumbus von einer seiner Reisen nach Italien mitgebracht? Und warum die Amerikaner ihren Pizzavarianten so seltsame Namen wie Capricciosa oder Quattro Stagioni gegeben hatten, blieb ihm ein Rätsel. Für einen Moment fragte Jarre sich, ob er mit Bruce darüber diskutieren sollte, aber er machte es natürlich nicht. Er wusste, wann eine Schlacht verloren war. Seufzend hatte Jarre daher ein Telefonbuch gewälzt und ein italienisches Restaurant gefunden, und alle waren zufrieden gewesen.
Zu seiner Verteidigung konnte Jarre nur vorbringen, dass das mit den Amerikanern nicht seine Idee gewesen war. Dafür war Onkel Josh verantwortlich. Obwohl es genau genommen Annas Onkel Josh war, hatte Jarre sich gegen seine Bitte nicht wehren können. Seit der haarsträubenden Geschichte, bei der Anna Winter und er vor einem Monat verloren gegangene Teile des Welfenschatzes wiedergefunden hatten, war Josh Bingham, Mitarbeiter der CIA, zu einem kleinen Problem geworden. Er hatte ihnen wertvolle Tipps gegeben, die ihnen geholfen hatten, zwei brutale Morde aufzuklären, die über 20 Jahre auseinanderlagen. Aber das hatte seinen Preis.
Kaum zwei Wochen nachdem der Fall abgeschlossen war, hatte er bereits die Gegenleistung eingefordert. Höflich, aber unmissverständlich hatte er die Bitte geäußert, dass Jarre für ein paar Verwandte seiner Frau eine Reise zu den schönsten Orten Niedersachsens veranstalten solle. Obgleich Jarre auf solche Reisen nicht wirklich vorbereitet war, hatte er eingewilligt.
Während die vier Pärchen ihn alle aufmerksam und erwartungsvoll ansahen, erklärte er in einfachen Worten die Bedeutung von Schloss Marienburg. Er berichtete davon, dass bis vor Kurzem eine Tochter von Kaiser Wilhelm II. hier gewohnt habe, was Applaus hervorrief. Prinzessinnen waren den Amerikanern immer willkommen, trotzdem erwähnte Jarre vorsichtshalber nicht, dass die Prinzessin bereits 74 Jahre alt war. Dann erzählte er, dass das über einhundert Jahre alte Schloss höchstens ein Drittel der Zeit bewohnt worden war. Keine Miene rührte sich bei dieser recht erschreckenden Bilanz, stattdessen klickten ein paar Kameras. Jarre seufzte innerlich. Wenn er jetzt noch die Frage hörte, was die Marienburg eigentlich mit den amerikanischen Marines zu tun habe, würde er endgültig aufgeben, das wusste er.
Er konnte nicht ahnen, dass es schlimmer kommen würde. Diesmal war es Marybeth Bingham, die die entsprechende Bemerkung machte. Sie war halb taub und die Älteste der Gruppe. Sie kleidete sich mit Vorliebe in weite, fließende Blusen und farblich nicht dazu passende Röcke, und heute hatte sie keine Ausnahme gemacht. Zu einer pinkfarbenen Bluse trug sie einen hellgrünen Rock, mehrere Bernsteinketten, eine riesige Sonnenbrille und zusätzlich einen übergroßen, dunkelgrünen Strohhut, den sie auf ihre unzerstörbaren hellblauen Locken gesteckt hatte. Sie deutete mit einem strahlenden Lächeln auf den Burghof mit den vielen gotischen Fenster und Türme, die den Hof umgaben, bevor sie sich an Jarre wandte. »Das ist wirklich herrlich«, teilte sie ihm auf Englisch mit. »Fast so schön wie Disneyland!«
Jarre starrte sie eine Weile an. Es gab Vergleiche, die sich von selbst verboten, zumindest für einen Kunsthistoriker, der einen gewissen Rest Selbstachtung behalten hatte. Das hier war einer davon. »Ich muss doch sagen …«, fing er an, unterbrach sich allerdings.
