Schweitzer Fachinformationen
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Im Würfel, Osten
Ich lebe im Würfel. Ich schreibe auf seine glatten Betonmauern, so wie es gerade geht: anfangs mit den Fingernägeln, dann mit einem Bleistift, den ich von den Wärterinnen bekommen habe.
Licht scheint hinein durch ein kleines Fenster aus Glasbausteinen, hoch über der Ostwand gelegen, dort, wo nur die vielbeinigen Krabbler hingelangen, die ebenfalls hier leben. Ich mag besonders die Spinnen und Ameisen, die ihre jeweiligen Herrschaftsgebiete für sich beanspruchen und es ansonsten hinbekommen, einander aus dem Weg zu gehen, in unserem gemeinsamen Neun-Quadratmeter-Universum. Das Licht einer jenseitigen Welt mit Sonne, Mond und Sternen - vielleicht sind es aber nur Leuchtstoffröhren . da bin ich mir nicht sicher - strömt durch das Fenster herein, in einem Prisma, das mit roten, gelben, blauen und violetten Mustern an der Wand landet. Die Schatten von Ästen und Sträuchern, vorbeiziehenden Tieren, bewaffneten Wachen oder vielleicht auch anderen Gefangenen gleiten manchmal durch das Licht hindurch.
Einmal habe ich versucht, das Fenster zu erreichen. Ich stapelte alles, was ich besaß, auf dem Bett übereinander - einen Nachttisch, die kleine Box mit meinen Toilettensachen und drei Bücher, die die Wärterinnen mir gegeben hatten (Schindlers Liste, Die Glücksliste sowie Dankbarkeit ist die Antwort). Ich kletterte auf den Stapel hinauf und streckte mich so hoch, wie ich nur konnte, erreichte aber nur ein Spinnennetz.
Als meine Nägel noch fest waren und ich mehr wog als heute, versuchte ich, die verstreichende Zeit so festzuhalten, wie es Gefangene tun: einen Strich an der Wand für jeden Tag, zusammengefasst in Fünfergruppen. Aber bald erkannte ich, dass die hellen und dunklen Phasen im Würfel nicht mit denen der Außenwelt übereinstimmten. Diese Erkenntnis war eine Erleichterung, denn der Anspruch, mit dem Leben jenseits dieser Mauern Schritt zu halten, war mir zur Last geworden. Als ich meinen selbst auferlegten Kalender aufgab, verstand ich, dass Zeit nichts Reales ist - durch die Abwesenheit von Hoffnung oder Erwartung besitzt sie keine innere Logik. Der Würfel ist zeitlos. Stattdessen enthält er eine gähnende Leere aus etwas, das nicht benannt ist, ohne Zukunft, Gegenwart oder Vergangenheit. Und ich kann sie mit dem ausfüllen, was mir innewohnt: mit dem Leben, an das ich mich erinnere, oder jenem, das ich mir ausdenke.
Gelegentlich kommen Besucher zu mir. Mit Körper und Sprache tragen sie das Klima der Außenwelt herein, von dort, wo Jahreszeiten und Wetter sich ändern. Wo Autos und Flugzeuge, Boote und Fahrräder Menschen von Ort zu Ort befördern. Wo sich Gruppen versammeln, um zusammen zu spielen, zu essen, zu weinen oder in den Krieg zu ziehen. Fast alle meine Besucher sind Weiße. Obwohl ich nicht weiß, ob es Tag oder Nacht ist, kann ich an ihnen leicht die Jahreszeit ablesen. Im Frühling und im Sommer glüht die Sonne auf ihrer Haut, wenn sie den Würfel betreten. Sie atmen leichter und führen den Hauch der Blüten mit sich. Im Winter sind sie blass und matt, haben dunkle Augen.
Früher, als meine Haare noch nicht grau waren, kamen noch mehr Besucher. Es waren hauptsächlich Geschäftsleute aus der Gefängnisindustrie (ja, so etwas gibt es tatsächlich), die den Würfel auskundschafteten. Angesichts dieser elegant gekleideten Voyeure fühlte ich mich innerlich immer hohl. Reporter und Menschenrechtsaktivisten kommen weiterhin, wenn auch nicht mehr so oft wie früher. Nachdem Lena und die Frau aus dem Westen da gewesen waren, bekam ich eine Weile gar keinen Besuch mehr.
Die Frau aus dem Westen, die etwa Anfang dreißig war, kam für ein Interview. Die Wärterin erlaubte mir, auf dem Bett zu sitzen, normalerweise wurde ich an der Wand festgebunden. Ich weiß nicht mehr, ob die Frau Reporterin oder Menschenrechtsaktivistin war. Vielleicht war sie Schriftstellerin. Ich fand es angenehm, dass sie eine Dolmetscherin mitgebracht hatte, eine junge Palästinenserin aus Nazareth. Einige Besucher gaben sich überhaupt keine Mühe und erwarteten von mir, Englisch zu sprechen. Ich kann natürlich Englisch, aber es kostet mich große Mühe, und außerdem möchte ich ihnen nicht zu sehr entgegenkommen.
Sie war an meinem Leben in Kuwait interessiert und wollte mit mir über meine »Sexualität« sprechen. Alle wollen die Geschichte meiner Muschi hören. Sie haben ihre vorgefasste Meinung, drehen sich die Worte so hin, wie es ihnen passt. Sie wollte wissen, ob es stimmt, dass ich Prostituierte war.
»Sie denken, Prostitution hat etwas mit Sexualität zu tun?«, fragte ich.
