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Soldat, Kaufmann, Schwindler, Spion
Also, sind wir, oder sind wir nicht, siamo o non siamo?«, prahlte mein Großonkel Vili, als wir beide uns an jenem sommerlichen Spätnachmittag im Garten seines ausgedehnten Besitzes in Surrey schließlich hinsetzten.
»Sieh nur«, er zeigte auf die weite grüne Fläche. »Ist das nicht prachtvoll?«, fragte er, als hätte er persönlich den Nachmittagsspaziergang auf dem englischen Land erfunden. »Kurz vor Sonnenuntergang und wenige Minuten nach dem Tee erfasst es mich immer: ein Gefühl der Erfüllung, von Seligkeit fast. Weißt du, ich habe alles bekommen, was ich wollte. Nicht schlecht für einen Mann in den Neunzigern.« Ein arrogantes, selbstzufriedenes Strahlen lag auf seinem Gesicht.
Ich begann, von Alexandria zu sprechen, von vergangenen Zeiten und vergangenen Welten, vom Ende, als das Ende kam, von Monsieur Costa und Montefeltro und Aldo Kahn, von Lotte und Tante Flora und einem inzwischen so fernen Leben. Er fiel mir mit einer verächtlichen Handbewegung ins Wort, als wollte er einen üblen Geruch vertreiben. »Alles Unsinn. Ich lebe in der Gegenwart«, sagte er, beinahe verärgert über meine nostalgischen Erinnerungen. »Siamo o non siamo?«, fragte er, stand auf, um sich zu strecken, und zeigte mir dann die erste Eule des Abends.
Es war nie ganz klar, was man war oder nicht war, doch noch heute erinnert diese elliptische Redewendung alle Verwandten, selbst diejenigen, die kein Wort Italienisch mehr sprechen, an den großspurigen, tollkühnen, übertrieben selbstsicheren Soldaten, der im Ersten Weltkrieg aus einem italienischen Schützengraben gesprungen war und dann, versteckt hinter einem Baum, das Gewehr mit beiden Händen umklammernd, das ganze österreichisch-ungarische Reich umgemäht hätte, wären ihm die Patronen nicht ausgegangen. In dieser Redewendung drückte sich das aggressive Selbstbewusstsein eines Feldwebels aus, der Tag für Tag lauter Schwächlinge triezen muss. »Sind wir Manns genug oder nicht?«, schien er zu sagen. »Kommen wir voran oder nicht?«, »Taugen wir etwas oder nicht?« Es war seine Art, im Dunkeln zu pfeifen, Niederlagen mit einem Schulterzucken abzutun, sich wieder hochzurappeln und das Ganze als Sieg auszugeben. Und so mischte er sich in Schicksalsdinge ein, forderte stets mehr und gab alles als sein Verdienst aus, bis hin zum unvorhergesehenen Glanz seiner unseligsten Projekte. Überbeanspruchtes Glück verwechselte er mit Weitsicht, so wie er den gesunden Menschenverstand eines Gassenjungen fälschlicherweise für Mut hielt. Er besaß Mumm. Das wusste er, und damit brüstete er sich.
Unbeeindruckt von der schmachvollen Niederlage der Italiener in der Schlacht bei Caporetto im Jahre 1917, dachte Onkel Vili zeitlebens voller Stolz an seinen Dienst in der italienischen Armee, und auch damit brüstete er sich, in dem lebhaften florentinischen Tonfall, den er an den Schulen italienischer Jesuiten in Konstantinopel aufgeschnappt hatte. Wie die meisten jungen Juden, die gegen Ende des letzten Jahrhunderts in der Türkei geboren wurden, verachtete Vili alles, was mit osmanischer Kultur zu tun hatte; er dürstete nach dem Westen und wurde schließlich »Italiener«, wie es die meisten Juden in der Türkei machten: indem er behauptete, aus Livorno zu stammen, wo sich im sechzehnten Jahrhundert aus Spanien vertriebene Juden niedergelassen hatten. Passenderweise wurde in Livorno ein entfernter italienischer Verwandter ausgegraben, der den spanischen Namen Par-do-Roques trug - Vili war selbst ein halber Pardo-Roques -, woraufhin sämtliche noch existierenden »Vettern« in der Türkei sofort Italiener wurden. Natürlich waren sie allesamt glühende Nationalisten und Monarchisten.
Einen alexandrinischen Griechen, der erklärt hatte, die italienische Armee sei nie tapfer gewesen und alle italienischen Medaillen und Dekorationen änderten nichts daran, dass Vili noch immer ein türkischer Halunke sei, und ein jüdischer obendrein, forderte er sofort zum Duell. Onkel Vili war nicht deswegen entrüstet, weil jemand sein Jüdischsein angegriffen hatte - er selbst hätte das als Erster getan -, sondern weil er nicht gern daran erinnert werden wollte, auf welch obskuren Wegen viele Juden Italiener geworden waren. Die Waffen, die ihre Sekundanten ausgesucht hatten, waren so veraltet, dass keiner der beiden Duellanten damit umzugehen wusste. Niemand wurde verletzt, man entschuldigte sich, einer von ihnen kicherte sogar, und um den Geist der versöhnlichen Stimmung zu pflegen, schlug Vili vor, ein ruhiges Restaurant am Meer aufzusuchen, wo beide an diesem klaren alexandrinischen Junitag so herzhaft zu Mittag aßen wie seit Jahren nicht mehr. Als es Zeit wurde, die Rechnung zu begleichen, bestanden beide darauf zu zahlen, jeder beschwor seine Ehre und das Vergnügen, das ihm die Einladung bereitet hatte, und das Hin und Her wäre ewig so weitergegangen, hätte Onkel Vili nicht - wie ein Zauberer, der, wenn alles andere nicht wirkt, schließlich Magie einsetzen muss - seine elegante kleine Redewendung hervorgeholt, die in diesem Fall besagte: »Also, bin ich ein Ehrenmann oder nicht?« Der Grieche, als der noblere von beiden, gab nach.