Es wäre nicht professionell, das zu sagen, was er sagen wollte. Also traf er eine Entscheidung, die seiner und Marybeth’ Gesundheit nur förderlich sein konnte. Er beschloss, es sein zu lassen. Er würde gehen, und das war es. Es gab Wichtigeres, so wie den Anruf von Werner Heidenreich, der ihn heute Morgen aus dem Bett geholt hatte. Werner hatte ihn um Hilfe gebeten, und es war nicht richtig, ihn weiter hinzuhalten, immerhin war Werner sein ältester und bester Freund. So jedenfalls rechtfertigte Jarre sich selbst und war dabei recht überzeugend. Er lächelte Marybeth knapp an, drehte sich um und verschwand.
Mit langen Schritten ging er quer über den Hof zu dem Café am Eingang. Dort saß Ingo Westphal, der in den letzten Tagen erstaunlich klaglos die acht Amerikaner in seinem Kleinbus chauffiert hatte. Immer wenn Jarre größere Gruppen zu betreuen hatte, engagierte er Ingo als Fahrer, da er durch fast nichts zu erschüttern war. Ingo war mit seinen 50 Jahren und den markanten 150 Kilo einer der gutmütigsten Menschen, die Jarre kannte, und trotzdem würde das, was er tun musste, schwierig werden.
Er überlegte kurz, was zu tun sei, und ging an die Theke, um für einen Moment mit der Wirtin zu sprechen. Danach setzte er sich mit ernstem Gesicht an Ingos Tisch und sah ihn durchdringend an.
»Hattest du schon einen Kaffee? Einen richtig starken, meine ich«, fragte er ohne weitere Einleitung.
Ingo hob den Kopf und wirkte etwas irritiert. »Ja, warum?« Dann erst nahm er Jarres Gesicht wahr. »Oh Gott, nein! Ist etwas mit dem Bus?«
»Nein, keine Sorge, der Bus ist in Ordnung. Und dir selbst … Dir geht es doch gut, oder?«
»Ja, verdammt«, erboste Ingo sich. »Also, Jarre, rede nicht um den heißen Brei herum. Sag mir, was los ist. Ist einer von den alten Herrschaften gerade gestorben?«
»Nein, nein. Noch nicht. Ich wollte auf jeden Fall sichergehen, dass es dir gut geht. Weißt du, sie gehören jetzt nämlich dir.«
»Was? Wer gehört mir?«
Jarre machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung Hof. »Die dort draußen.«
»Die Amerikaner?«
Jarre fragte sich, ob das Unglaube oder Panik war, was er gerade aus Ingos Stimme raushörte. Doch das war inzwischen egal. »Es geht nicht anders. Ich muss weg«, erklärte er knapp mit einer Miene, die keinen Widerspruch duldete.
»Du machst Scherze! Ich kann die Gruppe doch nicht einfach übernehmen. Ich kann gar kein Englisch!«, protestierte Ingo mit wenig Überzeugung.
Jarre lächelte dünn. »Das erwarten sie auch gar nicht. Ich kann wirklich nicht bleiben. Also, sei ein Schatz, bring die Truppe nach Hannover zum Essen und danach wieder ins Hotel. Mehr steht für heute sowieso nicht auf dem Programm. Das schaffst du ganz locker.«
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.
Dateiformat: PDFKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Das Dateiformat PDF zeigt auf jeder Hardware eine Buchseite stets identisch an. Daher ist eine PDF auch für ein komplexes Layout geeignet, wie es bei Lehr- und Fachbüchern verwendet wird (Bilder, Tabellen, Spalten, Fußnoten). Bei kleinen Displays von E-Readern oder Smartphones sind PDF leider eher nervig, weil zu viel Scrollen notwendig ist. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.