Ankunft in England
»Herr Kapitän! Herr Kapitän!«, klang näher kommend die helle Stimme vom mittleren Niedergang* her, begleitet vom Stapfen eiliger Schritte. »Herr Kapitän!«, schallte es lauter jetzt, und ein Jungenkopf tauchte aus der Luke auf. »Wir sind ja schon auf dem Fluss«, stieß der junge Bursche hastig und mit allen Anzeichen der Enttäuschung hervor.
Auf dem Achterdeck wandte sich eine hagere, graubärtige Gestalt im dunkelblauen Tuchmantel um. »Man sacht', jung' Heer! Du hast noch nix verpasst. Die Sonne ist gerade heraus. Vorher war es so diesig, dass wir alle Not hatten, unseren Weg zu finden. Steuerbord querab«, wies sein ausgestreckter Arm, »kannst du jetzt Tilbury Fort erkennen.« Der Kapitän legte seine Hand auf die Schulter des Jungen und führte ihn an die Backbordseite: »Und dort liegt Gravesend, auch nicht größer als Stade, wo du herstammst.«
Der Junge starrte mit seinen graubraunen Augen auf das kleine Nest am Themseufer, als wollte er Ähnlichkeiten mit seinem Heimatstädtchen beschwören. Aber die flache Hafenstadt bot ihm wenig Anhaltspunkte.
»Wann sind wir denn in London?«, wandte er sich dem Kapitän zu. »Das dauert noch manche Stunde, Herr Ungeduld«, erwiderte der Kapitän lächelnd. »Wir sind ja noch etwa fünfunddreißig Meilen vom Pool, also vom Hafen entfernt. Der Wind steht günstig, aber ich möchte nicht wetten, dass er sich hält. In zwei Stunden wird die Flut uns schieben. Wenn alles gut geht, sollten wir am Kai liegen, bevor sie kentert. Aber wenn du es eiliger hast, musst du auf den Kutter umsteigen, der aus Gravesend ausgelaufen ist. Er segelt schneller als wir und fährt im Liniendienst nach Billingsgate, ganz in der Nähe, wo wir auch anlegen.« Der Alte unterbrach sich: »Segg 'moal, hast du denn schon gefrühstückt?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Dann aber runter zum Smutje und ordentlich eingefahren, ehe du wieder an Deck kommst, und eine warme Jacke solltest du auch anziehen.«
Der Protest folgte sofort: »Aber es ist doch so viel zu sehen, überall segeln Schiffe, sogar größere als unsres.«
»Nichts da«, brummte der Kapitän, »Schiffe wirst du bald mehr sehen als in deinem ganzen Leben zusammen, und was soll ich deinem Onkel sagen, wenn er dich abholt, und du kannst vor Hunger kaum stehen?«
Der Junge guckte prüfend an dem Graubart hoch, ob er es wirklich ernst meinte oder ob man ihn umstimmen konnte. Aber dann gab er auf und wandte sich mit einem »Jawohl, Herr Kapitän!«, zum Niedergang.
»Kannst dich schon an England gewöhnen!«, rief ihm der Kapitän nach: »Dort sagen sie: Aye, aye, Sir!«
Der Rudergänger deutete ein Grinsen an, das mit seinen Zahnstummeln eher erschrecken konnte: »Hei is 'n betten hitzig, disse junge Heer, wa Käpt'n?«
»Tja, wei woin mit twelf woll 'n ganz Deel ruhiger, aber hei is von Vadder her 'n Stadtmensch un 'n halben Studierter, dat mach woll wehn. - Pass up up dien Rudder, Döskopp!«, unterbrach er sich, »or wullt du uns up de Sandbank setten?«
Wieder auf dem richtigen Kurs glitt die Brigg Aurora mit vollen Segeln vor dem leichten Wind dahin. Sie fuhr im Postdienst zwischen Hamburg und London und führte auch immer Ladung mit, kein Massengut, aber kleineres, wertvolleres Stückgut, das eben schnell wie die Post eintreffen sollte. Und sie hatte auch fast immer Passagiere.
Auf dieser Fahrt waren es einige Woll- und Holzhändler, ein Finanzrat aus Hannover, der im Ministerium über Abgaben an George III., König von Britannien und Kurfürst von Hannover - neben allen anderen Titeln -, verhandeln sollte, ein Professor der Universität Göttingen mit seiner Frau und der junge Heißsporn.
Seine Eltern hatten ihn dem Kapitän für die Überfahrt besonders ans Herz gelegt. In London sollte ihn sein Onkel abholen, Stadtrat und Schiffsausrüster aus Portsmouth. Der Junge hieß David Winter, war der Sohn eines Arztes aus Stade und einer gebürtigen Engländerin, deren Schwester den Stadtrat aus Portsmouth geheiratet hatte.
David, einziger Sohn seiner Eltern, sollte ein halbes Jahr bei den englischen Verwandten leben, da sein Vater zu Vorträgen an die Universitäten in Prag und München eingeladen war und dort seinerseits neue Methoden bei der Heilung von Knochenbrüchen studieren wollte.
