Schweitzer Fachinformationen
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»Mama .«
Sanft legt Peer seine Hand auf ihre Arme, die sie für einen Moment in den Schoß gelegt hat.
»Is' genug jetzt, Mama!«
»Lass mich!«, fährt ihn seine Mutter gut gelaunt an.
Sie befreit ihre Hände, streckt die Arme nach vorn, wirft sie dann hoch über den Kopf in den Hertha-blauen Himmel und juchzt: »La Ola!«
»Bitte, Mama .«
Mit einem entschuldigenden Lächeln nickt Peer in die amüsierten Gesichter ringsum. Männer in den besten Jahren und blau-weißen Trikots verfolgen jenes heitere Kammerspiel, das Mutter und Sohn seit dem Anpfiff in Block O.4 aufführen. Die alte Frau Pedes hat den Ehrgeiz, unbedingt eine La-Ola-Welle durchs weite Rund des Berliner Olympiastadions zu schicken. Die Resonanz bleibt mäßig.
Peer werden die Leibesübungen seiner Mutter langsam peinlich. Sein »Mama .« hat seit dem Anpfiff kontinuierlich an Schärfe gewonnen; inzwischen betont Peer nur noch die erste Silbe. Mehrfach hat er ihr das Opernglas gereicht in der Hoffnung, das Geschehen auf dem Rasen würde sie von ihrem La-Ola-Gehampel ablenken. Warum besitzt seine Mutter überhaupt diesen Handtaschenfeldstecher? In der Oper war sie noch nie. Ihr Opernhaus ist das Stadion, die Ticketpreise sind ja auch ähnlich. Früher, als Vater Pedes noch lebte, sind sie zu dritt zu Hertha BSC gegangen wie jede anständige Westberliner Familie.
»Wer hat denn jahrelang im Publikum die Stimmung für dich gemacht?«, fragt Veronika Pedes vorwurfsvoll.
Hat sie leider recht. Während Peer mit brennenden Schenkeln um Sekunden rannte, hat seine Mutter, die als Trainerin, Köchin, Zeugwartin, Freundin und eben Anklatscherin fungierte, die Zuschauer immer wieder zum Jubeln animiert, applaudierend, johlend, schmerzfrei. Egal, was das Publikum ruft, Lärm treibt tatsächlich an. Gut möglich, dass Peer manche seiner Siege nur Mamas konzertiertem Radau zu verdanken hat. Sie hat ihn durch den schwarzen Tunnel geklatscht, jene Todeszone, in der kein Sauerstoff mehr ins Hirn gelangt, weil die Beine alles wegsaugen.
»Das letzte Heimspiel der Saison«, doziert Mama, »und wir sind der zwölfte Mann.«
Mama startet den nächsten Versuch, die Zuschauer zur großen Welle zu animieren. Als ob sich irgendwer von einer fast Siebzigjährigen mitreißen ließe im größten Zweitligastadion der Welt.
»Wenn du ein echter Fan bist, dann bist du laut«, erklärt sie, als sie sich in den Schalensitz zurückfallen lässt.
Die beiden bierseligen Rotgesichter in der Reihe vor ihnen drehen sich synchron um, prosten Mama mit ihren fast leeren Plastikbechern zu und nicken.
»Richtig, gute Frau«, sagt der Fülligere. Und zu Peer gewandt: »So eine Mutter hätte ich auch gern.«
Peer nickt ergeben und legt den Arm um seine Mutter, die die liebevolle Fessel allerdings abschüttelt, um erneut aufzuspringen, die Arme nach oben zu werfen und »La Ola!« zu brüllen. Die beiden Vögel vor ihnen gucken sich kurz an, grinsen und machen tatsächlich mit. Drei von fast siebzigtausend. La Ola chico.
