Schweitzer Fachinformationen
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Es war ein kühler Frühlingstag. Ein Rest Feuchtigkeit vom letzten Regenschauer lag noch in der Luft, doch vor einer halben Stunde war die Wolkendecke aufgerissen. Bis auf ein paar in der Ferne dahinziehende Schäfchenwolken war das Firmament strahlend blau, und die Sonne bemühte sich, die Winterkälte aus Gedanken und Knochen zu vertreiben.
Rainer Weber war froh über den Mantelstoff, der sich zwischen ihm und der feuchten Bank befand. Er rechnete damit, eine Weile auf Lena warten zu müssen, und wollte nicht, dass ihm die Kälte zu sehr unter die Haut kroch.
Seine Mutter hatte ihn aus dem Haus gescheucht, weil sie einen großen Hausputz veranstalten wollte. Sein halbherzig vorgebrachtes Angebot, dabei zu helfen, war mit Gelächter beantwortet worden. Er hatte nicht darauf bestanden, auch wenn er in der Zeit beim Militär vermutlich gründlicher zu putzen gelernt hatte als seine Mutter. Nicht nur, weil der Spieß eine ganz eigenwillige Art hatte, unordentliche Rekruten zu demütigen, bis sie fast in Tränen ausbrachen.
Den eigentlichen Grund für Rainers Putzfimmel kannte er selbst nicht. Seit er von der Front zurück war und als Helfer in der Apotheke arbeitete, war er besessen von dem Drang, sich die Hände zu waschen. Morgens stand er extra früh auf, um sich in der kleinen Küche mit eiskaltem Wasser von Kopf bis Fuß zu waschen, ohne dass es jemand mitbekam. Wenn er abends nach Hause kam, setzte er sich oft mit der Zeitung in den Sessel und wartete auf das Abendbrot, aber hin und wieder wurde der Drang zu stark, und er stand auf und fiel mit Staubtuch oder Lysolwasser über an und für sich blitzsaubere Oberflächen und Schubladeninhalte her.
Auf jeden Fall wollte sich seine Mutter beim Putzen nicht auf die Finger schauen lassen und hatte ihn deswegen hinausgeworfen, obwohl Lena ebenfalls noch mindestens eine halbe Stunde damit beschäftigt wäre, die Wäsche bei Familie Gerdes zu waschen. Bis zum gemeinsamen Spaziergang würde noch etwas Zeit vergehen.
Rainer lächelte versonnen.
Es gab schlimmere Dinge, die man an einem kühlen Maisamstag tun konnte, als auf einer Bank vor der Kirche in Niebüll zu sitzen und den vorbeigehenden Menschen zuzusehen. Viele grüßten ihn und wurden zurückgegrüßt.
Die meisten Vorbeigehenden kannte er, aber nicht alle. Noch vor einem Jahr hätte er bei jedem Gesicht gewusst, wo er es einordnen musste, aber inzwischen waren zu viele Fremde in der Stadt. Rainer war niemand, der Vorurteile hatte, und er wusste nicht zuletzt durch die Bekanntschaft mit Lena, dass nicht alle Flüchtlinge so schlecht waren wie ihr Ruf, doch genau wie die meisten Einheimischen störte es ihn, dass inzwischen mehr und mehr Menschen hier lebten, deren Sprechweise man aufgrund der seltsamen Dialekte kaum noch verstand.
»Moin Joachim«, grüßte er den Mann seiner Schwester, als der näher kam.
»Moin Rainer. Sind die Krücken noch ganz?« Der Schwager lachte etwas zu laut über den eigenen Witz.
Rainer lächelte schief und schwieg. Er hatte Joachim noch nie besonders gemocht, aber seit einem halben Jahr verabscheute er ihn mehr, als er sagen konnte. Im vergangenen Herbst hatte er von Lena erfahren, was Joachim im Krieg getan hatte. Seitdem war die milde Antipathie in Hass umgeschlagen, den er sorgfältig unterdrückte und für sich behielt. Immerhin musste er seinem Schwager jeden Sonntagmittag am Tisch gegenübersitzen und um des Familienfriedens willen höflich zu ihm sein.
»Es soll bald Wahlen geben«, erklärte Joachim und grinste breit. Rainer fragte sich jedes Mal aufs Neue, wie jemand mit Joachims Vergangenheit so selbstgerecht lächeln konnte. »Hab gehört, die Tommys wollen, dass wir unseren Bürgermeister selbst bestimmen.«
Rainer nickte und wurde gegen seinen Willen neugierig. Das Gerücht hatte er auch schon gehört. Eigentlich fand er die Vorstellung gut. Sein Chef und Mentor Herr Tauber liebte es, lange Vorträge über die Würde des Menschen, die Bedeutung der geistigen Emanzipation des Individuums von den Zöpfen der Vergangenheit und die Befreiung des Goetheschen Humanismus vom Opium des Volkes zu halten. Dabei mischte er fröhlich Thesen. Herr Tauber hatte erklärt, Demokratie sei die einzig wahre Regierungsform, vorausgesetzt, die Menschen würden endlich zu intelligenten und verantwortungsvollen Bürgern heranwachsen.
»Also nie«, hatte Herr Tauber gesagt und meckernd gelacht. »Dummheit stirbt niemals aus, Junge, lass es dir gesagt sein.«
Die Vorstellung, tatsächlich bald zur Wahl zu gehen, löste in Rainer ein Unbehagen aus, für das er keine Worte fand. Er konnte sich noch daran erinnern, dass sein Vater zur Wahl gegangen und sich über den alten Hindenburg aufgeregt hatte, doch die Erinnerung war diffus. In der Zeit, in der er erwachsen geworden war, hatten andere über die Regierung bestimmt, erst Hitler und dann die Engländer. Man konnte sich über >die da oben< ärgern, aber der Ärger fühlte sich vertraut an. Wenn etwas schiefging, war es nicht seine Schuld. Die Vorstellung, auf einmal mehr Mitspracherecht zu haben, lockte und beunruhigte gleichermaßen. Er verstand zu wenig von Politik und traute sich keine qualifizierte Entscheidung zu.
