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Über das größte Missverständnis beim Kinderhaben
- SPIEGEL-Bestseller
»Kannst du nicht mal . Musst du immer . Ich habe dir doch schon zehnmal gesagt .« Was bringt uns eigentlich dazu, mit Kindern umzugehen, wie wir es mit Erwachsenen nie tun würden? Ist Elternsein ein ewiges Ziehen und Zerren, Maßregeln und Belohnen, Schimpfen und Fordern? Läuft nicht grundlegend etwas falsch in der Beziehung zwischen großen und kleinen Menschen? Viele Debatten, die wir rund um Kinder führen, hören dort auf, wo Ruth Abraham mir ihrem Buch anfängt. Mit radikaler Ehrlichkeit hält sie uns einen Spiegel vor und deckt mit klugen Beobachtungen auf, wie inkonsequent wir darin sind, unsere eigene Rolle zu hinterfragen. Zugleich zeigt sie, wie leicht es sich Gesellschaften machen, die Elternschaft zur Privatsache erklären. Abrahams Plädoyer bricht eine Lanze für unsere Kinder, denkt das Zusammenleben mit ihnen neu und leistet damit einen wesentlichen pädagogischen Beitrag. Sie zeigt, dass wir für ein besseres Familienleben, für eine fairere Gesellschaft gar nicht anders können, als Erziehung hinter uns zu lassen.
Erziehung
»Verfluchte Scheiße!«, schreie ich auf. Mein Sohn erschrickt und fängt an zu weinen. Er lässt die kleinen Papierstreifen fallen, die von seinen Kleinkinderhänden klebrig geworden sind. Ich atme durch und versuche mich zu beruhigen. Mein Sohn, damals etwa vier Jahre alt, hat gerade einen Zwanzigeuroschein durchgeschnitten. Wir haben zu diesem Zeitpunkt jeden Montag unser letztes Kleingeld zusammengelegt, um sicherzustellen, dass wir durch die Woche kamen - mein damaliger Mann war arbeitslos, ich Studentin, wir hatten zwei Kinder. Zwanzig Euro, will ich damit sagen, waren viel. In diesem Fall waren sie für die kleine Schwester bestimmt, deren Geburtstag bevorstand.
Atmen, nicht das Kind angreifen. Ich verlasse den Raum. Mir laufen die Tränen, wie ich erschrocken bemerkte. Die Müdigkeit und, was ich damals noch nicht wusste, das Leben in einer schrecklichen Beziehung kosten mich jeden Nerv. Wie verdammt rücksichtslos kann ein Kind sein, denke ich, während ich durch die Küche wandere. Ich höre die unterdrückten Schluchzer meines Sohnes aus dem Schlafzimmer und weiß, dass ich ihn nicht alleinlassen kann. Atmen. Langsam zurückgehen. Tränen trocknen. Rücken stramm.
»Warum hast du das denn gemacht?!«, frage ich, der Vorwurf steht noch deutlich in meiner Stimme. Mein Sohn hört auf zu weinen und erzählt mir, dass er den Glitzerstreifen auf der Banknote brauche. Er wolle damit sein Geschenk für die kleine Schwester dekorieren. Offensichtlich ist das Kind nicht egoistisch, im Gegenteil. Meine Wut verfliegt, als hätte jemand ein Fenster geöffnet. Wie kam ich eigentlich darauf, dass mein Kind, mein vierjähriges Kind, egoistisch ist? Meine Wut war komplett auf Sand gebaut gewesen. Auf der Annahme, dass mein Kind sich nicht sozial verhalten kann, wenn es einen Geldschein zerschneidet.