Das Spiel ist knapp dreißig Minuten alt. Einen flotten Halbmarathon später sitzen sie hoffentlich wieder in der S-Bahn nach Hause. Dann hat Peer mit dem obligatorischen Stadionbesuch die erste seiner beiden jährlichen Pflichtveranstaltungen mit Mama absolviert. Der andere unverhandelbare Termin droht schon in der Woche darauf: ihr Geburtstag, der in der Feinkost-Etage des KaDeWe begangen wird mit Schaumwein, Kanapees und Peer, der den Freundinnen seiner Mutter jedes Jahr aufs Neue wie ein Rassepony vorgeführt wird.
»Ina kommt doch auch, oder?«, hat seine Mutter schon ein Dutzend Mal gefragt.
Zu gern würde sie ihren einzigen Sohn mit einer Freundin präsentieren. Die gibt es allerdings nicht mehr. Hat seine Mutter die Trennung wirklich vergessen? Wird ihre Demenz schlimmer? Oder glaubt sie, durch fortwährendes Fragen eine ruinierte Beziehung wiederbeleben zu können? Auch wenn Ina in den letzten Monaten hart am »Lass uns Freunde sein« arbeitet, gibt es immer noch diesen Yoga-Heini, mit dem sie damals durchgebrannt ist. Eine Neuauflage sieht Peer da nun wirklich nicht, auch wenn er ein Verhandlungsangebot nicht kategorisch ablehnen würde.
Mutter Pedes trägt das Fan-Trikot eines Spielers namens Neuendorf, den sie einst »Zecke« nannten, weil er mal von einer gebissen wurde. Das Kunstfaserleibchen war ein Geburtstagsgeschenk von Peer und Papa Pedes zu Mamas Fünfzigstem. Und die Jubilarin hat damals das Hemd im feinen KaDeWe tatsächlich übergezogen. Eine gute Investition, denn Zecke leitet heute den Nachwuchsbereich der Hertha, das Leibchen ist also historisch wertvoll und zugleich aktuell.
»La Ola«, ruft Mama und guckt missbilligend auf ihre beiden Vordermänner, die ihre Wellenbewegungen wieder eingestellt haben.
Peer hält nicht viel von Fußball. Zehn, elf Kilometer Laufen in neunzig Minuten plus Pause, das ist ja wohl lächerlich. Früher, als Hertha BSC in der Bundesliga spielte, hatte man die Chance, wenigstens einmal im Jahr ordentlichen Fußball zu sehen, weil Spitzenclubs wie der FC Bayern, Borussia Dortmund oder Bayer Leverkusen ihre Künste zeigten.
Jetzt kickt die Hertha leistungsgerecht in der oberen Hälfte der zweiten Liga gegen Provinzclubs wie Elversberg oder Osnabrück und manchmal, wie heute, immerhin gegen eine Nostalgietruppe wie Kaiserslautern. Auf- und Absteiger stehen längst fest, Hertha BSC ist nicht dabei. Das Olympiastadion erzeugt zwar den Eindruck internationaler Klasse, aber die Realität ist trist. Der, haha, Big-City-Club dödelt trotz jahrzehntelanger Millioneninvestitionen im mittelsten Mittelmaß herum. Ein Verein wie Berlin: Gefühlte Größe trifft grausame Realität.
Aber um Fußball geht es hier ja nicht. Mama, die gerade zur nächsten Welle anhebt, genießt die vertraute Arena, in der Peer einst bei den deutschen Juniorenmeisterschaften über die blaue Tartanbahn jagte. Selig grölt sie vor dem Anpfiff die Vereinshymne mit, die natürlich Frank Zander komponiert hat. Sie genießt das teure, lauwarme Bier, das schon wieder alle ist. Und sie aalt sich in Wonneschauern, wenn sie eng an der Seite ihres großen Sohns inmitten der blau-weißen Menge treibt.
»La Ola!«
Inzwischen haben sich zehn, zwölf Fans mit Mutter Pedes solidarisiert und machen ebenfalls die Welle. Peer versucht ein mildes Lächeln. Mama geht es gut. Allein das zählt. Die alte Dame wird langsam tüdelig. Wer weiß, wie oft sie noch gemeinsam ins Stadion gehen.
