Schweitzer Fachinformationen
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In dem Zimmer mit den Sprossenfenstern und dem Kachelofen herrscht furchtbares Chaos, und obwohl ich es selbst verursacht habe, sitze ich völlig reglos im Schneidersitz auf dem Boden. Inmitten der Pulloverstapel, der Schubladen voller Unterwäsche und der Bücherkisten bin ich in das Fotoalbum versunken, das aufgeschlagen vor mir liegt.
Fotos sind meine Leidenschaft, doch selbst wenn es nicht so wäre, würde mich diese eine Aufnahme in den Bann ziehen. Sie zeigt ein etwa fünfjähriges Mädchen mit geflochtenen Zöpfen und einem geringelten Kleidchen, das Hand in Hand mit seiner Mutter am Ufer des Neckars spazieren geht. Deren rotblonde Hochsteckfrisur, tiefgrüne Augen und zierliche Figur könnten einen glauben lassen, ich selbst sei die Frau auf dem Foto, so groß ist die Ähnlichkeit. Doch die rotstichigen Farben des Abzugs und der altmodische Kleidungsstil verraten, dass es in den Siebzigern aufgenommen wurde. Damals war ich noch ein Vorschulkind und meine Mutter in den besten Jahren. Sie war sogar deutlich jünger als ich heute, dennoch wirkt sie auf dem Bild wie meine Doppelgängerin. Es ist, als würde ich mich gleich zweifach wiedererkennen - als das Mädchen, das ich einmal war, und die Frau, zu der ich geworden bin.
Ich erinnere mich so gut an den Tag, an dem das Bild aufgenommen wurde. Es war ein Sonntag im Frühsommer, und wir kamen von einer Schiffsanlegestelle. An die Fahrt mit dem Ausflugsdampfer entsinne ich mich nur noch vage, wohl aber sehr genau an das Eis, das ich anschließend bekam. Meinen ersten Spaghettibecher. Meine Eltern tranken Eiskaffee, und ich bettelte so lange, bis ich davon probieren durfte, verzog dann aber nur angewidert das Gesicht, weil der Kaffee so bitter schmeckte.
Unfassbar, wie präsent das alles auf einmal wieder ist. Doch noch viel unwirklicher kommt es mir vor, dass ich nun nie wieder die Hand meiner Mutter halten werde. Dass sie gegangen ist, für immer. Und ich nun dabei bin, ihre Sachen auszuräumen.
»Wenn ich so weitermache, brauche ich dafür Jahre«, murmele ich, um mich selbst anzutreiben, und wische die Tränen weg, die mir schon wieder übers Gesicht laufen. Nach wie vor zieht sich mein Herz schmerzhaft zusammen, wenn mir die Endgültigkeit meines Verlustes bewusst wird. Vier Wochen sind vergangen, seit sie gestorben ist, doch mir kommt es vor wie ein Wimpernschlag. Kann man sich überhaupt jemals daran gewöhnen, dass ein geliebter Mensch nicht mehr da ist? Und will ich das überhaupt?
Ich klappe das Fotoalbum zu. Das werde ich mir irgendwann ganz in Ruhe ansehen. Jetzt gilt es erst einmal, die Schränke und Kommoden zu leeren, damit ich die Möbel abholen lassen und dann den Raum renovieren kann.
Doch das ist leichter gesagt als getan, denn jeder einzelne Gegenstand hängt voller Erinnerungen, und es gelingt mir einfach nicht, sie zu ignorieren.
Diese Handtasche zum Beispiel habe ich ihr zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt. Sie ist aus Wildleder und hat lange Fransen. Eigentlich entsprach sie eher meinem damaligen Look und hat nie so richtig zum Kleidungsstil meiner Mutter gepasst. Trotzdem war sie jahrelang ihr täglicher Begleiter, und sogar als die Tasche ganz speckig und schäbig aussah und durch eine neue ersetzt wurde, hat sie sie aufbewahrt.
Nächstes Jahr werde ich selbst fünfzig, und außer meiner Freundin Olivia gibt es niemanden, der mir zu diesem Anlass etwas schenken wird. Und schon gar nichts, an dem mein Herz so sehr hängen wird wie das meiner Mutter an dieser Tasche. Nicht weil sie so außergewöhnlich schön war, sondern weil ich sie ausgesucht hatte.
