Die befreite Stadt
Oktober 1779
Zwei schwarze Schatten, in der Dunkelheit kaum sichtbar, lehnten an der Reling und starrten durch die Nachtgläser.
»Was erkennen Sie?«, flüsterte der größere Mann.
»Drei Masten, gekürzte Segel, mindestens zwei Decks, Sir, wahrscheinlich Vierundsiebziger. Halt! Dahinter ist noch ein Schatten.« Die kleinere Gestalt schob sich fast über die Reling, um mehr zu sehen.
Der Größere wandte sich um, griff nach einem Schatten, der hinter ihm stand, zog ihn zu sich heran und sagte leise: »Mr. Bates, Mr. Winter soll mit der Sprechtrompete horchen. Sie gehen noch einmal über Deck und stellen sicher, dass alles gefechtsbereit ist, Trauben über der Kugel bei jedem Geschütz, kein Laut und kein Licht!«
Der Schatten huschte davon, und ein dritter Mann trat zu den beiden, hob eine Sprechtrompete verkehrt herum ans Ohr und richtete den Trichter auf den Schatten aus. Er schien die Luft anzuhalten, so regungslos stand er dort. Dann beugte er sich zu seinem Nachbarn. »Sir, leise Unterhaltung, ein bisschen Pfeifen, ein lauterer Ruf, der wie >Parbleu< klang, aber nicht genau zu bestimmen.«
»Lauschen Sie weiter!«, flüsterte der Schatten zurück.
Regungslose Stille an Bord des Segelschiffes! Hin und wieder ein Knarren der Segel, ein Quietschen der Taue, ein Plätschern der Bugwelle, aber kein Laut und kein Licht, nichts konnte die Anwesenheit eines britischen Kriegsschiffes verraten.
Von drüben hörte man jetzt Stimmen, eine Schiffsglocke wurde dreimal angeschlagen, aus einer geöffneten Tür drang Licht. Ungeduldig wandte sich der größere Mann zu seinem Nachbarn, aber der neigte sich schon zu ihm. »Französische Befehle, Sir, ganz eindeutig. Sie sollen die Segel festzurren.«
Noch während er flüsterte, hörten sie auch vom zweiten Schatten die Schiffsglocke. Der dritte Mann flüsterte: »Zwei französische Linienschiffe, Sir, mindestens Vierundsiebziger. Da sollten wir uns heimlich davonmachen.«
Der größere Mann knurrte: »Ich denke nicht daran, Mr. Hope. Wir haben den Windvorteil. Wir setzen jetzt alle Segel, kreuzen hinter ihren Hecks vorbei und jagen jedem eine Salve hinein. Bevor die wach werden, sind wir davon, und vielleicht fliegt einer in die Luft, weil sie die Feuer nicht gelöscht haben. Geben Sie die Befehle weiter. Aber kein Laut! Alles durch Melder, bis ich den Feuerbefehl gebe!«
Ein gemurmeltes »Aye, aye, Sir«, und einer der Schatten huschte davon.
»Gehen Sie wieder auf Ihre Gefechtsstation, Mr. Winter«, sagte der große Mann und blieb allein an der Reling stehen.
Die Segel füllten sich zu seinen Köpfen, das Schiff legte sich etwas über und nahm dann Kurs auf. Das Plätschern wurde lauter, und hin und wieder klang ein unterdrückter Laut aus der Takelage. Der einsame Beobachter starrte weiter durch sein Nachtglas und beobachtete die Annäherung an den Feind.
Zweihundert Meter noch, dann würden sie das erste Schiff mit fünfzig Meter Abstand passieren. Er setzte das Nachtglas ab. Man konnte das Schiff jetzt auch mit bloßem Auge sehen. An der Stellung der beiden letzten Geschützluken erkannte er die französische Bauart.
Er hob die Sprechtrompete. »Ziel auffassen!«, klang es auf einmal laut durch die Nacht. Aber bevor er die überraschten Stimmen vom feindlichen Schiff richtig wahrnahm, rief er: »Feuer!«
32 Kanonen donnerten auf einen Schlag ihre eiserne Fracht hinaus, und er sah sie in das Heck des Gegners einschlagen, die Holzschnitzereien und Fenster zerschlagend. Nur einen Sekundenbruchteil zuckte der Gedanke durch den Kopf, dass sich jetzt Kugeln und Traubengeschosse eine blutige Bahn durch die zusammengepferchten Menschen brachen, dann hob er wieder die Sprechtrompete und feuerte die Kanoniere zum Nachladen an.
Vorbei war die atemlose Stille. Maate brüllten und trieben die Leute an. Musketenschützen suchten Ziele auf dem feindlichen Schiff, auf dem Flammen aufflackerten. Aber dann ebbte das Geschrei ab. Sie näherten sich dem Heck des zweiten Gegners. Man sah, wie sie dort drüben das Ruder herumrissen, um dem Gegner die Breitseite bieten zu können. Aber sie hatten zu wenig Wind in den wenigen Segeln.
»Ziel auffassen«, erklang es fast unbeteiligt, und dann nach einigen Sekunden: »Feuer!«
Ein oder zwei Kanonen stotterten hinterher. Einige Geschosse verfehlten ihr Ziel und ließen Fontänen im Wasser aufsteigen. Der Kommandant fluchte leise, ließ den Blick aber nicht von den feindlichen Schiffen abschweifen. Beim ersten Gegner flackerten an Deck Feuerzungen auf. Beim zweiten gab es eine Explosion.
