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Heidelberg, 7. Mai 1900
Meine liebe, liebe Schwester!
Wie Du ja schon aus Papas Telegramm weißt, bin ich nun tatsächlich offiziell mit dem Freiherrn von Walsburg verlobt und werde ihn in ein paar Wochen heiraten. Am meisten von allen ist Mama ganz aufgebracht. Zum einen freut sie sich über die wundervollen Neuigkeiten, die Du nun der ganzen Familie mit Gewissheit mitteilen konntest, zum anderen sorgt sie sich unentwegt um Dich. Meine überstürzte Hochzeit passt da sogar nicht in diese Entwicklung, weil Mama lieber nach Wien reisen würde.
Ich finde es höchst amüsant, dass es "meine Hochzeit" ist und dass sie vor allem von Mama als "überstürzt" wahrgenommen wird. Ich bin ja kein gefallendes Mädchen, das rasch unter die Haube gebracht werden muss, bevor es einen Skandal gibt!
"Meine Hochzeit" fände in der Heiliggeistkirche mit dem Mann, den ich mir ausgesucht habe, statt. "Diese Hochzeit" bindet in ziemlicher Hast in der Peterskirche[10] zwei Menschen, die sich kaum kennen, aneinander.
Trotz aller Beschwerden ist sich Mama aber seit Langem wieder einmal in einer Sache mit Papa einig. Die noch unverheiratete Tochter macht eine ausgezeichnete Partie und wird gut versorgt sein.
Wie es scheint, muss ich mich in mein Schicksal fügen, denn bisher hat sich niemand hier dafür interessiert, was ich denke. Tristan hat mich ja eigentlich auch nicht direkt gefragt, ob ich ihn nehmen will. Er hat mir alle Vorzüge aufgelistet, die mir eine Heirat mit ihm brächten und, dass ich mich glücklich schätzen dürfte, weil seine Wahl auf mich gefallen sei.
Ich vermute eher, dass eventuelle andere Kandidatinnen von ihren Vätern nicht so bereitwillig übergeben wurden. Bin ich denn so eine Last für unsere Familie?
Großmutter hat uns stets gelehrt, dass wir entschlossen auf sämtliche Probleme zugehen sollen. Um ihr Andenken zu ehren, habe ich sämtliche Bücher für das Abitur gegen Lektüre über Deutsch-Südwestafrika eingetauscht. Die Abteilung für Völkerkunde der Universität konnte mir nicht weiterhelfen, weil ich nicht immatrikuliert sei und damit die Bibliothek nicht nutzen dürfe. Du kannst Dir "meine Freude" über diese Mitteilung sicher ausmalen. Aber ich bekam dort wenigstens den Hinweis, dass im Stadtarchiv Zeitungen von jedermann gesichtet werden können. Ich wurde tatsächlich fündig. Es existiert eine monatlich erscheinende Zeitschrift mit dem Namen "Der Tropenpflanzer", wo aber kaum etwas über Deutsch-Südwestafrika stand. Dann gab es mehrere Ausgaben der "Deutschen Kolonialzeitung", ein periodisches Druckwerk "Der Kolonialdeutsche" und ein Buch namens "Kleiner Deutscher Kolonialatlas".
Die Geschichte von Südwest begann 1882 mit diesem Kaufmann Lüderitz, der einen gewissen Heinrich Vogelsang damit beauftragte, herrenloses Land in Afrika zu finden. Der Globus zeigt ja, dass neben dem Besitz der Engländer, der Franzosen, der Belgier, der Portugiesen und der anderen nicht mehr viel übrig geblieben war. Vogelsang fand eine kleine Bucht namens Angra Pequena, die er einem Häuptling für hundert englische Pfund und zweihundert Gewehre abkaufte. Der Ort heißt heute Lüderitzbucht. Nach und nach wurde den Eingeborenen mehr Land abgekauft, wobei ich nicht mit Sicherheit sagen kann, dass man hier in Deutschland die Art der angewandten Geschäftspraktiken zu schätzen gewusst hätte.
Es gibt laut der Beschreibungen in den Zeitungen einige Verträge, die den Einheimischen den Schutz des Deutschen Reichs garantieren. Doch ich begreife dann nicht so recht, dass der Stamm der Herero (so heißt eine Gruppe der Einheimischen) diese Vereinbarung vor ein paar Jahren unter großen Unruhen lieber kündigte, als unserer Verwaltung zu unterstehen. Wie ist ihre Situation tatsächlich?
Alle diese Meldungen über weitere Zusammenstöße mit einem anderen Stamm, den Witboois, stimmen mich sehr besorgt und ich habe Angst vor der Zukunft. Stell Dir vor, dass es diese Stadt namens Windhuk erst seit kaum zehn Jahren gibt. Es wurde vom ehemaligen Reichskommissär François mitten im Nichts gegründet und wenn ich an die wenigen Bilder und Postkarten denke, die bei der Ausstellung gezeigt wurden, dann existiert dort nach wie vor nicht viel. Für wen denn auch? Bisher haben sich nur rund 1500 Deutsche dorthin gewagt, die sich aber auf ein Gebiet verteilen, dass so viel größer ist als unser Deutschland.