Ein flüchtiger Blick der Verwirrung huschte über ihr Gesicht, dann antwortete sie: »Nein, natürlich nicht. Wechseln wir das Thema.«
Sie war groß. Ihr Haar war braun, lose am Hinterkopf zusammengebunden. Sie trug Jeans und eine einfache cremefarbene Bluse mit einer Jacke darüber und bequeme schwarze Schuhe. Kein Make-up. Ich mochte sie nicht. Ich mochte die Dolmetscherin, die wie ich klein und ein dunkler Typ war. Sie trug rote Converse-Schuhe mit vierzehn schwarzen Kugelschreiberpunkten auf dem weißen Gummiteil. Erst ein Punkt, dann eine Gruppe aus neun Punkten, dann eine Gruppe aus vier Punkten: 194. Die 194-Methode war ein Code, mit dem wir uns der israelischen Überwachung entzogen. Aus jedem ersten, neunten und vierten Wort setzten wir uns geheime Botschaften zusammen. Das war einfach und effektiv. Darum wusste ich auch, dass sie mehr war als nur eine Dolmetscherin. Sie hieß Lena, daran erinnere ich mich.
Zuerst war ich verwirrt. Denn die 194-Methode funktioniert nur mit schriftlichen Nachrichten. Man kann ja nicht gleichzeitig zählen, zuhören, übersetzen und sprechen. Mit einem Mal fiel mir auf, dass Lena während des Übersetzens an ihren Stift tippte, wenn bestimmte Wörter fielen. Sie musste den Moment erkannt haben, als ich dahinterkam, denn plötzlich lächelte sie dezent. Die Wörter lauteten Mund, Papier, Notizblock, Essen und sollten zusammengenommen wohl bedeuten: »Iss den Zettel auf.«
Die Interviewerin schaute nach unten, ganz so, als sei sie sich nicht mehr sicher, ob sie die nächste Frage wirklich stellen sollte. »Worüber möchten Sie reden?«, wollte sie dann von mir wissen.
An jenem Tag wanderten meine Tagträume zurück zu besseren Zeiten, zu den Stränden, Wüsten und Einkaufszentren von Kuwait.
»Zeit-o-zaatar«, erwiderte ich.
Die Frau fragte Lena: »Ist das dieser palästinensische Brotdip?«
Lena nickte, und die Frau machte sich ein paar Notizen. Ich war mir aber sicher, dass sie sich nicht für meine Geschichte interessierte. Ich erzählte sie trotzdem.
»Als wir noch in Kuwait lebten, wurden die Abschlussnoten der Oberschulen immer in der Zeitung veröffentlicht. Die Palästinenser machten jedes Jahr den Großteil der Top-Ten-Absolventen aus. Als die besten fünf einmal allesamt Palästinenser waren, sorgten sich die Kuwaiter ganz besonders. Bald ging das Gerücht, die Palästinenser wären so schlau, weil sie so viel zeit-o-zaatar aßen. Und so wurde das ganze Land von einer zeit-o-zaatar-Welle heimgesucht. Die Geschäfte kamen gar nicht nach, so groß war der Bedarf«, berichtete ich lachend.
Die Frau aus dem Westen rutschte auf ihrem Stuhl herum, während sie Lena beim Übersetzen zuhörte. Ich ignorierte ihre wachsende Ungeduld. »Ich wusste, dass das nicht stimmte, denn ich aß viel zaatar und war nie gut in der Schule. In der neunten Klasse blieb ich sitzen, weil ich sowohl in Religion als auch in Mathematik durchfiel. Im selben Jahr bekam mein Bruder Jehad die Gelegenheit, die vierte Klasse zu überspringen.« Obwohl damals glücklichere Zeiten herrschten, ist meine Erinnerung von Traurigkeit durchzogen. Ich würde gern mit meinem jüngeren Ich sprechen, es von seinem Wert und seinem Verstand überzeugen. Von seiner Lernfähigkeit. Vor allem aber möchte ich, dass es daran glaubt, dass es nicht dumm ist, so wie alle es ihm einredeten.
Die Frau aus dem Westen versuchte, mich zu unterbrechen, aber ich redete einfach weiter. »Eine Zeit lang strengte ich mich sehr an und ließ mir von meinem kleinen Bruder Nachhilfeunterricht geben. Aber wenn die Schule fest daran glaubt, dass du dumm bist, kannst du dich noch so sehr anstrengen.«
»Ihr Bruder . Ich habe gelesen, dass er .«
Ich ließ sie nicht ausreden. »Mein Bruder ist genial«, verkündete ich. Sie blickte auf ihren Notizblock. Ich wusste, dass sie sich nicht für meine Kindheitsgeschichten interessierte, weil sie sich überhaupt keine Notizen machte.
»Es ist mir egal, was Sie über meinen Bruder gelesen haben, aber ich kann Ihnen versichern, dass Jehad ein sanfter und verletzlicher Mensch war«, sagte ich. »Als er auf die Mittelschule ging, bekam ich mit, dass er von zwei Jungen schikaniert wurde. Also sammelte ich meine Freundinnen ein. Zusammen warteten wir vor dem Schultor auf sie und verpassten ihnen eine Abreibung. Danach bewunderte mich Jehad umso mehr. Einmal, es war Sommer, da .«
Die Frau aus dem Westen hob die Hand. Sie sah auf ihren Notizblock hinab und legte die Hände über die vorformulierten Fragen. Dann atmete sie tief ein und blinzelte übertrieben langsam. Es sah aus, als würde sie durch die Augenlider atmen. »Ich habe irgendwo gelesen, dass Sie Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurden, und zwar an dem Abend, als Saddam Hussein in Kuwait einmarschierte.«
Ich hob eine Augenbraue. Das schien sie zu verunsichern. In meinem Augenwinkel nahm ich Lenas unmerkliches Lächeln wahr.
Die Frau fuhr fort: »Ich kann mir vorstellen,...
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