Schweitzer Fachinformationen
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Das hier ist okay, oder? Es geht mir gut?
Ich hole tief Luft und umklammere das Lenkrad etwas fester.
»Ja, Amelia, dir geht es gut. Sogar phantastisch. Du bist genau wie Audrey Hepburn, nimmst dein Leben in die Hand, uuuund . du führst Selbstgespräche . so ganz in Ordnung bist du also doch nicht, aber in Anbetracht der Umstände semiokay«, sage ich und spähe mit zusammengekniffenen Augen auf die dunkle Straße vor meiner Windschutzscheibe. »Ja. Semiokay passt.«
Nur dass es draußen stockdunkel ist und mein Auto klingt wie ein Wäschetrockner, in dem jemand ein paar Münzen vergessen hat. Obwohl ich nicht viel von Autos verstehe, weiß ich, dass diese Geräusche nichts Gutes verheißen. Mein kleiner Toyota Corolla, der mich seit der Highschool begleitet, in dem ich saß, als ich mit achtzehn Jahren zum ersten Mal meinen eigenen Song im Radio hörte, in dem ich vor zehn Jahren zu Phantom Records fuhr, um meinen Plattenvertrag zu unterschreiben, jenes Auto, das mir seither so sehr ans Herz gewachsen ist, gibt wahrscheinlich bald den Geist auf. Das macht mich umso trauriger, da die Sitzpolster immer noch nach meinen alten Volleyball-Knieschonern riechen.
Nicht heute, Satan.
Wie wild streichele ich das Armaturenbrett, als hoffte ich, damit den dort verborgenen Dschinn herbeirufen zu können, der mir drei Wünsche gewährt. Statt der Wünsche erreicht mich jedoch nur ein Funkloch. Die Musik, die ich gerade streame, bricht ab, und der Google-Maps-Pfeil verschwindet. Dabei kann nur er mich aus diesem dunklen Wald mitten im Nirgendwo herausführen, um potenziellen, dort lauernden Serienkillern zu entgehen.
Auweia, das ist ja wie im Horrorfilm! Und ich bin wie die Frau, der die Leute im Kino ein »Du naive Kuh!« entgegenschleudern, während sie sich Popcorn in ihre gierig grinsenden Mündern stopfen. War diese ganze Aktion etwa ein Fehler? Womöglich habe ich meinen Verstand zu Hause in Nashville gelassen, genau wie mein schmiedeeisernes Tor und mein Security-System, das Fort Knox alle Ehre machen würde. Und Will, meinen phantastischen Sicherheitsmann, der getreulich vor meinem Haus Stellung bezogen hat und Fremde daran hindert, sich auf mein Grundstück zu schleichen.
Vorhin sind meine Managerin Susan und ihre Assistentin Claire meinen knallvollen Terminkalender für die nächsten drei Wochen mit mir durchgegangen. Danach steht eine neunmonatige Tournee an. Das Problem ist nur, dass ich gerade den letzten Tag der mörderischen, dreimonatigen Proben für diese Tournee hinter mir habe. Beinahe jeder einzelne Tag ist für das Erlernen der Choreographie, das Stage Blocking, das Festlegen der Setlist, ein rigoroses Trainingsprogramm und das Proben der Songs draufgegangen. Und die ganze Zeit über musste ich lächeln und so tun, als fühlte ich mich innerlich nicht wie ein verfaulender Komposthaufen.
Schweigend habe ich dagesessen, während Susan unaufhörlich geredet hat und den langen, schlanken, perfekt manikürten Finger immer wieder über den Bildschirm ihres Tablets hat gleiten lassen, um mir die Termine vorzulesen. Termine, über die ich mich eigentlich hätte freuen sollen. Derentwegen ich mich sogar geehrt fühlen sollte! Aber irgendwann mittendrin . habe ich abgeschaltet. Ihre Stimme ist zu einem Charlie-Brown-ähnlichen wah-wah-wah verblasst, bis ich nur noch das Pochen meines Herzens gehört habe. Laut und schmerzhaft. Mein ganzer Körper war taub. Am meisten hat mich jedoch schockiert, dass Susan es nicht mal zu bemerken schien.
Vielleicht bin ich auch einfach nur allzu gut darin, meine Gefühle zu verbergen. Meine Tage laufen folgendermaßen ab: Ich lächele irgendwem zu meiner Linken zu und nicke. Ja, danke. Dann lächele ich jemandem zu meiner Rechten zu und nicke wieder. Ja, natürlich kann ich das machen. Susan reicht mir ein perfekt von meinem PR-Team zusammengestelltes Script, und ich lerne es auswendig. Meine Lieblingsfarbe ist Blau, etwa jene Farbe, die mein Givenchy-Kleid haben wird, das ich bei der Verleihung der Grammys tragen werde. Aber ja, den Großteil meines Erfolgs verdanke ich meiner liebe- und hingebungsvollen Mom. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht voller Dankbarkeit für meine Karriere und meine großartigen Fans bin.
Höflich, höflich, höflich.
Erst als heiße Tränen auf meinem Oberschenkel landen, wird mir klar, dass ich weine. Eigentlich sollte ich beim Gedanken an all das nicht weinen. Ich bin eine zweifache Grammy-Gewinnerin und habe einen Neunzig-Millionen-Dollar-Vertrag mit dem Top-Musiklabel in dieser Branche in der Tasche, also sollte ich ganz gewiss nicht in Tränen ausbrechen. Es steht mir nicht zu, zu weinen. Und definitiv sollte ich nicht mitten in der Nacht in meinem alten Auto sitzen und überstürzt die Flucht ergreifen.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Menschen, die ich im Stich lasse, und das schlechte Gewissen ist kaum zu ertragen.