Willkommen in der Welt der Erziehung. Sie operiert mit der Annahme, dass Kinder nicht sozial, zugewandt und kooperativ auf die Welt kommen. Woran wir das merken? An Unterstellungen wie meiner gegenüber meinem kleinen Kind. An Ideen wie »Dann lernen sie es aber nie« oder anderen Sätzen, mit denen Erwachsene Maßnahmen rechtfertigen, die das Kind zu einem bestimmten Verhalten zwingen sollen. Dass wir Kinder so sehen, hat meines Erachtens eine tiefe Tradition im deutschsprachigen Raum. Daran hat historisch gesehen nicht zuletzt die Kirche mit ihrer Annahme, jeder Mensch sei in Sünde geboren, ihren Anteil. Aber belassen wir es bei diesen täglich zu beobachtenden Unterstellungen: »Der tanzt dir aber ganz schön auf der Nase rum«, »Kinder brauchen Grenzen«, »Sie muss aber auch mal Rücksicht nehmen lernen«. Diesen Forderungen liegen verschiedenste Fehlannahmen zugrunde wie die, dass Kinder eben von Grund auf böse seien, verschlagen und unsozial. Dieses Urteil ist so normalisiert, dass wir, anders als bei jeder anderen Bevölkerungsgruppe, noch immer öffentlich ohne jeden Widerspruch Witze auf Kosten von Kindern machen können. Und »Kinder hassen« ist eine komplett gesellschaftsfähige Einstellung.
Diese Diskriminierung von Kindern, Adultismus genannt, wird von Erziehung befeuert. Erziehung ist die Maßnahme, die das unsoziale tyrannische Kind endlich sozial machen soll, endlich zu einem richtigen Menschen. Da wir adultistisch auf Kinder schauen, fällt es uns schwer, zu sehen, wie unfassbar abwertend dieser Blick auf einen anderen Menschen ist - weil er unterstellt, dass dieser Mensch nicht in Ordnung ist, wie er*sie ist.
Die Grundidee jeder Erziehung ist, dass das Kind es anders machen soll. Sie ist das gezielte Einwirken auf einen jungen Menschen zum Zwecke einer Veränderung. Egal, wie hehr mein Ziel ist - und ich möchte unterstellen, dass die meisten Menschen gute Ziele für ihre Kinder haben -, würdigt sie das, was dieser Mensch schon ist, fundamental herab. Gleichzeitig überschätzt Erziehung ihre eigene Wirkkraft. Schließlich ist gut erforscht, dass Geschwister trotz ähnlicher Erlebnisse extrem unterschiedliche Dinge aus pädagogischen Maßnahmen ihrer Eltern schließen, egal, wie diese Maßnahmen aussehen.1 Dafür, dass Erziehung nicht funktioniert, also nicht den Output hat, den ihre Methoden versprechen, sind wir ziemlich überzeugt von ihr.
Erziehung, so wird nun gern argumentiert, ist ja aber nicht nur schwarze Pädagogik. Sie ist doch alles, was man mit Kindern macht, oder? Frei nach dem Motto »Man kann nicht nicht erziehen«, ist es doch unmöglich, ein Kind nicht zu beeinflussen? Dieses Argument begegnet mir häufig, vor allem bei Pädagog*innen. Natürlich, wenn wir den Begriff Erziehung so lange verwässern, bis er nichts weiter als »Einfluss« bedeutet, dann können wir beides synonym benutzen. Ich glaube und sehe aber in der Praxis, dass uns durchaus bewusst ist, dass mit Beziehungen eben nicht nur Einfluss einhergeht, also das zufällige Einwirken auf andere, sondern gezielter Einfluss. Wenn wir in den Grunddefinitionen der Soziologie bleiben, ist der gezielte Einfluss auf andere Manipulation. Manipulation ist eine Unterkategorie von Gewalt. Und nein, das ist nicht angenehm. Das bedeutet nämlich, dass nicht die Art der Erziehung das Problem ist, sondern die Grundprämisse der Erziehung: Ihre Absicht, junge Menschen zu verändern, ist gewaltvoll.
Das wissen die meisten Menschen auch, was daran deutlich wird, dass Erziehungshandeln zwischen Erwachsenen als massiv abwertend wahrgenommen wird. »Ich bin doch kein Kleinkind«, sagte mir neulich jemand empört, als ich deutliche Grenzen zog und ankündigte, die Gesprächssituation zu verlassen, weil ich Tonfall und Inhalt der Worte meines Gegenübers als respektlos empfand, meinen Widerstand mit Erziehung verwechselnd.
Wir wissen sehr wohl auch im alltäglichen Sprachgebrauch um den feinen, aber wichtigen Unterschied zwischen Einfluss und Erziehung. Wir kennen den Unterschied zwischen der Wahrnehmung des Gegenübers als vollständigen Menschen und seiner Herabsetzung. Uns ist der Unterschied in Haltung und Sprache zwischen Erziehung und Nichterziehung bewusst. Wir entscheiden uns nur, ihn bei Kindern zu ignorieren.
