Schweitzer Fachinformationen
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In genau demselben kleinen Cottage am Ende der Schotterstraße saß Harry Langley auf der Kante eines abgewetzten Sessels, in dem seine Mutter den Großteil der vergangenen zehn Jahre verbracht hatte. Jeder Muskel in seinem Körper schmerzte, die vornübergebeugte Position, die er eingenommen hatte, war ungewohnt für seine hochgewachsene Statur, seine Beine viel zu lang. Zu diesem Zeitpunkt hockte er bereits zwei Stunden so da, immer noch in dem schwarzen Anzug, der eine Nummer zu klein war und in dem er sich wie ein kleiner Junge in der Schuluniform vom Vorjahr fühlte. Die Augen zu Schlitzen verengt, versuchte er, das Chaos um ihn herum auszublenden. Dann stand er auf, lockerte die Krawatte, schüttelte das Sakko ab und wünschte sich, seine Mutter wäre bei ihm, um ihm bei der vor ihm liegenden Herkulesaufgabe zu helfen. Doch sie war nicht hier und er war allein, denn heute um fünfzehn Uhr war ihre Asche beigesetzt worden.
Mit den letzten Sonnenstrahlen des Tages, die sich glitzernd in dem Spiegel über dem Kamin brachen, ließ Harry den Blick über den Rest des Durcheinanders schweifen. Nichts, was er hier sah, war neu für ihn, immerhin hatte er die letzten zehn Jahre inmitten all dieser Dinge gelebt. Doch das Chaos traf ihn dennoch unerwartet. Die Sammlung seiner Mutter bedeckte jeden Zentimeter des Zimmers, die Tür zum Gang war irgendwo halb geöffnet eingekeilt und ließ nur einen kleinen Spalt frei, durch den man zur Haustür gelangte. Genau wie Bakterien in einer Petrischale wuchsen, vervielfältigte sich das Volumen an Habseligkeiten in der Küche und die Treppe in den ersten Stock hinauf, ein ganzes Leben des Hortens, das jede freie Oberfläche in Beschlag nahm. Es hatte weder vor Wänden, dem Teppich und an einigen Stellen sogar der Decke Halt gemacht. Und nun, nach dem Tod seiner Mutter, war es seine Aufgabe, das Chaos zu beseitigen, damit das Haus verkauft werden konnte. Doch er wusste nicht, wo oder wie er anfangen sollte.
»Komm schon«, sagte er zu sich selbst, leise Gedanken, laut ausgesprochen, so wie er es sich mittlerweile angewöhnt hatte. Ohne seine eigene Stimme wäre die Stille unerträglich. »Irgendwann müssen wir das angehen. Warum dann nicht jetzt gleich?« Er kniete sich hin und hob den Deckel einer Kiste mit der Aufschrift Ersatzteile an. Ein metallischer Geruch wehte ihm entgegen, mit einem Hauch Eisen, scharf wie der Geschmack von Blut. Nachdem er in dem Wust herumgewühlt hatte, zog er etwas heraus, das er für eine Zündkerze hielt, und danach etwas Undefinierbares, vielleicht eine Art Pumpe. Schwarzes Schmierfett verfärbte seine Fingerspitzen und er wischte sie sich an dem Anzug ab, von dem er wusste, dass er ihn nie wieder tragen würde. Durch die Unkenntlichkeit der Dinge wurde ihm nur noch deutlicher bewusst, dass dieses Haus bis zum Dach wie eine Dose Sardinen mit unnützen Habseligkeiten vollgestopft war. »Herrgott, Mum. Du hast auch wirklich einfach alles behalten.«
Nun, fast alles, dachte er.