Tristan sah ich nur einmal kurz bei einem Abendessen, das ausgerichtet wurde, um auf unsere Verlobung anzustoßen. Auf meine Fragen antwortete er leider nur recht einsilbig. Er kann mir keine Stütze sein, ließ er mich wissen, denn er sei voll mit seinen eigenen Vorbereitungen beschäftigt. Er muss eine komplette Ordinationsausstattung zur Verladung fertigstellen und er sagte nur, dass ich alles mitnehmen soll, was ich im nächsten Jahr so brauchen werde. Im ganzen nächsten Jahr? Woher soll ich das wissen können? Dort ist doch auch alles ganz umgedreht. Die kalte Jahreszeit ist im Juli und August. Wird es dort so kalt sein, wie bei uns in Heidelberg im Winter? Welche Kleidung soll ich mitnehmen? Gibt es dort überhaupt etwas zu kaufen? Kann ich meine Bücher mitnehmen? Soll ich mich mit Stickgarn für das nächste Jahr, für die nächsten Jahre eindecken? Welche Schuhe werde ich benötigen und wird es elegante Anlässe geben?
Oh, liebe Victoria, Du hast mit Deiner neuen Heimat Wien wirklich das große Los gezogen. Du findest Kleidermacher, Modisten und Kurzwarenhändler im Überfluss. Was wird es in Windhuk geben?
Ich weiß ja nicht einmal, welche Art von Lebensmitteln es dort zu kaufen gibt oder was man dort isst. Zuerst hoffte ich, bei der Kolonialwarenhandlung eine Auskunft zu bekommen, du weißt ja, das Geschäft von den Brüdern Bürkle, wo Mama unseren Kaffee und Kakao kaufen lässt. Ich hatte die Handlung ja bisher noch nie betreten und stand daher lange vor der Auslage, bis ich genug Mut gefasst hatte. Es gab schon im Schaufenster eine verwirrende Menge von Produkten, von denen ich gar nicht wusste, dass sie überhaupt existierten. Es schien mir wie ein Kuriositätenkabinett.
Einer der Herren Bürkle[11] empfing mich sehr freundlich und erkannte als geschulter Geschäftsmann sofort meine Unentschlossenheit. Er führte mich durch die Räume und redete auf mich ein. Neben Palmbastmatten, wie mir Herr Bürkle erklärte, gab es bunte Schachteln mit Zigarren aus Kamerun sowie aus Neu-Guinea, Massoi- und Kolalikör, abgepackte Kokosnussbutter, Kaffee und Vanille. Es gab noch so viel mehr, aber es ging mit dem Sinken meines Mutes irgendwie in meinem Gedächtnis verloren. Warum? Herr Bürkle, es war Wilhelm Bürkle wie sich später herausstellte, erklärte mir stolz von seiner Reise nach Deutsch-Ostafrika, das nicht nur das größte, sondern auch das einträglichste Schutzgebiet sei. Dicht gefolgt von Kamerun und Togo. Bei meiner Nachfrage nach Deutsch-Südwestafrika und den Produkten von dort hat Herr Bürkle eine eher missbilligende Miene zur Schau getragen. Er erklärte mir, dass das Gebiet noch im Aufbau sei. Von dort käme zwar Gummi arabicum und Guano (Vogelexkremente!) in größeren Mengen, doch Deutsch-Ostafrika liefere beispielsweise Felle im Wert von fast 90.000 Mark, während Südwest kaum 25.000 Mark erziele. Nach einigem Suchen präsentierte mir Herr Bürkle ein paar Straußenfedern, die direkt aus Deutsch-Südwestafrika gekommen waren. Er erklärte mir, dass sich die Firma Bruns aus Berlin direkt in Hamburg die besten Stücke aussuchte für ihre Herstellung von Schmuckfedern und Fächern. Bis nach Heidelberg schaffte es nur die zweit- bis drittbeste Qualität.
Bei einem zweiten Versuch meinerseits, wollte ich wissen, was es denn in Südwest für die Siedler zu kaufen gäbe. Zum Glück rettete Herr Albert Bürkle am Punkt meiner größten Niedergeschlagenheit die Situation. Ich glaube, er hatte meine Frage verstanden. Er holte ein Buch, um mir die letzte Statistik der Einfuhren in die Schutzgebiete zu zeigen. Auf diese Weise erfuhr ich, dass von Mineralwasser, über sämtliche Arten von Konserven, Reis, Butter, Seife, Steinkohlen, Baumwoll- und sonstige Wollwaren sowie auch Bücher, Papier, Hüte und Schirme nach Deutsch-Südwestafrika gebracht würden. Einzig beim Punkt Kleidung gab es keine Einträge. Ich konnte mir also nun zusammenreimen, was ich an deutschen Waren dort bekommen kann, aber wie es scheint, hat Deutsch-Südwestafrika im Gegenzug nur Gummi und diverse Vogelerzeugnisse zu bieten. Nachdem ich mich artig für die Auskünfte bedankt hatte, ging ich sehr niedergeschlagen nach Hause.
Da war ich wohl besonders betrübt. Meine Ratlosigkeit dauerte sogar Andreas und er bot seine Hilfe an, mir einige Bücher von der Universität mitzubringen. Da die Engländer und Franzosen schon länger Erfahrungen mit ihrem Besitz in Afrika gesammelt hätten, will er für mich nach Erfahrungsberichten und Schilderungen aus weiblicher Sicht suchen. Er schlug mir auch vor, mich an die...