Die Liste der doppelten Moral hinsichtlich dessen, was wir mit Kindern tun und für richtig halten, und dem, was zwischen Erwachsenen als abwertend und gewaltvoll gilt, ist endlos: Schimpfen ist als korrigierende Maßnahme zum Beispiel bei Kindern noch immer weitestgehend verbreitet, während es zwischen Erwachsenen deutlicher als verbale Gewalt wahrgenommen wird. Oder unterbrechen, korrigieren und belächeln. Alle diese Verhaltensweisen und Sprechakte fallen zwischen Erwachsenen klar in die Kategorie von verbaler und psychischer Gewalt. Gegenüber Kindern sind sie so verbreitet, dass sie uns nicht weiter auffallen. Sie werden normalerweise begrüßt, oft sogar erwartet. Das ist kein Problem der Methode. Es geht nicht um den Tonfall, in dem wir dem Kind ein Ultimatum stellen, oder die Art, wie wir versuchen, pünktlich aus dem Haus zu kommen. Das Problem ist die Prämisse von Erziehung, die uns über das Kind stellt. Die Gewalt liegt nicht in der Erziehungsmethode, sie liegt in der Idee, dass wir Erziehung über einen anderen Menschen ausüben dürfen.
Erziehung ist natürlich auch ein psychologisches Problem, wie jede unterdrückende und abwertende Praxis, egal wie nett gemeint sie ist. Denn Erziehung wirkt sich in ihrer Grausamkeit auf Kinder anders aus als auf Erwachsene. Wenn Kinder hören, dass sie anders werden müssen, müssen sie das glauben - und verinnerlichen dieses Bild von sich. Diese überlebensnotwendige Funktion wird dem Kind zum Verhängnis. Die Folgen können schwer sein und auch deutlich spürbar, wenn wir uns mit Erwachsenen unterhalten. Ganze Generationen emotional unreifer und tief traumatisierter Menschen sprechen dafür, dass wir etwas anderes versuchen sollten.
Ein Einwand begegnet mir häufig: Kinder nicht zu erziehen scheint unmöglich - ist nicht zum Beispiel unsere Verantwortung an Erziehung geknüpft? Können wir Kindern überhaupt gerecht werden ohne Erziehung? Ist das nicht dieses Laisser-faire? Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir zunächst aufhören, eine unterdrückerische Praxis weiter fortzuführen, weil uns nichts Besseres einfällt. Natürlich sind wir ideenlos, wir haben ja auch größtenteils keine Vorbilder! Erziehung bleiben zu lassen braucht immer ein Stück Mut, etwas Neues zu machen. Und ja, das bedeutet, dass Fehler passieren werden. Genau wie bei Erziehung. Nur mit dem Unterschied, dass wir aufhören, uns vorzumachen, wir könnten mit Erziehungsmethoden Fehler abschaffen.
Willst du einen ersten Schritt gehen, kannst du dir vornehmen, deine Gedanken gegenüber Kindern herauszufordern. Warum willst du eigentlich, dass das jetzt so passiert? Würdest du so auch mit einem erwachsenen Menschen sprechen? Sagst du Nein, weil du nicht willst oder weil es ein Kind ist, mit dem du sprichst? Ich habe bei mir am Anfang meiner Reise überraschend oft festgestellt, dass hinter meinem »Das muss aber so« nicht viel anderes stand als Fantasielosigkeit gegenüber meinem Kind - oder Erschöpfung, die mich die bekannte Abkürzung gehen ließ. Erst wenn wir das zugeben können, können wir es auch ändern.
Macht
»Ich will keine Cola kaufen gehen«, schreibt jemand in einem Internetforum um 2011 herum über sein*ihr Kind. »Ich will dem Kind auch kein Geld geben, und allein gehen darf es nicht.« »Dann hat es keine Wahl«, antwortet eine andere Person. Ich starre die Wand an. Minutenlang. »Dann hat es keine Wahl.« So simpel war mir diese Wahrheit nie aufgefallen. Anders als jeder andere Mensch haben Kinder nicht nur eine ökonomische, körperliche und räumliche Abhängigkeit,...
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