Von seinem Platz am Boden blickte er durch das Zimmer zu der Stelle, wo seine Mutter immer gesessen hatte, mit dem eingedellten Kissen in der Mitte, als erwarte es ihre Rückkehr. In ihm stiegen jäh Erinnerungen an Abende auf, an denen eine sanfte Sonne den Raum in ein rosafarbenes Licht getaucht, Leben in die Wangen seiner Mutter und Wärme in das zugige Haus gebracht hatte. Sobald sie im Sessel eingenickt war, hatte er sie häufig betrachtet und sich Gedanken über sie gemacht. Über das Warum. Über das Wann. Doch meistens hatte er sich dann nur noch verwundert gefragt, wie sie es über sich gebracht hatte. War es ihr schwergefallen, ihn wegzugeben? Hatte sie sich jemals gewünscht, zu dem Moment zurückzukehren, als sie einfach fortgegangen war und ihn auf der Bank im Einkaufszentrum ausgesetzt hatte, und alles rückgängig zu machen?
Hatte sie sich jemals gewünscht, ihn behalten zu haben?
Wie alt war er damals gewesen? Alt genug, um sich an das Eis zu erinnern, das der Wachmann ihm gekauft hatte, während die Polizei gerufen wurde, und an den Zettel, den sie ihm in die pummelige heiße Hand gedrückt hatte. Fast zehn Jahre waren vergangen, seit sie wieder Kontakt hatten, seit er sie gefunden hatte, und während dieser Zeit hatte er alles in seiner Macht Stehende getan, um ihr ein guter Sohn zu sein, war sogar bei ihr eingezogen in der Hoffnung, die Antworten auf all seine Fragen zu erhalten. Jetzt war sie tot und er war wieder allein, zurück in ihrem Haus, und konnte sich immer noch nicht erklären, warum sie ihn weggegeben hatte.
Allmählich brach an diesem Sommertag der Abend an und die grauen Schleierwolken, die sich am Himmel ballten, brachten das Versprechen von Regen mit sich. Die Luft surrte in Erwartung eines Gewitters. Wenn es regnete, stieg der Wasserpegel des Flusses in River View, dem Pflegeheim, in dem Harry die vergangenen zehn Jahre als Pflegehelfer gearbeitet hatte, bis er den Teil des Gartens flutete, in dem die Blumen blühten. Bei dem Gedanken an Margaret in Zimmer drei fragte er sich besorgt, ob jemand in seiner Abwesenheit Blumen zu ihr brachte, wie er es jeden zweiten Tag tat. Auch Joseph, der zwar nicht mehr lesen konnte, aber jeden Tag einen unstillbaren Hunger auf Zeitungsnachrichten hatte, würde ihn vermissen. Harry nahm sich stets etwas Zeit, um ihm vorzulesen, aber würde einer der anderen Pfleger dasselbe tun? Der Mehrwert, den er ihrem Leben verlieh, wirkte unbedeutend im Vergleich zu dem, was sie seinem schenkten: Sie gaben ihm das Gefühl, auf eine Art wertvoll und nützlich zu sein, die er sonst nicht empfand. Wie sehr er sich danach sehnte, wieder zurück zur Arbeit zu kommen. Die vergangenen zwei Wochen hatte er fast ausschließlich in diesem Haus verbracht, was allmählich unerträglich wurde.
Am Nachmittag, während Harry der Schweiß in Strömen den Rücken hinabgelaufen war, hatte er die Gesichter von allen Menschen auf der Beerdigung betrachtet. Abgesehen von Victor, seinem Chef im Pflegeheim, und Mrs. Gillman, der alten Dame von nebenan, waren es nur er und die vier Sargträger gewesen, die beim Gottesdienst geblieben waren, um für zahlenmäßige Verstärkung zu sorgen. Höchstwahrscheinlich auf Mrs. Gillmans Geheiß, wie er vermutete. Doch zwanzig Liedblätter lagen unberührt in den Kirchenbänken, als hätte Frances Langley sich von der Welt verabschiedet und nur ein winziges Kräuseln auf der Oberfläche des Lebens hinterlassen. Kurz vor ihrem sechsundfünfzigsten Geburtstag war sie gestorben, viel zu früh, um an einer tiefen Venenthrombose zu leiden, die auf dem Weg durch ihre Lunge stecken geblieben war. Harry hatte gehofft, die Beerdigung würde einen Wendepunkt für ihn bedeuten, aber die Reise, die vor ihm lag, war zweifelsohne schwierig, und er wusste nicht, wie er sie allein bewältigen sollte.