»Weiß man schon, wer zur Wahl steht?«, fragte er. Normalerweise versuchte er, Gespräche mit Joachim so schnell wie möglich zu beenden, doch dieses Mal war die Neugierde stärker.
»Bisher ist alles offen.« Joachim lächelte auf eine unangenehme Art und Weise. »Wenn du willst, stell dich zur Wahl. Wir leben in seltsamen Zeiten. Vielleicht schafft es sogar ein Krüppel wie du ganz nach oben.«
Rainer biss die Zähne aufeinander. Er hätte nicht fragen sollen. »Ich wünsch dir noch einen schönen Tag, Joachim. Grüß meine Schwester von mir.«
»Wenn ich sie sehe.« Joachim lachte und ging weiter.
Rainer ahnte, dass er schon jetzt auf dem Weg ins Wirtshaus war. Hildegard tat ihm leid. Sie musste es jeden Tag mit Joachim aushalten. Doch vermutlich benahm er sich seiner Frau gegenüber anders als bei Rainer.
Die schöne Frühlingsatmosphäre schien für den Moment verdorben. Rainer sah Joachim hinterher. Hildegards Mann strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das Rainer nie besessen hatte. Rainer neigte dazu, alles infrage zu stellen, besonders sich selbst. Joachim schien solche Selbstzweifel nicht zu kennen. Kaum vorstellbar, wenn man bedachte, was für furchtbare Dinge er im Krieg getan hatte.
Eine Lerche zwitscherte hoch oben am Himmel. Ihre Freude vertrieb die Dunkelheit, die sich für einen Moment ausgebreitet hatte. In jeder Familie gab es schwarze Schafe und Dinge, über die man nicht sprach, wusste Rainer. Wenn er am Apothekentresen stand, bekam er so etwas oft genug zu hören, zumindest in Andeutungen. Er musste seinen Schwager nicht mögen.
Rainer hatte die Taschenuhr zu Hause gelassen, deswegen wusste er nicht, wie spät es war. Außerdem machte Lena an Samstagen nie zu einer bestimmten Zeit Feierabend. Es war ein angenehmes Gefühl, hier zu sitzen, ohne sich um die Uhrzeit sorgen zu müssen. Lena würde kommen, wann immer sie so weit war. Er hatte keine Eile. Die Luft duftete nach Frühling und nach Feldern, auf denen wieder etwas wuchs, und ein bisschen nach verbranntem Treibstoff.
Als Rainer Lena kennengelernt hatte, hatte ihn ihr Wunsch erstaunt, selbst am Steuer eines großen Fahrzeugs zu sitzen. Autos waren für sein Empfinden ein Männerding. Etwas, für das sich Jungs interessierten, während Mädchen mit Puppen spielten und lernten, wie man Schürzen schneiderte. Mädchendinge, bei denen ein Junge lieber nicht zu viel nachfragte, um nicht ausgelacht zu werden.
An dem Tag, an dem er Lena das erste Mal am Steuer eines Autos gesehen hatte, hatte ihn der Anblick fasziniert. Sie hatte ernst und konzentriert gewirkt, als sie das Fahrzeug mit den Soldaten auf der Ladefläche durch die Straße gesteuert hatte. Lena hatte völlig anders ausgesehen als bei Treffen mit seiner Mutter, wo sie als Flüchtling aus der Fremde bescheiden den Blick senkte. Sie sah auch anders aus als bei den Treffen mit Rainer, wo in ihren Augen etwas Warmes und Leuchtendes lag, was in ihm das Gefühl weckte, ihr vertrauen zu dürfen. Diese fremdartige und starke Lena war eine völlig andere Frau, die er gern besser kennenlernen würde, auch wenn sie ihn ein wenig einschüchterte.
Ein mittelgroßer Mann ging die Straße entlang. Er wirkte wie ein neuer Flüchtling, verloren und schmutzig nach den Strapazen der Reise. Das Bündel über dem Rücken kennzeichnete ihn als Neuankömmling. Seine Kleidung war stellenweise lädiert, aber sie schien ordentlich geschneidert zu sein. In seiner Haltung lag eine distanzierte Würde, die ihn von den Menschen um sich unterschied.
Rainer merkte, wie er innerlich auf Abwehr ging. Hörte das denn niemals auf? Natürlich war es die Aufgabe aller Deutschen, für die Vertriebenen aus dem Osten zu sorgen, aber irgendwann waren es einfach zu viele! Jede Unterkunft in Niebüll war belegt. Ganze Familien hatten den Winter in notdürftig beheizten Gartenhäuschen verbracht, Kinder bettelten an den Straßen, und man munkelte, dass die Fremden stahlen. Irgendwann, so hatte er in der Apotheke mehr als einmal gehört, gäbe es mehr Fremde als Einheimische in der Stadt.
Als der Mann Rainer ansah, erstarrte er. Der andere war kein Fremder. Er brauchte einen Moment, um durch das hart und bitter gewordene Gesicht die Züge des früheren Freundes zu erkennen. Tatsächlich begriff er erst, wer vor ihm stand, als das Erkennen in den Augen des anderen aufblitzte.
»Erwin?«, fragte Rainer ungläubig. »Erwin Olsen?«
»Moin«, sagte der andere. Er schien ebenfalls kaum glauben zu können, dass...
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