Das Zweibrüdermärchen
Es waren einmal zwei Brüder, die hatten die gleiche Mutter und den gleichen Vater gehabt, Anepu (Anubis) war der Name des älteren, Bata-u (Bytis) war der Name des jüngeren. Nun besaß Anepu ein Haus und besaß eine Frau. Der jüngere Bruder unterstand seiner Gewalt, wie das für einen Jüngeren Sitte ist. Er machte die Kleider, er ging hinter den Rindern auf das Feld, er bebaute das Land, er drosch das Getreide, er besorgte jede Feldarbeit. Siehe! Der jüngere Bruder war ein vorzüglicher Arbeiter, nicht gab es seinesgleichen im ganzen Lande, es war als wäre die Kraft jedes Gottes in ihm. Als nun viele Tage vergangen waren, da war der jüngere Bruder nach seiner täglichen Gewohnheit hinter seinen Rindern her. An jedem Abend kehrte er nach Hause zurück: dann war er beladen mit allen Kräutern des Feldes. Und wenn er vom Felde zurückkehrte, dann tat er Folgendes: Er legte die Kräuter nieder vor seinem älteren Bruder, der da saß mit seiner Frau. Er trank, er aß von den Broten, er ging in seinen Stall und bewachte seine Rinder.
Dann, wenn die Erde hell geworden war und der nächste Tag angebrochen war und die Brote gebacken waren, dann legte er sie hin vor seinen älteren Bruder. Er trug die Brote hinaus auf das Feld, er trieb seine Rinder an, um sie auf dem Felde fressen zu lassen. Er ging hinter seinen Rindern her, und sie sagten ihm: »An jenem Platz ist das Gras schön«. Er verstand alles, was sie sagten, und führte sie an den Platz der guten Kräuter, an den sie zu gehen wünschten. Die Rinder, die er antrieb, wurden sehr schön, äußerst zahlreich waren bei ihnen die Geburten.
Als nun die Zeit des Pflügens gekommen war, da sagte sein älterer Bruder zu ihm: »Wohlan, rüste uns das Gespann zum Pflügen. Denn die Felder sind aus dem Überschwemmungswasser herausgetreten, sie sind jetzt im richtigen Zustande, um beackert zu werden.« Ferner sagte er: »Gehe du mit Saatkorn auf das Feld, denn wir wollen morgen eifrig pflügen.« So sagte er, aber der jüngere Bruder besorgte alle Dinge, von denen ihm der ältere Bruder gesagt hatte, dass er sie besorgen solle.
Dann, als die Erde hell geworden war und der nächste Tag angebrochen war, da gingen sie mit ihrem Gespann auf das Feld. Sie pflügten fleißig, sie freuten sich sehr über ihre Arbeit, sie verließen ihre Arbeit nicht. Als nun viele Tage vergangen waren und sie sich auf dem Felde befanden, da hatten sie kein Saatkorn. Da schickte der ältere Bruder den jüngeren fort, indem er ihm sagte: »Eile dich, bringe uns Saatkorn aus unserem Wohnort.« Der jüngere Bruder fand die Frau seines älteren Bruders, wie sie da saß und ihr Haar machte. Er sagte ihr: »Stehe auf! Gib mir Saatkorn. Ich will auf das Feld eilen, denn mein älterer Bruder ließ mich laufen und sagte: Sei nicht faul!« Sie sagte ihm: »Gehe, öffne den Kasten, nimm du dir selbst was dir am Herzen liegt, damit nicht unterwegs meine Perücke verloren geht.« Der Jüngling ging in seinen Stall, er nahm einen großen Topf, er wollte viel Saatkorn nehmen, er belud sich mit Korn und Durra1 und kam mit ihnen heraus. Da sprach die Frau zu ihm: »Was für eine Last trägst du auf dem Nacken?« Er sagte ihr: »Drei Maß Korn, zwei Maß Durra, im Ganzen sind fünf Maß auf meinem Nacken.« Das sagte er ihr.
1Eine Getreideart
Da sagte sie ihm: »Große Kraft ist in dir, denn ich sehe täglich Beweise deiner Kraft.« Sie stand auf, sie war von dem Gedanken an ihn erfüllt und sagte ihm: »Wohlan! Wir wollen eine Stunde zusammen ruhen. Gewährst du mir meine Bitte, so will ich dir schöne Kleider machen.« Da wurde der Jüngling so wütend wie ein Panther des Südens, er zürnte wegen des bösen Vorschlages, den sie ihm gemacht hatte. Sie aber fürchtete sich sehr. Er sagte zu ihr und sprach: »Nun, wohlan! Du stehst zu mir in dem Verhältnis einer Mutter, und dein Gatte steht zu mir im Verhältnisse eines Vaters, denn er ist älter als ich und er lässt mich leben. Ach! Was für eine große Schlechtigkeit hast du mir gesagt! Wiederhole sie mir nicht noch einmal. Nun, ich werde es niemanden sagen, ich werde es keinen Menschen aus meinem Munde vernehmen lassen.«
Dann nahm er seine Last, ging auf das Feld und kam zu seinem älteren Bruder, sie waren fleißig an der Arbeit. Als aber der Abend herankam, da kehrte der ältere Bruder nach seinem Hause zurück, und der jüngere Bruder ging hinter seinen Rindern her und war beladen mit allen Dingen, die er vom Felde brachte. Er trieb seine Rinder vor sich her, damit sie sich in ihrem Stalle, der bei ihrem Wohnort war, zur Ruhe legen könnten. Siehe da! Die Frau des älteren Bruders fürchtete sich wegen des Vorschlages, den sie gemacht hatte. Sie nahm Fett und einen Lappen und richtete sich zu wie eine Frau, die von einem Übeltäter geschlagen worden ist. Sie wollte ihrem Gatten sagen: »Dein jüngerer Bruder hat mich geschlagen.«
