Schweitzer Fachinformationen
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Kaum ein Jahr nach dem Abend, an dem Ahmet seinen Sohn vor der Lüge warnte, stirbt Banu. Es ist vier Tage vor Bekirs 15. Geburtstag. Der 27. Januar 1981. Sie ist 59 Jahre alt, man hatte ihre Krankheit erst erkannt, als keine Heilung mehr möglich war, obwohl Ahmet alles daransetzte, ihr Leben zu retten, sie zu den besten Ärzten brachte und ein Vermögen ausgab, um ihr die kostspieligsten Behandlungen zu ermöglichen. Bekir weiß nicht, welches Leiden es genau war. »Etwas, das nur Frauen angeht!«, bescheidet man ihn barsch, wenn er vorsichtig nachfragt.
Doch er ist nicht dumm, er stellt sich taub und macht sich unsichtbar, hört und sieht aber alles. Er kann sich anschleichen, ohne einen Laut zu verursachen, lauscht an den dunklen Holztüren, die er ohne Knarzen einen Spalt öffnen kann. Versteckt sich hinter dem hohen Sofa und ignoriert den gewebten Stoff, der an seiner Haut scheuert, ignoriert auch den Staub, der Hustenreiz verursacht. Auch die vom Steinboden hinter dem Sofa aufsteigende Kälte macht ihm nichts aus, wenn er dort kauert, und auch nicht die Hitze des im Winter zusätzlich genutzten Kohleofens, wenn er sich wie versteinert in der großen Küche danebenstellt und niemand ihn zu bemerken scheint. Banu war an einem Tumor im Unterleib gestorben, es ging rasend schnell. Aus der fülligen, immer noch schönen Frau wurde innerhalb weniger Wochen ein knochiges Gespenst mit Augenringen und eingefallenen Wangen. Als Bekir sie das letzte Mal sah, war sie zu schwach, um zu sprechen, er sah ihren flehentlichen Blick, sah die Liebe darin. Er strich ihr das nun dünne Haar aus der Stirn und küsste sie sanft. Ihm fielen keine Worte ein.
Banu starb im Krankenhaus, Ahmet hielt ihre Hand.
Bekir sitzt in seinem Zimmer auf seinem weichen Bett mit den vielen gemusterten Kissen und beobachtet den Baum vor seinem Fenster. In heißen Auguststunden spendet er ihm Schatten und filtert das grelle Licht, nun im Winter scheint er ihm mit dieser gespeicherten Wärme und den im Wind flüsternden Ästen Trost zuzurufen. Bekir steht auf, haucht gegen die Scheibe und drückt seine Stirn gegen das beschlagene Glas. Es ist kalt. Der Abdruck, den seine warme Haut hinterlässt, verblasst schnell und verschwindet, als sei er nie dort gewesen. Bekir ist traurig, sicher, er weint, wenn andere in sein Zimmer kommen, über den Baumwollteppich aus Konya zu ihm schleichen und ihn tröstend umarmen wollen. Er tut dies mehr aus Pflichtbewusstsein denn aus Kummer - schließlich weiß er, was sich gehört, wenn die Mutter stirbt. Weiß, was die Menschen erwarten. Sie sind ja so leicht zu täuschen! Aber im Innersten bleibt er seltsam unberührt, als hätte der Schmerz keine Chance, ihn zu berühren. Aber er hing doch so sehr an seiner Mutter! Liebte sie über alles! Er hätte keine bessere, liebevollere haben können. Es macht ihm selbst Angst, doch nur kurz. Er merkt, dass er den Schmerz verschließen kann. Und ahnt, dass das gut für ihn ist. Aber nur für ihn.
Ahmet jedoch bricht es das Herz. Er ist 14 Jahre älter als Banu. Sie war immer da gewesen, 40 Jahre lang Sanftmut, Klugheit und das sanfteste Lächeln der Erde. Selbst im Streit verspritzte sie mit ihrer Zunge kein scharfes Gift - Ahmet wusste von einigen seiner Freunden, dass andere Ehefrauen diese besondere weibliche Gabe sehr wohl verfeinert hatten und sich ihrer mit zornesblitzenden Blicken bedienten. Auch wenn Banu ihm keine Kinder schenken konnte: Nie hätte er sie verlassen. Banu war sein Alles gewesen. Sein Leben. Seine Liebe.
Mit ihrem Tod weicht alles Licht aus der weitläufigen Wohnung an der Ecke der Dereboyu Caddesi. Es scheint, als habe Banu alle Farben mitgenommen: Der große seidene Teppich im Salon ist nun nicht mehr dunkelblau und rot und safrangelb gemustert, sondern grau. Die vielen Fotos, die auf dem Klavier und dem Buffet stehen, offenbaren, was sie wirklich zeigen: längst verstorbene Menschen, längst vergangene Ereignisse. Die kleinen Figuren, Räuchergefäße, silbernen Dosen und gemusterten Vasen, die Banu sammelte und überall in der Wohnung verteilte, wirken wie überflüssiger Nippes. Der schmale Diwan ist ebenso verwaist wie das große Sofa. Der Turbanhalter an der Wand zeigt, was er ist: nutzlos. Aus dem aufwendig geschnitzten und mit Perlmutteinlagen verzierten Couchtisch ist ein spitzzahniges Monstrum geworden. Selbst die Scheinwerfer der Bosporus-Dampfer, deren fernes, mildes Licht abends seinen Weg durch die Vorhänge findet, schimmern unheilvoll, ihr Hupen klingt wie Wehklagen.
