Schweitzer Fachinformationen
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Fünf Wochen zuvor
Noch sieben Kilometer bis zum Wendepunkt am Kanzleramt. Und dann zurück. Die Spree glitzert, als trügen die gigantischen Edelstahlskulpturen im Fluss eine endlose Schleppe aus Pailletten. Am anderen Ufer dümpelt das Badeschiff. Von der Partymeile am Schleusenufer torkeln Druffis herbei, um sich irgendwo für ein Nickerchen an der Böschung fallen zu lassen. Die frühe Morgensonne treibt den Schweiß. Salzig läuft es zwischen seinen Beinen. Autsch. Peer drosselt sein ohnehin erbärmliches Tempo und müht sich, breitbeiniger zu traben. Das ist kein Brennen mehr, das ist Höllenfeuer, schon nach lächerlichen drei Kilometern, bei seinem ersten halbwegs ernsthaften Trainingslauf seit Monaten. Was ist nur aus ihm geworden, dem Polizeieuropameister? Das Brennen ist die Strafe für Faulheit, ein erster Test seines Willens und Zen-Übung gleichermaßen. Einfach wegatmen. Qualität kommt von Qual. Schmerz ist, wenn Schwäche den Körper verlässt. Früher hat er den Quatsch geglaubt. Mentaler Selbstbetrug ist die Grundlage für Topleistungen.
Ich liebe es, denkt Peer halbherzig, fühlt mühsam über seine wunden Schenkel hinweg und spürt in seine Waden. Prachtstücke. Wie umgekehrte Champagnerflaschen. Nicht austrainiert, aber immer noch sein ganzer Stolz.
Und jetzt, genau jetzt, ist es an der Zeit, der Welt zu beweisen, was in ihm und seinen Waden steckt, vor allem Koslowski. Das hat er sich heute Nacht überlegt. Wieder einmal schlaflos hat Peer das Video von 2014 geschaut, von seinem größten Erfolg, dem Sieg bei der Polizeieuropameisterschaft, beim dritten Mal sogar in Zeitlupe. Er hat das Gefühl von damals besucht: Arme hochreißen, der Beste sein, die Welt zu seinen geschundenen Füßen. Um kurz nach fünf hat er sich dann in die alten Klamotten gezwängt. Ausgerechnet die Kombi in Altrosa passte noch, ein Geschenk seiner adipösen Polizeikollegen, die Sportklamotten bevorzugt in XL einkaufen. Peer will raus aus seinem eigenen Gejammer. Jetzt sofort. Mit fünfunddreißig sieht er sich an einer Lebensweggabel: verfetten, verdummen und seelisch verwesen. Oder Attacke. Noch mal voll durchstarten. Zurück an die Spitze. Jetzt oder jetzt.
Ermitteln und Laufen, das sollte sein Leben sein. Und Ina. Bis sie mit diesem Yoga-Heini abgehauen ist. In der Pandemie hatte die Veranstaltungsmanagerin Ina kaum zu tun. Plötzlich hockten sie pausenlos zusammen, Ina wurde immer gereizter, epischer Streit wegen Socken. Als Peer sichergestellt hatte, dass nicht mal mehr eine einzige Socke jenseits ihrer natürlichen Habitate Schrank oder Wäschekorb zu finden war, kam aus dem Nichts ein: »Du ödest mich an.« Ermitteln und Laufen. Das fand Ina früher an Peer spannend, aber auf einmal langweilig. Drei Jahre war alles gut gewesen. Dachte Peer jedenfalls. Dann war Schluss, von einem Tag auf den anderen. Peer hat bis heute nicht verstanden, warum.
Ina ging, Koslowski kam, ruhmreicher Ermittler aus Leipzig, obwohl ein Jahr jünger als Peer, jetzt dynamischer Zampano in der ersten Mordkommission unter all den alten Säcken. Keine zwei Monate nach seiner Ankunft hat diese Ratte eiskalt ausgenutzt, dass Peer zum ersten Mal einen Berlin-Marathon ausließ in der festen Annahme, es laufe eh niemand schneller. Zack, neue Bestzeit. Peers magische zwei Stunden, neunundzwanzig Minuten und fünfundfünfzig Sekunden, mit denen er die Polizeirangliste bis in alle Ewigkeiten anzuführen gedachte, waren dahin.