Ihr Gatte kehrte am Abend zurück, wie das seine tägliche Gewohnheit war. Als er nach Hause kam, da fand er seine Frau wie sie dalag und sich krank stellte. Sie goss kein Wasser auf seine Hand, wie er das sonst gewohnt war, sie hatte kein Feuer angemacht, sein Haus lag im Dunkeln, sie lag schmutzig da. Ihr Gatte sagte ihr: »Wer sprach mit dir?« Da sagte sie: »Niemand sprach mit mir außer deinem jüngeren Bruder. Als er kam, um für dich Saatkorn zu holen, da fand er mich allein sitzend. Er sagte zu mir: >Wohlan! Wir wollen eine Stunde zusammen ruhen; ziehe deine Kleider aus!< So sprach er zu mir. Ich hörte nicht auf ihn und sagte: Bin ich nicht deine Mutter, denn dein älterer Bruder steht zu dir im Verhältnisse eines Vaters. So sprach ich zu ihm. Er erschrak, er schlug mich, damit ich es dir nicht anzeige. Wenn du ihn leben lässt, so werde ich sterben. Siehe! Wenn er am Abend kommt und wenn ich diesen bösen Vorschlag verkünde, dann wird er sich weiß zu waschen suchen.«
Der ältere Bruder wurde wütend wie ein Panther des Südens, er schärfte sein Messer, er nahm es in die Hand. Der ältere Bruder stellte sich hinter die Türe seines Stalles, um seinen jüngeren Bruder zu töten, wenn er am Abend käme, um seine Rinder in den Stall hinein zu lassen. Als nun die Sonne unterging, da belud sich der jüngere Bruder mit allerhand Kräutern der Felder, wie er das täglich zu tun gewohnt war, und dann ging er nach Hause. Als das erste Rind in den Stall trat, da sagte es zu seinem Hüter: »Passe auf! Dein älterer Bruder steht vor dir mit seinem Messer, um dich zu töten. Laufe vor ihm fort.« Er hörte die Worte seines ersten Rindes. Als das zweite Rind hinein trat, da sagte es dasselbe.
Da blickte er unter die Türe seines Stalles, er sah die Beine seines älteren Bruders, der stand hinter der Tür, und sein Messer war in seiner Hand. Er legte seine Last auf den Boden, er gab sich an das Laufen mit seinen Beinen. Sein älterer Bruder eilte hinter ihm her mit seinem Messer. Da beschwor der jüngere Bruder den Sonnengott Râ-Harmachis und sagte: »Oh du mein gnädiger Herr! Du bist es, der die Lüge der Wahrheit gegenüber klar legt.« Da hörte der Gott Râ alle seine Bitten. Der Gott Râ ließ ein großes Gewässer zwischen ihm und seinem älteren Bruder entstehen, und das war voll von Krokodilen. Der eine von ihnen stand auf der einen, der andere auf der andern Seite. Der ältere Bruder schlug zweimal mit seiner Hand, ohne den andern töten zu können. Das tat er. Der jüngere Bruder rief von seiner Seite her und sagte: »Bleibe stehen, bis die Erde hell wird. Wenn die Sonne aufgeht, dann werde ich mich vor ihr mit dir auseinandersetzen, um der Wahrheit den Sieg zu geben, denn ich werde bis in alle Ewigkeit nicht mehr mit dir zusammen sein, ich werde nicht mehr an dem Orte sein, an dem du bist. Ich werde in das Tal der Zedern gehen.«
Als nun die Erde hell wurde und der nächste Tag anbrach, da ging der Gott Râ-Harmachis auf und einer von ihnen sah den andern. Da sagte der Jüngling zu seinem älteren Bruder und sprach: »Was soll das bedeuten, dass du hinter mir her gehst, um mich hinterlistig zu töten? Du hast nicht gehört, was mein Mund zu sagen hatte und ich bin doch in der Tat dein jüngerer Bruder, denn du stehst zu mir in dem Verhältnisse eines Vaters und dein Weib steht zu mir in dem Verhältnis einer Mutter. Nicht wahr? Nun, als du mich schicktest, um uns Saatkorn zu bringen, da sagte dein Weib zu mir: Wohlan, wir wollen eine Stunde zusammen ruhen. Aber siehe! Diese Tatsache wurde dir in etwas anderes verdreht.« Er ließ seinen Bruder alles wissen, was sich zwischen ihm und dessen Weibe zugetragen hatte. Er schwor bei Râ-Harmachis und sagte: »Was sollte deine Absicht, mich hinterlistig zu töten, bedeuten? Da standst du mit deinem Messer an der Türe wegen jener elenden Person.«
Er nahm ein scharfes Messer, er schnitt sich sein männliches Glied ab, er warf es in das Wasser, der Zitterwels fraß es, er wurde ohnmächtig, es wurde ihm schlecht. Der ältere Bruder verfluchte sich selbst gar sehr, er stand laut weinend da, er konnte wegen der Krokodile nicht dahin gelangen, wo sein jüngerer Bruder war. Sein jüngerer Bruder rief zu ihm herüber und sagte: »Siehe! Du dachtest an etwas Schlechtes, du dachtest an nichts Gutes, auch nicht an etwas von dem, was ich für dich getan hatte. Ach! Gehe jetzt nach Hause und sieh nach deinen Rindern, denn ich werde nicht mehr an einem Orte weilen, an dem du bist. Ich werde in das Zederntal gehen. Aber das, was du für mich tun sollst, ist Folgendes: Du sollst kommen, um für mich zu sorgen, wenn du erfährst, dass mir etwas geschehen ist. Ich werde nämlich...