Onkel Vili verstand es, den vagen, aber unverkennbaren Eindruck hervorzurufen, dass er aus gutem Hause kam, aus einer Familie, die so alt und vornehm war, dass man über derart unwichtigen Dingen wie Geburtsort, Nationalität oder Religion stand. Und mit dem Eindruck guter Herkunft verband sich zugleich der Eindruck von Reichtum - freilich immer mit der nebulösen Andeutung, dass dieser Reichtum dummerweise anderswo fest angelegt war, in Grund und Boden beispielsweise, ausländischem Boden, wovon niemand in der Familie besonders viel besaß, außer in Form von Blumentopferde. Doch das machte ihn kreditwürdig. Und darauf kam es für ihn an, denn er und die anderen männlichen Familienmitglieder verstanden es, mit nichts anderem Geld zu verdienen, zu borgen, zu verlieren und in Besitz einzuheiraten, als mit Kreditwürdigkeit.
Vornehmheit war für Vili so etwas wie eine zweite Natur, nicht weil er sie wirklich besaß oder gut imitierte oder sie mit der selbstverständlichen Lässigkeit verarmter Aristokraten an den Tag legte. Er war einfach überzeugt, dass er als jemand Besseres zur Welt gekommen war. Er hatte das imponierende Auftreten der Reichen, jenes distanzierte Lächeln, das in der Gesellschaft von Gleichen sofort herzlich wird. Er war aristokratisch in puncto Sparsamkeit, Politik und ausschweifendem Lebenswandel - schlechte Haltung störte ihn mehr als schlechter Geschmack, schlechter Geschmack mehr als Brutalität und schlechte Tischsitten mehr als schlechte Essgewohnheiten. Besonders verabscheute er die »Atavismen«, durch die Juden sich verrieten, zumal dann, wenn sie sich als Gojim gaben. Er verhöhnte alle angeheirateten Familienmitglieder und Bekannten, die typisch jüdisch aussahen, nicht, weil er selbst nicht auch so aussah oder weil er Juden hasste, sondern weil er wusste, wie sehr sie von anderen gehasst wurden. Es liegt an Juden wie ihnen, dass Juden wie wir gehasst werden. Als Vili einmal von einem frommen Juden, der auf seine jüdische Herkunft stolz war, zurechtgewiesen wurde, kullerte ihm seine Antwort von der Zunge wie ein Kirschkern, den er seit vierzig Jahren im Mund hin und her geschoben hatte: »Stolz worauf? Sind wir letzten Endes nicht allesamt Händler?«
Und auf den Handel verstand er sich am besten. Sogar den Faschismus verschacherte er, erst an die Briten in Ägypten und später, in italienischem Auftrag, in Europa. Er war dem Duce ebenso treu ergeben wie dem Papst. Seine alljährlichen Grußadressen an die Hitlerjugend fanden großen Beifall und führten notorisch zu Familienzwist. »Mischt euch nicht ein, ich weiß, was ich tue«, pflegte er zu sagen. Jahre später, als die Engländer drohten, alle erwachsenen Italiener in Alexandria zu internieren, stöberte Onkel Vili plötzlich in seinen Schränken und begann, alte Bescheinigungen vom Rabbinat in Konstantinopel zu verhökern, um seine Freunde vom britischen Konsulat darauf hinzuweisen, dass er als italienischer Jude kaum eine Gefahr für britische Interessen sein könne. Ob sie wollten, dass er für sie gegen die Italiener spioniere? Etwas Besseres hätten sich die Engländer nicht wünschen können.
Er zeigte so glänzende Leistungen, dass er nach dem Krieg mit einem Anwesen in Surrey belohnt wurde, wo er für den Rest seiner Tage unter dem angenommenen Namen Dr. H.?M. Spingarn in hochherrschaftlicher Armut lebte. Herbert Michael Spingarn war ein Engländer, den Vili als Kind in Konstantinopel kennengelernt und der zwei lebenslange Leidenschaften in ihm geweckt hatte: das levantinische Bedürfnis, allem Britischen nachzueifern, und die osmanische Verachtung für alles Britische. Onkel Vili, der seinen eindeutig jüdischen Namen gegen einen angelsächsischen eingetauscht hatte, konnte sein Erschrecken nicht ganz verbergen, als ich ihm erklärte, dass dieser Spingarn ebenfalls Jude gewesen sei. »Ja, ich erinnere mich an etwas in der Art«, sagte er unbestimmt. »Wir sind eben überall, nicht wahr? Kratz nur an der Oberfläche, und schon ist jeder ein Jude«, spottete der über achtzigjährige turkoitalienisch-anglophil-aristokratisiert-faschistische Jude, der seine Karriere in Wien und Berlin mit dem Vertrieb von türkischen Fezen begonnen hatte und es als alleiniger Auktionator von König Faruks Besitz beenden sollte. »Der ägyptische Sotheby, aber dennoch ein Händler«, fügte er hinzu und lehnte sich in seinem Sessel zurück, während wir eine Vogelschar...
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