Doch die neue Bestzeit hält nur bis zur Rückkehr des wahren Champions. Peer = Ali. Er kommt wieder, stärker, lässiger als je zuvor. Ja, er ist spät dran mit dem Training, nur noch fünf Wochen bis zum Berlin-Marathon, dafür sechs Kilogramm zu viel. Aber er ist ja kein Anfänger. Er schafft das.
Das Brennen zwischen den Oberschenkeln ist die erste große Prüfung. Kopf ausschalten. Meditativ auf den Asphalt vor seinen Füßen starren. Der Röhrenblick ist eine der drei Perspektiven des Läufers, ideal, um die Zeit zu vergessen. Nur Anfänger glotzen ständig auf die Laufuhr. Die zweite Perspektive ist der Lauerblick. Mit leicht erhobenem Kopf kontrolliert der Athlet aus den Augenwinkeln die Konkurrenz, stets bereit mitzugehen, wenn einer davonziehen will. Hier sind keine Rivalen. Nur die Hundelady im Morgenmantel, die Peer mit Mühe überholt. Und dann ist da noch der souveräne Weitblick. Der Körper spannt sich auf seine volle Länge, das Haupt cäsarenhaft erhoben, die Augen auf den Horizont gerichtet. Wissen, was man kann. Peer richtet sich auf, die Beine machen spielerisch Meter, sein Blick schießt weit nach vorn, bis zur Oberbaumbrücke.
Was ist das? Warum versammelt sich am frühen Sonntagmorgen ein Rudel Menschen oben am Geländer und starrt hinab? Ein Bündel scheint zwischen Brücke und Fluss zu baumeln.
Sieht nicht gut aus, denkt Peer.
Er zieht den Sprint an. Kopf runter. Röhrenblick. Mit mächtigen Sätzen, fast wie früher, hastet Peer der Brücke entgegen. Kein Zweifel, da hängt ein Mensch, mit einem Strick um den Hals. Schnaufend drosselt Peer sein Tempo und blickt empor. Wow, Ikarus 7. Die Schuhe sind gerade erst auf den Markt gekommen und schon Legende. Carbonfederplatten in der Sohle sorgen für einen Flummi-Effekt und damit angeblich für neue Bestzeiten. Kostenpunkt knapp dreihundert Euro. Der Mann versteht, also hat offenbar etwas vom Laufen verstanden.
Über dem baumelnden Körper spähen Gesichter zwischen Gittern und Fetzen von blauer Plane über das Geländer. Peer zwingt sich, die Treppenstufen gemächlich zu erklimmen. Atmung kontrollieren. Und fokussieren. Ein hechelnder, rotgesichtiger Gesetzeshüter in altrosa Laufklamotten könnte auf ein Respektsproblem stoßen.
Ein Dutzend Verstrahlter, die aussehen, als seien sie von der Loveparade übrig geblieben, drängeln um ein Baustellenzelt, das vom Gehsteig bis zum Geländer reicht.
Spuren sichern, durchfährt es Peer.
Er drückt das Kreuz durch.
»Polizei! Kriminalpolizei!«
Peer müht sich um einen schnarrenden Befehlston.
»Ich bin Arzt! Lassen Sie mich durch!«, entgegnet ein vorwitziger Partygänger mit tellergroßen Pupillen. Gelächter.
»Ich bin Brian! Und meine Frau ist auch Brian!«, grölt ein Tätowierter.
Vereinzeltes Prusten. Peer kämpft sich durch Plüsch und Latex und Leder und Plane. Sein Schweißgeruch verwebt sich mit den tausend Dünsten einer wilden Nacht.
Alle breit und überall Baustelle, denkt Peer. Das ist Berlin.
