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Noch 26 Tage bis zur Hochzeit
Es war Michael Korantengs erster Tag in seinem neuen Job bei CuRated, als »Die Liste« online ging. Er hasste es, dass die Leute so darüber sprachen, als wäre es ein neuer Sneaker, der gerade herausgekommen war, oder die Veröffentlichung eines Marvel-Filmtrailers.
An diesem besagten Morgen war er bereits vor seinem Wecker aufgewacht; eine Art Lampenfieber vor dem ersten Tag hatte ihn um sieben Uhr siebzehn geweckt, und obwohl er in der Nacht zuvor erst so spät ins Bett gekommen war, fühlte sich Michael fit - er hatte es nicht annähernd so übertrieben wie Ola, die er wie ein Feuerwehrmann in das Uber nach Hause hatte tragen müssen. Bei ihr zu Hause angekommen, hatte er es auch noch geschafft, ihr ein altes T-Shirt überzuziehen und sie ins Bett zu bringen, aber es hatte noch ganze zwanzig Minuten gedauert, bis sie schließlich eingeschlafen war. Sein Handyakku war leer gewesen, sodass er sich kein Taxi hatte bestellen können, und als er nach Olas Passwort fragte, hatte sie es ihm nur geben wollen, wenn er mit ihr zu ihrem Hochzeitssong »Yori Yori« von Bracket tanzte und sie »Mrs. Koranteng« nannte. Glücklicherweise war es ihm noch gelungen, ihr das Passwort zu entlocken, bevor sie weggepennt war und auf ihr Kissen gesabbert hatte.
Davor hatten sie seinen neuen Job gefeiert, indem sie in Soho von Privatclub zu Privatclub gezogen waren und sich ungläubig die Frage gestellt hatten: »Wer zum Teufel sind wir?« Michael spürte, wie er bei dem Gedanken an seine angehende Ehefrau lächeln musste. Ola war außergewöhnlich hübsch - große braune Augen, hohe Wangenknochen, mit der gesunden afrikanischen Schönheit und den Grübchen, denen Afrobeats-Musiker schon ganze Diskografien gewidmet hatten. Mit ihren ein Meter achtzig war sie groß und auf eine Weise schlank, die ihr ihren Erzählungen zufolge als Teenager in Streatham keinen Gefallen getan hatte, denn mit ihrer flachen Brust und den schmalen Hüften hatte sie auf der Begehrlichkeitsskala ganz unten gestanden. Aber später an der Uni wurde das, was einst als »Schlaksigkeit« galt, als »Langbeinigkeit« interpretiert und führte - neben ihrer hohen Stirn - dazu, dass sie gelegentlich für ein Model gehalten wurde. Ihre charakteristischen hüftlangen Zöpfe, die regelmäßig die Farbe wechselten, und ein silberner Ring in ihrer Stupsnase machten sie noch umwerfender.
Aber sie war nicht nur eine Schönheit, o nein. Ola war klug und ehrgeizig und unterstützte ihn, wo immer sie konnte. Außerdem war sie sehr prinzipientreu und fürsorglich. Von den Milliarden von potenziellen Seelenverwandten auf diesem Planeten wusste er, dass seine nur Ola Olajide sein konnte, und in siebenundzwanzig Tagen würden sie dies vor all den Menschen geloben, die sie fast so sehr liebten wie einander. Fast. Sie hatten schon viel zusammen durchgemacht, er und Ola, aber heute, so hoffte Michael, würde der erste Tag sein, an dem er anfangen konnte, sich selbst und allen anderen zu beweisen, dass er sie verdiente.
Als er seinen Kleiderschrank öffnete, griff Michael nach einem der wenigen Hemden, die er besaß, und nach einer schicken schwarzen Hose anstelle seiner üblichen, selbst gewählten Uniform, bestehend aus dunklem Pullover, passender Jogginghose und Turnschuhen. Er wusste, dass er für das bekanntermaßen lockere Start-up ein wenig overdressed sein würde, aber er konnte die spöttische Stimme seiner Mutter nicht abschütteln, die sich sonst sarkastisch erkundigen würde, warum er an seinem ersten Arbeitstag den Eindruck von Arbeitslosigkeit erwecken wolle. Als er gerade zum Frühstücken nach unten in die Küche gehen wollte, beschloss er, vorher noch sein Handy zu checken. Es hatte über Nacht am Ladekabel gehangen, aber in dem Moment, als der Bildschirm aufleuchtete, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Einundzwanzig verpasste Anrufe. Neunundfünfzig WhatsApp-Nachrichten. Sein Magen verkrampfte sich. Wer war gestorben? Michael dachte sofort an seine Großmutter, die er viel zu selten anrief. Als sie das letzte Mal vor über anderthalb Wochen miteinander gesprochen hatten, erholte sie sich gerade von einer kleinen Operation. Seit diesem Eingriff hatte er ihr jeden zweiten Tag eine Nachricht geschickt, und es hatte immer den Anschein gehabt, dass alles in Ordnung wäre. Aber sie war einundachtzig Jahre alt, und in ghanaischen Krankenhäusern starben Patienten oft unerwartet schon nach weniger invasiven Operationen.
Keine einzige Nachricht von seiner Mutter, aber mehrere von diversen Namen, zwischen denen er nur schwer eine Verbindung herstellen konnte. Die erste war von einem Mann namens Ryan, an dessen Gesicht er sich ohne einen Blick auf das Kontaktbild nicht hätte erinnern können und von dem er nur noch vage wusste, dass er ihn einige Monate zuvor bei einem Podcast-Workshop getroffen hatte. Ihre letzte Korrespondenz, ein freundlicher Austausch über das Datum der nächsten Veranstaltung, hätte sich nicht stärker von seiner jüngsten Nachricht unterscheiden können:
Stimmt der Scheiß????
