Kapitel 3 - Eva vor sechzehn Jahren
»Gib mir mal die Kirschen rüber, damit ich den Dessert-Teller fertig anrichten kann!« Stolz betrachte ich mein Werk. Ich kann es selbst kaum glauben, welche Verwandlung ich durchmache, sobald ich in der Küche stehe und eine saubere weiße Schürze trage. Fast wie Aschenputtel, das sich in Cinderella verwandelt hat.
»Ist der Nachtisch fertig?«, ruft Maître Claude ungeduldig in die Küche.
»Jawohl Chef, es ist angerichtet!«, witzele ich und schwenke die Teller gekonnt zur Ausgabe. »Wollen Sie, oder soll ich servieren?«, frage ich.
»Das machen Sie mal schön selbst, Frau Glück, schließlich ist das Ihre Kreation. Außerdem bin ich überzeugt, dass die Gäste lieber von einer hübschen jungen Blondine bedient werden, als von einem alten Mann wie mir!«
Selbstbewusst laufe ich zu Tisch Nummer fünf, die Teller in den Händen. Und dann trifft er mich. Amors Pfeil! Mitten ins Herz.
Ein schick gekleideter, gut aussehender junger Mann mit rehbraunen Augen lächelt mich an.
»Das ist ja die reine, pure Sünde!« Seine Stimme klingt wie dunkle Schokolade.
Er greift nach dem kleinen Dessertlöffel und berührt damit die kandierten, exotischen Früchte, bevor er sich dazu entscheidet, erst den Fruchtspiegel aus Himbeere- -Pfirsich-Creme mit einem Hauch von Marsala zu probieren. Seine Augen weiten sich, er hält kurz inne, den Löffel noch im Mund. Unsere Blicke berühren sich und die entstehenden Funken erreichen auf direktem Weg meine Seele.
Eigentlich sollte ich schon lange wieder in der Küche sein, aber meine Beine gehorchen mir nicht. Es gibt nur noch ihn und mich und ich weiß, dass ich eben dem Mann meiner Träume begegnet bin. Das ist einer dieser Momente, die nie vorbeigehen sollten.
Mein Herz schmilzt schneller als Vanilleeis in heißen Himbeeren.
Wie ich zurück an meinen Arbeitsplatz komme, weiß ich nicht, so »geflasht« bin ich.
Vergiss es, so ein toller Mann ist mit Sicherheit vergeben, versuche ich mich selbst zur Raison zu bringen. Aber wie einen Wünschelrutengänger zum Wasser zieht es mich in seine Richtung. Und so laufe ich zum Vorhang, der den Küchenbereich vom Service trennt und schaue IHM beim Genießen zu.
Sein Teller ist inzwischen leer, aber der Mann mit den wärmsten Augen westlich des Urals kratzt immer noch sorgfältig die restliche Soße vom Teller. Dabei entsteht ein Quietschgeräusch, das jedem anderen megapeinlich wäre. Er hingegen zuckt nur die Schultern und grinst ein hinreißend schiefes Lächeln, das mich endgültig umhaut.
Plötzlich legt sich eine Hand auf meine Schulter und ich erschrecke fürchterlich. Ich war so mit Schwärmen beschäftigt, dass ich meinen Chef nicht mal bemerkt habe.
»Die Gäste von Tisch fünf möchten sich gerne persönlich bei Ihnen bedanken. Also los, Frau Glück, holen Sie sich die verdienten Lorbeeren ab!« Mit diesen Worten schiebt er mich zurück in den Gastraum.
Verlegen trete ich an den Tisch und lächele. »Wie schön, dass Ihnen mein Dessert geschmeckt hat!« Mein Blick schweift hinüber zu der streng aussehenden Frau, die mir hoheitsvoll zunickt. Sie sieht nicht aus, als würde sie öfter mal einen Nachtisch genießen, so hager, wie sie in dem gut sitzenden Business-Kostüm wirkt.
Ganz anders der Mann zu ihrer Linken. Obwohl er sitzt, wirkt er riesig. Er hat einen dunkelroten Kopf und das Hemd spannt so sehr über seinem Bauch, dass ich mich wundere, dass die Knöpfe nicht vor lauter Erschöpfung nur so davonspringen. Ob das wohl seine Eltern sind, frage ich mich und lächele, als der dicke Mann laut polternd zu reden beginnt.
»Welch wunderschönes Fräulein! Und kochen kann sie auch noch!«
Jetzt mischt sich mein Prinz ein. »Sie müssen die gute Fee aus dem Märchen sein.
Ich hoffe, Sie sind nicht vergeben, denn ich habe mich soeben unsterblich verliebt.«
Dabei schaut er mir in meine blauen Augen, als könne er darin eine Antwort finden.
Er grinst wieder dieses schiefe Lächeln, das mich vorhin schon so verzaubert hat. Er ist es, der Mann meiner Träume, mein Seelenverwandter.
Die Zeitschaltuhr piepst und ich zucke zusammen. So abrupt aus den Träumen gerissen zu werden, tut weh! Deshalb gehe ich mit meinen Gedanken zurück zu unserem Hochzeitstag.
Eine Mischung aus steifer Förmlichkeit und ausgelassener Party. Ich muss sagen, an diesem Tag habe ich mich WIRKLICH gefühlt wie Cinderella. Ein über und über mit Perlen besticktes, strahlend weißes, bodenlanges Kleid mit einer »Hammer«-Korsage. Meine Vorzüge waren gekonnt in Szene gesetzt. Michael stand sogar kurz der Mund offen, als ich in die Kirche schwebte.