»La Ola«, johlt Mama und wirft die Arme in den Frühsommerhimmel. Verblüfft registriert Peer, wie nun vier, fünf Dutzend Fans mitmachen. Die Welle breitet sich langsam nach links in die Blöcke aus, versackt dann aber.
»Gleich ham wer se«, berlinert Mama, geht tapfer in die Knie und wirft die Hände in die Luft. »La Ola .«
Und tatsächlich: Ringsum nehmen immer mehr Menschen den Rhythmus auf, brüllen »La Ola!« und werfen ebenfalls die Arme himmelwärts. Die Welle nimmt Fahrt auf. Offenbar kapieren die siebzigtausend, was da auf den billigen Plätzen vor sich geht. Diesmal ebbt die Woge erst am Ende der Kurve ab.
Noch mal: »La Ola!«
Fasziniert beobachtet Peer, wie diese Welle nun bis zur Ehrentribüne schwappt, wo sie abrupt bricht. Klar, die Prominenz ist sich zu fein, um für proletarische Freudenbekundungen aufzustehen. Pfiffe gellen.
Und noch mal: »La Ola!«
Die Welle läuft nun auf der ganzen Breite, von den obersten Rängen bis hinunter an den Spielfeldrand. Jetzt macht auch die Gegengerade mit, verhalten zwar, aber intensiv genug, um den Schwung bis in die andere Kurve zu tragen. Einige Sekunden später erheben sich die Fans auf der rechten Seite, nehmen Peer und seine Mutter mit, und die Welle geht gestärkt in die nächste Runde.
»La Ola!«, brüllt Mama selig.
Das Wunder ist perfekt. Die Welle schafft eine komplette Runde.
»Siehste!«
Gemeinsam werfen sie ihre Arme nach oben und genießen diesen einzigartigen Moment, wenn sich Zigtausende Individuen in einem einzigen, kollektiven Schwingen auflösen und vereinen. Und nur weil eine dickköpfige Frau unverdrossen an das Wunder glaubte. Manchmal muss einfach nur ein mutiger Mensch anfangen. Mama ist die Rosa Parks der Tribüne.
»Meine Mutter .«, ruft Peer zu den Umsitzenden und deutet stolz auf Mama. Alle nicken im wärmenden Bewusstsein, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Während Peers Blick dem Armemeer folgt, nimmt er aus dem Augenwinkel einen Schatten auf dem transparenten Zwischendach des Stadions wahr. Läuft da über dem L-Block jemand herum? Darf man das? Vielleicht nur ein großer Vogel. Oder La-Ola-Besoffenheit.
Während die Welle weiter schwappt und schwappt, starrt das füllige Rotgesicht vor Peer auf sein Smartphone, wo er parallel zum Spiel die Live-Übertragung auf irgendeinem Sportkanal verfolgt. Man könnte ja was verpassen.
»Ach du Scheiße .«, stammelt er.
Peer schaut auf das Display. Irgendwer scheint gegenüber auf der Ehrentribüne kollabiert zu sein; eine Frau daneben gestikuliert panisch.
»Noch mal zurück«, fordert Peer.
Der Verdatterte gehorcht wortlos. Robert Buchner ist zu erkennen, Aufsichtsratsmitglied bei der Hertha. Auf seinem weißen Hemd, genau dort, wo der erste Knopf geschlossen ist, scheint sich ein Fleck auszubreiten, während Buchner zusammensackt. Peer nimmt dem Besitzer das Gerät aus der Hand. Ist das Blut? Wurde Buchner von einem Projektil getroffen? Der Sender schneidet das Bild weg, bevor Gewissheit herrscht.
Peer schnappt sich Mamas Opernglas und fokussiert auf die Ehrentribüne. Während oben und unten die Welle schwappt,...
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