Wenn Bekir von der Schule nach Hause kommt, wartet nur noch Alina, das krumme Dienstmädchen. Keine Hände mehr, die ihm durch das Haar wuscheln, niemand mehr, dem er seine kleinen Schüler-Kümmernisse schildern kann oder seine lustigen Einfälle, die die ganze Klasse zum Lachen brachten; kein verständnisvolles Nicken, kein Scherzen mehr. Stattdessen Stille und eine namenlose Leere. Ahmet, der nun in Rente ist, ruft ihn abends nicht mehr zu sich in sein nach Tabak riechendes Arbeitszimmer, jenen kleinen, geschützten Raum, diese Keimzelle von Vater und Sohn, von Meister und Schüler. Ahmet ist um Jahre gealtert, er geht nicht mehr aus, empfängt keinen Besuch. Er ist nicht mehr derselbe.
Bekir muss erkennen, dass dieser stolze, kluge Herr ohne seine Frau plötzlich nichts ist als ein gebeugter, schwacher, sprachloser Mann, der seinem Sohn keine Stütze und kein Ratgeber mehr ist. Bekir ist enttäuscht, er verehrt und liebt seinen Vater und weiß nicht, was er tun soll - kann denn ein trauerndes Kind einem trauernden Vater helfen? Der Junge versteht noch nichts von der Liebe zwischen Mann und Frau, schon gar nicht von dieser seltenen Liebe, die zwei Menschen so sehr zu einem Einzigen macht, dass der eine ohne den anderen verloren ist, nur noch ein Schatten seines Ichs bleibt - nicht mehr vollständig, eine unnütze Hälfte. Ahmet weiß, dass er versagt, doch er findet keine Kraft mehr; der alte Mann weint jeden Abend, wenn ihn niemand mehr sieht.
Stumm nehmen die beiden nun in der Küche und nicht mehr wie früher im Esszimmer an dem polierten, edlen Holztisch ihr Abendessen ein. Es sind Mahlzeiten, die Alina ihnen bereitet hat und die nicht recht schmecken. Danach zieht sich jeder zurück. Ahmet schließt die Tür seines Zimmerchens hinter sich zu; niemand weiß, was er dort tut, was er denkt oder ordnet. Wenn Bekir sich nicht heimlich davonschleicht, um seine Freunde zu treffen, sitzt er verloren im Wohnzimmer in einem grünen, samtenen Sessel und sieht auf einem kleinen Gerät fern oder legt sich auf sein Bett, schaut auf die niemals ruhenden Blätter der Linde vor seinem Fenster und träumt diffus von etwas Neuem, von dem er keine genaue Vorstellung hat.
Das Fundament seiner Existenz wankt unmerklich. In seinem Leben ist das Licht ausgegangen. Es ist nicht das erste, doch das ahnt er noch nicht.
Bekir lebt bald sein eigenes Leben. Seine neuen Freunde sind nicht die, die sich seine Mutter für ihn gewünscht hätte. Obwohl er selbst aus gutem Hause kommt, schart er Jungs aus Schichten um sich, die seine Eltern verachten. Bauernsöhne von Zuwanderern aus Ostanatolien, die meisten kaum des Schreibens mächtig, mit schlechten Umgangsformen, manche roh. Der Umgang tut der namenlosen Wut gut, die in ihm schlummert. Nach der Schule lungert er mit ihnen an den Ecken des Viertels oder am großen Basar herum, sie rauchen und schauen frech den Mädchen hinterher.
Aber Bekir hat etwas an sich, das den Frauen gefällt. Seine grünen Chamäleon-Augen unter dunklen Locken können herzerweichend treu blicken, sein Lächeln ist von einnehmender Herzlichkeit, immer hat er ein Kompliment auf den schön geformten Lippen. Nicht selten werden ihm sogar unter Kopftüchern verschämte Blicke zugeworfen. Das merkt er genau. Auch seine Mutter war eine Frau gewesen. Er verfehlte seine Wirkung auf sie nie.
Bekir braucht Geld, er möchte sich Zigaretten kaufen, angesagte Klamotten tragen und seinen Freunden imponieren, indem er sie einlädt. Seinen Vater fragt er nicht - der ist ganz in sich versunken, wird seinem Sohn immer ferner, nimmt in Bekirs Augen nicht teil am Leben des Halbwüchsigen. Bekir erkundigt sich bei Händlern im großen Basar, ob er ihnen gegen Entgelt als Verkaufsgehilfe oder Bote behilflich sein könne - gerne engagieren sie ihn, er hat eine einnehmende Art, kommt bei Kunden gut an.
Doch es dauert nicht lange, und im Basar wird über ihn geflüstert: Es scheint ein offenes Geheimnis zu sein, dass Bekir, dieser gut erzogene Junge und heitere Helfer, ein Dieb geworden sein muss. Obwohl es gegen die Ehre eines jeden Laufburschen verstößt, der dort arbeitet, scheut Bekir sich anscheinend nicht, ab und zu in den Läden oder bei Botengängen Sachen verschwinden zu lassen. Immer wieder fehlt etwas, wenn er den Kunden erworbene Gegenstände bringen oder sie von einem Ladenbesitzer zum nächsten übermitteln soll. Nicht jedes Mal, aber doch regelmäßig. Wird Bekir gefragt, wo denn das seidene Tuch aus der Lieferung geblieben sei, der schmale Armreif...
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