Um mich zu überraschen, hatte er ein Oldtimer-Cabriolet gemietet. Es war mit wunderschönen Frühlingsblumen geschmückt. Damit sind wir zu dem alten Bauernhof gefahren, wo wir feierten. Der Weg dorthin war leider nicht allzu weit, denn ich wäre gerne ewig so weitergefahren. Am liebsten wäre ich mit Michael durchgebrannt. Wir waren so verliebt und ich habe mich gefühlt wie die Queen persönlich, während ich den Passanten, an denen wir vorbeifuhren, huldvoll zugewinkte.
Um das Buffet unserer Hochzeitsfeier hatten sich Maître Claude und das Team gekümmert, weswegen es wahre Begeisterungsstürme auslöste. Michaels Eltern liefen den ganzen Abend mit stolz geschwellter Brust umher, auch wenn sie ursprünglich eine andere Favoritin als Ehefrau für ihren einzigen Sohn im Sinn hatten. Tja, Pech gehabt. Vor allem in unseren ersten Ehejahren hat mir Michael beinahe täglich beteuert, dass ich die Einzige für ihn sei.
Ein Gast auf unserer Hochzeitsfeier, den wir gar nicht kannten, wahrscheinlich einer von Edgars Geschäftspartnern, hatte anscheinend sein Hörgerät vergessen.
»Habt ihr ein Glück, so eine fähige Schwiegertochter zu bekommen«, brüllte er Edgar an. »Und Michael erst! Jeden Tag solche Köstlichkeiten serviert zu bekommen, da könnte man direkt neidisch werden!« Die Antwort seiner Frau fiel nicht gerade liebevoll aus. Sie knuffte ihn in die Seite »Dir schmeckt wohl mein Essen nicht mehr, seit ich deine Kalorienzahl ein bisschen reduziert habe?«, keifte sie.
Ich stand zufällig in der Nähe und konnte mir nur mit Mühe das Grinsen verkneifen.
Leider ließen sowohl Edgars als auch Katharinas Begeisterung für mich von Beginn an zu wünschen übrig. Als ich mit Laura schwanger wurde, konnte ich ihr innerliches Naserümpfen mir gegenüber auch äußerlich sehen. Innerhalb kürzester Zeit war meine hübsche Figur futsch und ich verwandelte mich in ein keuchendes Walross mit dicken Füßen, die in keine Schuhe mehr passten.
Katharina dagegen sieht heute immer noch aus wie damals. Sie hat dieselbe hagere Figur, denselben verkniffenen Gesichtsausdruck und dieselbe Art, ihr Missfallen auszudrücken. Wahrscheinlich, so vermute ich mal, bin ich nicht standesgemäß genug für ihren Thronfolger und Erben.
Ich habe mich inzwischen fast daran gewöhnt, dass wir wohl keine Freunde mehr werden, denn mit Charlotte, Michaels Sandkastenliebe und Tochter eines Geschäftspartners, kann ich in ihren Augen nicht mithalten. Aber Michael hat sich nun mal für mich entschieden.
Nach Lauras Geburt hatte ich keine Zeit mehr, mich um meine Bedürfnisse zu kümmern. Ich war froh, wenn der kleine Schreihals mal ruhig war und ich ein paar Minuten schlafen konnte. Laura und Michael haben von Anfang an meine komplette Aufmerksamkeit gebraucht. Spätestens, als Max die Familie komplett gemacht hat, war ich nur noch zu Hause. Ich fürchte, ich habe sie alle total verwöhnt.
In meinem Ratgeber für Familienharmonie steht, dass nicht einer alleine für den kompletten Haushalt und die Kindererziehung zuständig sein sollte. Aber ich musste ja alles an mich reißen.
Charlotte dagegen hat alles richtig gemacht und nicht auf ihre Karriere verzichtet, obwohl sie eine Tochter hat.
Ich habe Charlotte erst vor Kurzem getroffen, als ich mit Michael bei einer politischen Veranstaltung war. Er hat mich gebeten mitzukommen und ich habe ihm den Gefallen getan, obwohl ich noch nicht mal die passenden Kleider für so etwas »Offizielles« besitze. Mit meinem rosa Strickjäckchen über dem bunten Sommerkleid bin ich unter all den Kostümträgerinnen auch ziemlich aufgefallen.
Michael war das, glaube ich, egal, ich weiß gar nicht, ob er es überhaupt gemerkt hat, zumindest hat er nichts gesagt.
Charlotte, die in ihren hochhackigen Pumps und dem taillierten Businesshosenanzug aussah, als nehme sie maximal zwei Salatblätter am Tag zu sich, trug mit ihrem gönnerhaften »ach, deine Köchin« nicht gerade zu meinem Wohlbefinden bei.
An diesem Abend taten mir vom falschen Lächeln die Mundwinkel weh. Ich musste dort weg.
»Schatz, sei mir nicht böse, aber ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen. Ich muss mich hinlegen.«
Michael wirkte enttäuscht. »Ach, du Arme, soll ich dich nach Hause fahren?«
»Nein, es geht schon. Die Bushaltestelle ist ja gleich um die Ecke«, gab ich zurück.
»Du Ärmste. Bestimmt überfordern dich das viele Kochen und die Arbeit mit den Kindern. Vielleicht solltet Ihr euch auch eine Nanny nehmen. Dann klappt alles bestimmt besser und du siehst nicht mehr so schrecklich müde und erschöpft aus!«, lautete Charlottes Kommentar.
Dabei wusste sie bestimmt, dass Michael nicht so gut verdient, wie er die Menschen um sich herum glauben lässt.
Ich blieb souverän, lächelte ein letztes Mal in die Runde, wünschte allen viel Spaß, drehte mich herum und ließ endlich die Mundwinkel fallen. Geschafft! So viel zum Thema Charlotte.
Jetzt...