Als er das unverkennbare Quietschen des Gartentors hörte, gefolgt von Schritten auf dem Kopfsteinpflaster, war er überzeugt, eingenickt und jetzt irgendwo in einem Traum gefangen zu sein. Doch wenige Augenblicke später erklang ein Klopfen auf der abblätternden Farbe der Haustür. Er erwartete niemanden, und für Besuch war es etwas spät.
Wie viel Uhr war es? Auf seine Armbanduhr zu blicken war ihm zur Gewohnheit geworden, auch wenn sie lang vor dem Tag, seitdem er sie trug, stehen geblieben war. Sie gehörte zu den wenigen Dingen, die seine Mutter ihm mitgegeben hatte, und bevor sie ihn auf jener Bank zurückließ, hatte sie ihm die Uhr um sein Handgelenk gelegt. Obwohl er es nicht mit Sicherheit wissen konnte, war er immer überzeugt gewesen, dass sie früher einmal seinem unbekannten Vater gehört hatte. In seiner Kindheit hatte ihm dieser Gedanken gefallen, doch als er bei seiner Mutter nachgefragt hatte, hatte sie ihm nur gesagt, sie wäre von jemandem, der ihn liebte. Unvorbereitet auf Gäste, setzte er sich aufrecht hin, als das Klopfen erneut erklang. Beim Aufstehen erhaschte er aus den Augenwinkeln einen Blick auf sein Spiegelbild. Sein Haar war fast schwarz, seine Haut wie blasser Honig, doch sein Gesicht war auf eine Weise gefurcht wie nie zuvor und seine Augen schimmerten dunkler und trüber. Rasch drehte er sich weg und zwängte sich in Richtung Korridor. In Wahrheit wollte er überhaupt nicht sehen, wie sehr er sich verändert hatte.
»Einen Moment«, rief er und schob sich an dem Gerümpel vorbei. Vielleicht war es Mr. Lewisham, der Anwalt, der mit dem Hausverkauf beauftragt worden war und der ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, dass er nicht lang herumtrödeln und endlich die notwendigen Papiere unterschreiben sollte. Zwanghaftes Horten war anscheinend fast ein Synonym für unbezahlte Rechnungen, und das Cottage musste, ob es Harry nun gefiel oder nicht, verkauft werden. Aber was wollte er zu dieser späten Stunde hier? Harry hatte noch drei Wochen, bevor die Auktion stattfand. Mit einer gewissen Dringlichkeit setzte das Klopfen wieder ein.
»Schon gut, schon gut«, sagte Harry und schob die Kette aus der Schiene. Wenn er es sich recht überlegte, war es wahrscheinlich Mrs. Gillman. Sie hatte versprochen, ihm ein Abendessen zuzubereiten, auch wenn sie selbst allmählich auf die neunzig zuging und körperlich nicht in der Verfassung war, sich um einen Mann zu kümmern, der mit großen Schritten auf sein fünftes Lebensjahrzehnt zuging. Doch sie war die Art Mensch, die helfen wollte, wann immer es ging, und jegliche Probleme mit dem Mut einer Löwin löste, was Harry bewundernswert fand. Zweifellos wäre sie die perfekte Wahl gewesen, um ihm beim Ausräumen des Hauses seiner Mutter zu helfen, wäre es nicht beinahe ein Ding der Unmöglichkeit, sich mit einer Gehhilfe in dem Chaos zu bewegen.
»Ich habe fast den...
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