Endlich am Geländer. Das eine Ende des Stricks ist sauber am Handlauf verknotet. Das andere Ende hat sich ungesund tief in den Hals des armen Teufels geschnitten, der drei Meter tiefer in der Morgensonne baumelt. Suizid? Mieser Mord? Wie soll man das rausfinden, wenn ein Tatort mustergültig niedergetrampelt wird?
Peer hebt die Arme: »Alle mal bitte ein paar Schritte zurück.«
Die Meute bewegt sich kaum. Einige Smartphones werden in die Höhe gereckt. Wahrscheinlich geht sein Auftritt live auf Instagram.
»Hat jemand einen Krankenwagen gerufen?«, fragt Peer in die Kameras.
Eine Frau im Kunstpelz nickt. Peer reckt sich über das Geländer und greift nach dem Seil. Er würde es sich nie verzeihen, falls der Kerl noch lebte. Unmöglich, den Körper allein hochzuziehen. Weitere Hände packen zu, manche durchs Geländer. Bald liegt der Mann im Schutz der Plane auf dem Gehsteig, die teuren Laufschuhe noch an den Füßen: männlich, Anfang zwanzig, schäbig-schicke Klamotten, unschön verzerrtes Gesicht. Definitiv tot.
Unter den Augen der Schaulustigen kniet sich Peer neben den Kopf des Toten. Er inspiziert das Seil, das grafisch nicht uninteressante Muster am Hals hinterlassen hat. Merkwürdig. Die Hämatome knapp über der Schulter passen nicht zum Zugweg des Seils. Peer greift die linke Hand des Toten. Weisen die Abschürfungen auf einen Kampf hin? Und was bedeutet dieser kreisrunde dunkelblaue Fleck auf dem Unterarm direkt über der Laufuhr? Ein richtig schlechtes Tattoo?
»Berghain-Stempel«, murmelt ein junger Mann mit Magnum-Schnauz.
Peer kapiert. Offenbar war der arme Kerl im Nachtleben unterwegs, wurde dann erwürgt und schließlich auf seinen letzten kurzen Trip über das Brückengeländer geworfen. Das ist kein Suizid, sondern eine schlecht kaschierte Hinrichtung.
Ein spannender Fall für einen laufenden Kommissar. Wäre es. Wenn Peer zuständig wäre. Aber an diesem Wochenende hat die erste Mordkommission Bereitschaft, Brigade Koslowski. Verdammtes Pech.
Hinter Peer bricht Unruhe aus.
»Polizei! Bitte gehen Sie aus dem Weg!«
Da ragt auch schon eine ballonförmige Uniform über Peer empor. Der mopsige Schutzpolizist mustert ihn in seiner altrosa Laufmontur. Hinter ihm der Streifenwagen samt Kollege.
»Wir wissen die Mitarbeit engagierter Bürger zu schätzen«, sagt die Uniform. »Aber würden Sie sich bitte vom Tatort entfernen.«
Peer spannt beim Aufrichten unauffällig die Wade an. Muskuläre Autorität.
»LKA«, sagt er langsam, aber bestimmt. »Pedes, achte Mordkommission.«
Die Uniform ist nicht überzeugt. Das Altrosa irritiert ihn.
»Komme gerade vom Training für die Polizeimeisterschaften.«
Die Uniform grinst.
»Natürlich, unser Laufwunder. Hey, Ingo, guck mal, wen wir hier haben: den Europameister!«
Kollege Ingo will eigentlich die Schaulustigen abdrängen, aber der Europameister interessiert ihn mehr. Ingo ist schlanker, älter, hat das Sagen bei der Streife. Er mustert Peer, erkennt ihn, nickt respektvoll. Ruhm ist nicht immer lästig.
»Aber letztes Jahr haben Sie gegen Koslowski aus der Ersten verloren, nicht wahr?«, stellt Ingo fest.
Wund, wunder, denkt Peer.
Laut sagt er: »Letztes Jahr bin ich gar...
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