Davids Vater, Absolvent der medizinischen Fakultäten in Edinburgh und Göttingen, wollte diese für ihn so ehrenvolle Reise nicht ohne seine Frau antreten, und so war für David der Aufenthalt bei Onkel und Tante, Vetter und Base arrangiert worden, ein Abenteuer allzumal, aber er würde es sicherlich gut haben, Erfahrungen sammeln und seine englischen Sprachkenntnisse verbessern, wie sich seine anfangs doch recht besorgte Mutter getröstet hatte.
David wirkte auch nicht so, als ob ihn jeder Windhauch umblasen würde. Für sein Alter mittelgroß, war er gewandt und kräftig, hatte eine schnelle Auffassungsgabe und drückte mitunter seine Meinung etwas sehr direkt aus, was ihm nicht nur Freunde einbrachte.
Eben war seine helle Stimme schon wieder vom Niedergang her zu hören. Vor ihm tauchten jedoch der Professor und seine Frau auf und wurden vom Kapitän freundlich und respektvoll begrüßt.
»Wir haben Purfleet, ein kleines Fischerdorf, Steuerbord querab, Frau Professor, und laufen in den nördlichen Themsebogen ein«, erklärte der Kapitän. »Halfway Reach liegt Steuerbord voraus.«
»Sehr einladend bietet sich uns England aber nicht gerade dar«, sagte die Angesprochene gleichermaßen zu ihrem Mann und dem Kapitän. »Die Ufer sehen so eintönig aus. Wenn nicht die weißen und braunen Segel, die Möwen und Reiher den Fluss belebten, könnte man direkt melancholisch werden.«
»Das ist meist Marsch- und Sumpfland«, ließ sich von hinten der Bass des dicken Lübecker Wollhändlers vernehmen. »Das wird auch kaum besser bis London. Und von der Stadt ist über die Hälfte auch nicht des Hinsehens wert, wenn Sie mich fragen. Dreckige Gaunerviertel allzu meist.«
Andere Passagiere, eben hinzugetreten, widersprachen, und im Nu war eine lebhafte Unterhaltung über die Vor- und Nachteile dieser Riesenstadt im Gange.
»Herr Kapitän!«, übertönte alle wieder Davids helle Stimme. »Sehen Sie doch nur, da vorn die vielen Segel und ganz vorn, das sind ja Riesenschiffe.«
Alle schauten voraus, und einige beugten sich über die Reling, um besser zu sehen.
»Das sind die Schiffe, die mit Beginn der Ebbe aus dem Londoner Hafen ausgelaufen sind. Vorn sind zwei Ostindiensegler, die haben ihre 1200 bis 1300 Tonnen«, informierte der Kapitän und ließ sich das Fernrohr geben. »Hab' ich's mir doch gedacht! Voraus segelt die Northington, ein feines Schiff. Ich kenne ihren Kapitän aus der Zeit, als wir beide Maate waren. Er ist jetzt etwa sechs Monate unterwegs bis Bombay und sieht England frühestens in zwölf Monaten wieder, wenn überhaupt.«
Als einige fragten, was einen dazu bringen könne, so gefährliche und lange Reisen zu unternehmen, wies der Kapitän auf den Reiz der Fremde und vor allem auch auf die verführerischen Gewinnaussichten hin.
»Mein Freund kriegt nicht nur sein gutes Gehalt. Er ist auch nebenbei Kaufmann. Bis zu fünfundzwanzig Tonnen Frachtraum auf der Ausreise und fünfzehn Tonnen auf der Heimreise können Offiziere und Mannschaften der Ostindischen Gesellschaft an eigenen Waren frei transportieren und auf eigene Rechnung verkaufen. Und der Kapitän hat seinen guten Anteil. Manche haben ihr Vermögen gemacht und sind selbst Schiffseigner geworden.«
Erstauntes Gemurmel war zu hören. Vielleicht sah der eine oder andere Händler ein wenig neidischer zu den majestätischen Großseglern als zuvor.
Aber David sagte unberührt von Profitaussichten: »Ich würde gern mitsegeln. Es soll am anderen Ende der Welt ganz wunderbare Dinge zu sehen geben.«
»Ja, vor allem tolle Weiber«, brummelte der Rudergänger in sich hinein.
Der Wind stand jetzt querab, und die auslaufenden Schiffe hatten Mühe, gegen die Flut anzukreuzen. Sie würden spätestens in der Fiddler's Road, dem breiteren Flussabschnitt bei Greenhite, ankern und besseren Wind und die Ebbe abwarten, erklärte der Kapitän.
Hier und da wies er noch auf einige Schiffe hin: Kohlefrachter aus Newcastle, die eine oder andere Schnau aus der Ostsee, mehrere Themsebarken.
Viele liefen heute nicht aus, sagte er, die meisten würden wohl auf besseren Wind warten.
Der Professor wandte ein: »Mehr Schiffe können doch hier gar nicht fahren. Man müsste ja dauernd fürchten, gerammt zu werden.«
»Warten Sie nur ab, was sich im Pool drängt, Herr Professor. Da wissen auch alte Fahrensleute oft nicht mehr, wie sie durchschippern können.«
Inzwischen war das Königliche Hospital in Greenwich in Sicht. Der Professor bewunderte die klassische Weitläufigkeit des Gebäudes, und der Kapitän steuerte einige Bemerkungen über die Fürsorge...