»Schwere Treffer, schwere Verluste wahrscheinlich auch, aber kein Schiff ist gefechtsunfähig. Während sie ihre Wunden lecken, sind wir davon. Lassen Sie mit allen Segeln Kurs Nordost zu Ost nehmen, Mr. Bates! Die Mannschaften bleiben auf Gefechtsstation!«
»Aber Sir, wir könnten wenden und einem vielleicht den Fangschuss geben.«
»Ich bin kein Hasardeur, Mr. Bates, der Schiff, Mannschaft und Auftrag für eine Drittelchance aufs Spiel setzt. Ein unglücklicher Treffer, und die schießen uns mit ihren überlegenen Batterien zusammen. Führen Sie meinen Befehl aus!«
Die Dämmerung kroch über die Kimm. Das Schiff lag wieder auf Kurs Südwest. Offiziere und Mannschaften starrten übermüdet in alle Richtungen. War eine feindliche Flotte hinter der Kimm?
Blöcke und Stengen quietschten, ein kühler Wind staute sich an den Segeln und drängte mit einem seufzenden Fauchen an den Seiten vorbei. Schritte hallten auf dem nassen Deck. Die Seeleute und Seesoldaten, die gefechtsbereit an den Kanonen hockten, murmelten leise.
»Ruhe an Deck!« Die barsche Stimme des Kapitäns ließ sie erstarren. »Ausguck! Wann kommt endlich eine Meldung?«
Von oben schallte es herab: »Deck! Segel auf Gegenkurs. Zwei Meilen voraus!«
Ungeduldig rief der Kapitän zurück: »Was für ein Segel, verdammt noch mal!« Die Mannschaften an den Geschützen horchten gespannt.
»Deck! Kutter oder Toppsegelschoner. Noch nicht genau zu erkennen.«
Die Geschützbedienungen sahen sich enttäuscht an. Das hörte sich weder nach Beute noch nach einem Kampf an, in dem man Ruhm gewinnen konnte.
Der Kapitän, ein hagerer Mann, beherrschte nur mühsam seine Ungeduld. »Mr. Winter, entern Sie mit dem Teleskop auf! Mr. McGaw, bereiten Sie die Signale zum Beidrehen, unsere Nummer und das geheime Erkennungssignal vor!« Zwei Midshipmen riefen: »Aye, aye, Sir!«, und hasteten davon.
Der ältere der beiden, ein etwa ein Meter fünfundsiebzig großer und breitschultriger junger Mann, griff sich das Teleskop, hängte es sich am Riemen über die Schulter und enterte mit flinken und geschickten Bewegungen gleichmäßig die Wanten empor. Der andere, kleiner und schmaler, lief zur Kiste mit den Signalflaggen und suchte verschiedene Wimpel und Flaggen heraus, die er an die Signalgasten übergab. Dann überwachte er das Anstecken der Signale und meldete: »Signale bereit, Sir!«
Von oben schallte die Stimme des anderen: »Deck! Kutter eine Meile voraus auf Gegenkurs. Wahrscheinlich britisch.«
Der Kapitän wandte sich einem schlanken, blonden Offizier zu, der schweigend neben ihm stand. »Mr. Bates, ich will kein Risiko eingehen. Veranlassen Sie bitte, dass ihm eines der Buggeschütze eine Kugel nicht zu weit querab feuert, damit er nicht auf dumme Gedanken kommt.«
Der Erste Leutnant bestätigte mit dem üblichen »Aye, aye, Sir!«, und instruierte einen Melder.
»Deck! Kutter will abdrehen!«
Der Kapitän befahl sofort. »Signal hissen. Buggeschütz Feuer!«
Einige Männer an den Geschützen zuckten beim Krachen der Kanone unwillkürlich zusammen. Ihr Batterieoffizier schimpfte mit unterdrückter Stimme: »Werdet ihr euch nun endlich an das Krachen gewöhnen, ihr verdammten Landeier.« Dann brach er ab und lauschte der hellen Stimme vom Mast.
»Deck! Kutter heißt das geheime Erkennungssignal und die Nummer 269. Er dreht bei.«
McGaw, der Signal-Midshipman, schlug schon in der Kladde nach: »Nr. 269, Sir, Kutter Nonsuch, Kommandant Leutnant Alden, Sir.«
Der Kapitän dankte mit ruhiger Stimme und ordnete an: »Signalisieren Sie >Kommandant an Bord melden<, Mr. McGaw. Mr. Bates, lassen Sie bitte Klarschiff aufheben. Dienst nach Vorschrift.« Er nickte zu ihren Bestätigungen und ging in seine Kajüte.
Als der Kapitän das Achterdeck verlassen hatte, lockerte sich die Haltung der Offiziere. Der mittelgroße, untersetzte Mann in der Uniform des Masters nahm seinen Dreispitz ab und fuhr sich über die Glatze: »Hoffentlich bringt er uns Neuigkeiten, Mr. Bates. Wenn so vieles ungewiss ist, muss man sich ja unwohl fühlen.«
»Sie sagen es, Mr. Hope«, bestätigte der Erste Leutnant. »Es ist schon ein komisches Gefühl, wenn man nicht weiß, ob eine spanische oder französische Flotte plötzlich am Horizont auftaucht, denn wo die zwei 74er von heute Nacht waren, sind sicher noch...