Nie zuvor bin ich zu einem Interview nicht erschienen. Menschen zu enttäuschen oder mich zu verhalten, als sei meine Zeit wertvoller als die ihre, ist mir ein Gräuel. Zu Beginn meiner Karriere hatte ich mir geschworen, mir niemals etwas auf meinen Erfolg einzubilden. Es ist mir wichtig, so entgegenkommend wie möglich zu sein - auch wenn es weh tut.
Aber irgendetwas an den Worten, mit denen Susan sich heute Abend von mir verabschiedet hat, hat mich fertiggemacht. »Rae« - sie spricht mich lieber mit meinem Künstlernamen an statt mit meinem richtigen, der Amelia lautet - »Du siehst total erschöpft aus. Schau, dass du heute genug Schlaf kriegst. Bei dem morgigen Vogue-Interview werden Fotos hinter den Kulissen gemacht. Wäre doch eine Schande, wenn du dann Augenringe hättest. Obwohl . andererseits liegt der Erschöpft-Look voll im Trend .« Nachdenklich hat sie zur Decke empor geschaut, und beinahe habe ich erwartet, dass Gott selbst ihr eine Antwort auf die Frage geben würde, ob ich mit geschwollenen Augen nun akzeptabel war oder nicht. »Ach, vergiss, was ich gesagt habe! Das weckt Mitgefühl bei deinen Fans und verleiht dem Ganzen mehr Pepp.«
Dann hat sie sich abgewandt und den Raum verlassen. Ihre Assistentin Claire hat noch einen Moment gezögert, mir einen widerstrebenden Blick zugeworfen und dann den Mund geöffnet, als wollte sie etwas sagen. Ich habe mich dabei ertappt, mir genau das sogar inständig zu wünschen. Sieh doch, was mit mir los ist.
»Gute Nacht«, war alles, was sie schließlich gesagt hat, dann ist sie ebenfalls gegangen.
Viel zu lange habe ich in der dröhnenden Stille gesessen und mich gefragt, wie es so weit hatte kommen können. Und wie ich aus diesem Käfig wieder ausbrechen sollte, den ich mir versehentlich selbst geschaffen hatte?
Dieses Gefühl innerer Leere hatte mich zum ersten Mal vor ein paar Jahren heimgesucht. Ich hatte damals gehofft, dass es nur daran lag, dass ich den L.A.-Lifestyle satthatte und eine Veränderung brauchte. Also hatte ich meine Siebensachen zusammengepackt und war nach Nashville, Tennessee, gezogen, wo ich der Musikszene immer noch nah bin, aber nicht mehr ganz so im Fokus der Öffentlichkeit stehe. Doch ohne Erfolg. Die Leere ist mir gefolgt.
Die meisten Menschen wenden sich bei derlei Problemen an ihre Familie, manche an Freunde und manche an die orakelhaften Magic-8-Balls. Ich hingegen wende mich an den einen Menschen, der mich niemals im Stich lässt: Audrey Hepburn.
Heute Abend habe ich mit geschlossenen Augen den Finger über meine DVD-Sammlung von Audrey Hepburn - ja, ich besitze immer noch einen DVD-Player - wandern lassen und mit Hilfe von ene, mene muh Ein Herz und eine Krone ausgewählt. Eine katastrophale Entscheidung. Audrey schlüpft darin in die Rolle von Prinzessin Ann, die sich wie ich fühlt, nämlich einsam und überfordert, weshalb sie nachts aus dem Palast flieht, um Rom zu erkunden. Oder vielmehr torkelt sie in die Nacht hinaus, weil sie ein Beruhigungsmittel intus hat, aber das spielt keine Rolle.
Und plötzlich habe ich es vor mir gesehen. Das war die Antwort, die ich gesucht hatte. Ich musste fort aus diesem Haus, von Susan, von meinen Pflichten, einfach von allem und nach Rom flüchten.
Allerdings würde ich in drei Wochen auf Tournee gehen, weshalb Italien viel zu weit weg war. Also habe ich mich mit dem nächstgelegenen Rom begnügt, das Google Maps mir vorgeschlagen hat. Rome in Kentucky. Eine zweistündige Autofahrt von meinem Haus entfernt und Google zufolge ausgestattet mit einem hübschen, kleinen Bed and Breakfast mitten in der Stadt. Der perfekte Ort, um mich zu sammeln und meine Nerven zu beruhigen.
Also bin ich in die Garage mit den drei Autos gegangen, habe die beiden teuren Fahrzeuge aus meinem Fuhrpark ignoriert und die Abdeckplane von dem liebgewonnenen alten Gefährt gezogen, das ich während der letzten zehn Jahre hier versteckt hatte. Ich habe den Motor angelassen und bin davongefahren, um mich auf die Suche nach Rome zu machen.
Und jetzt stehe ich auf dieser unheimlichen Nebenstraße und glaube, dass meine emotionale Taubheit ein wenig nachlässt, denn ich erkenne so langsam, wie lächerlich mein Verhalten ist. Irgendwo im Himmel sieht Audrey auf mich herab und schüttelt den Kopf mitsamt Heiligenschein.
Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Wo sonst die Signalbalken sind, prangen nun die Worte Kein Netz. Ich könnte schwören, dass sie mir zuzwinkern. Mich verhöhnen. Das war ja wohl eine Schnapsidee. Jetzt bist du ein gefundenes Fressen fürs nächste True-Crime-Format.
Kein Problem....
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