Stimmte welcher »Scheiß«? Michael war sich nicht sicher, ob ihm Ryans vertraulicher Umgangston gefiel. Dann öffnete er eine zweite Nachricht, diesmal von Olas bester Freundin Celie, die einfach sechs Fragezeichen gefolgt von einem Link geschickt hatte. Michael tippte darauf, und seine Twitter-App öffnete sich und zeigte einen Account mit einem ausgegrauten Avatar an: @_DIE_LISTE. Er runzelte die Stirn, als er die Bio las. »Entlarvt die berühmtesten Täter der britischen Medienlandschaft«, hieß es dort. »Nur für 24 Stunden live.« Michaels Stimmung wechselte von Beklemmung zu Ratlosigkeit. Was hatte das mit ihm zu tun? Der Account folgte niemandem, hatte 786 Follower und bisher lediglich zwei Tweets veröffentlicht. Der erste war an den Anfang des Profils gepinnt und trug die Überschrift »Unsere Antwort« mit dem Screenshot eines Textes:
Vielen Dank an alle, die sich gemeldet haben. Wir haben diesen Account eingerichtet, da die offiziellen Kanäle Überlebende von Übergriffen in der Medien- und Unterhaltungsindustrie weiterhin im Stich lassen. Diese Tatsache lässt uns keine andere Wahl, als selbst aktiv zu werden.
Um die Sicherheit und die Identität derjenigen zu schützen, die Meldung gemacht haben, werden wir nicht auf DMs zu #DieListe antworten. Dieses Konto wird nach 24 Stunden deaktiviert.
Michaels Mund war trocken. Auf seinem Telefon gingen weiterhin summend Nachrichten ein, aber das registrierte er kaum noch. Das konnte doch nicht wahr sein . Der zweite Tweet bestand aus dem Screenshot einer Tabelle mit zwei vollen Spalten. Er atmete tief durch, bevor er draufklickte, und erkannte seinen Namen sofort. Da war er, Nummer zweiundvierzig, eingekeilt zwischen einem Fernsehproduzenten, der der Vergewaltigung beschuldigt wurde, und einem Journalisten, der sich offenbar an junge Mädchen heranmachte. Sein Vorname war falsch geschrieben - »Micheal« stand da und dann »CuRated« neben den Worten »Belästigung und Bedrohung/körperlicher Übergriff bei Firmenweihnachtsfeier«. Darauf folgte in Klammern der Zusatz »einstweilige Verfügung«. In jeder anderen Situation wäre er von der Vorstellung begeistert gewesen, allein durch seinen Vornamen erkennbar zu sein, als wäre er eine echte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Einen Moment lang fragte er sich, ob er nicht vorschnell in Panik geriet, da er seinen neuen Job ja erst heute offiziell antrat. Vielleicht bestand da irgendeine Verwechslung; ein anderer Michael, in der Produktion vielleicht oder aus der Buchhaltung. Es war schließlich einer der gängigsten Namen überhaupt. Doch der Hoffnungsschimmer dauerte nur Sekunden, denn dann erinnerte er sich sofort wieder an die viel getwitterte Ankündigung seiner Einstellung letzte Woche. Er schloss die Liste und sah sich den Tweet genauer an. Vierunddreißig Retweets. Zweihundertdrei Likes. Gepostet um sechs Uhr dreißig heute Morgen. Ihm wurde schwindelig, und er begann herumzutigern.
Das kostet mich meinen Job, war sein erster Gedanke. Ich verliere den ersten Job, den ich je wirklich wollte, noch bevor ich ihn überhaupt angetreten habe. Mit zitternden Händen klickte er auf das kleine Flaggensymbol unter dem Tweet neben den Worten »Problem melden«. Daraufhin öffnete sich ein Menü mit mehreren Optionen. »Spam«, »Thematisiert Selbstmordabsichten«, »Interessiert mich nicht«. Die Option »Bezichtigt mich der Übergriffigkeit« gab es nicht. Er wählte die Option »Beleidigend und verletzend« und war auf der nächsten Seite noch frustrierter: »Auf welche Weise ist dieser Tweet beleidigend und verletzend?« Obwohl er der Meinung war, dass »Begünstigt Selbstmord oder Selbstverletzung« am ehesten zutraf, entschied er sich für »Beinhaltet gezielte Verleumdung« und drückte auf Senden.
Er sah sich die zunehmenden Reaktionen auf den Beitrag an und suchte unter den Likes nach Namen und Gesichtern, die er wiedererkannte. Es war schwer, den Überblick zu behalten, denn die Zahl der Laienrichter nahm bei jedem Scrollen zu. Jeder Doppelklick fühlte sich für ihn wie ein Schuldspruch an. Es gab jetzt zweihundertsiebzehn Likes; seinen letzten Podcast hatten live zweihundertzehn Zuhörer verfolgt. Ihm wurde ganz mulmig zumute, als er sich diese Anzahl von Menschen in einem Raum versammelt vorstellte. Und das waren nur die Accounts, die öffentlich mit dem Tweet interagiert hatten - wie viele Beiträge hatte er schon gesehen, geteilt und diskutiert, ohne sich sichtbar zu beteiligen? Er erinnerte sich an Ryans Nachricht von vorhin: plumpvertraulich und anklagend. Stimmt der Scheiß???? Michael kannte den Typen kaum, und er hatte...
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