Diese tiefe und reine Liebe, wie sie es nur zwischen Mutter und Kind gibt, die alles verzeiht und vollkommen uneigennützig ist, werde ich niemals erleben. Und auch sonst hat die Liebe mir nicht viel Glück gebracht im Leben.
Wäre Oscar noch da, ja, dann wäre gewiss alles anders gekommen. Wir hätten geheiratet, eine Familie gegründet, das ganze Programm. Wir wären glücklich miteinander geworden. Ganz zweifellos.
Aber Oscar ist tot. Und das hat alles verändert.
Überhaupt kommt mir mein ganzes Leben auf einmal vor wie eine Aneinanderreihung von Verlusten. Erst Oscar, dann mein Vater und jetzt meine Mutter.
Es sei eine Erlösung, haben sie gesagt, die Nachbarn und entfernten Verwandten, als sie mir am Grab kondolierten. Und ich habe mechanisch genickt. In den Jahren zuvor, als mir Mamas Alzheimererkrankung zuweilen den letzten Nerv raubte, habe ich mir selbst hin und wieder diesen Gedanken erlaubt. Dass der Tod eine Erlösung wäre. Für alle. Aber nun .
»Demenz ist das Allerschlimmste«, hat Mama früher immer gesagt. In einem Ton, der ihre Überzeugung kundtat, dass sie selbst davon verschont bleiben würde. Bei den vielen Büchern, die sie las, und all den Kreuzworträtseln, die sie löste, war ihr Gehirn gewiss davor gefeit.
War es nicht. Als sie krank war, kam ihr dieser Satz nie mehr über die Lippen.
Demenz ist schlimm, aber nicht das Allerschlimmste. Mit fünfundzwanzig zu ertrinken, das ist schlimm. Oder mit noch nicht einmal sechzig an einem Schlaganfall zu sterben, obwohl man doch noch so viel vorhatte. Aber sanft ins Reich des Vergessens abzutauchen und sich darin immer mehr selbst aufzulösen, bis irgendwann gar nichts mehr von einem übrig bleibt, das ist gnädig.
Ich packe den Stapel Pullover in eine Kiste für das Sozialkaufhaus. Beste Qualität, alles noch in Topzustand. Auch die drei völlig identischen dunkelblauen Feinstrickpullis, die sich meine Mutter im Abstand von zwei Wochen im Versandhaus bestellt hat. Weil sie sich nicht mehr daran erinnerte, dass sie es schon getan hatte. Damit hat es angefangen - und mit dem angebrannten Sauerkraut. Es dauerte nicht lange, bis sie sich an kein einziges ihrer Lieblingsrezepte mehr erinnerte und anfing, sich ständig zu verlaufen. Auch in der näheren Umgebung, sogar in ihrem Zuhause.
Dass sie permanent nach Wörtern suchte und, wenn sie ihr nicht einfielen, einfach welche erfand, gehörte bald zum Alltag. Ich hatte zu dem Zeitpunkt schon meine eigene Wohnung aufgegeben und war zu ihr in das kleine Häuschen am Stadtrand von Heidelberg gezogen, das meine Großeltern in den Vierzigerjahren gebaut hatten.
Die letzten Jahre waren intensiv und anstrengend. Und am Schluss habe ich es auch nicht mehr allein geschafft. Aber gemeinsam mit Agnieszka, einer tüchtigen Pflegerin, ging es.
Schade, dass der Kontakt zu Agnieszka nach der Beerdigung ganz eingeschlafen ist. Sie hat längst ihre nächste Pflegestelle angetreten.
Agnieszka weiß, wie das Leben für sie weitergeht, trotz all der Verluste, die naturgemäß zu ihrem Berufsleben gehören.
Ich weiß es eigentlich auch. Ich werde das Haus renovieren. Ein Fotostudio und ein Büro einrichten. Ich werde meine Karriere vorantreiben. Mich um spannende Aufträge kümmern und nicht mehr nur von Schule zu Schule radeln, um Klassenfotos zu knipsen, oder mit der Kamera durch die Umgebung von Heidelberg wandern, um Naturaufnahmen für Heimatkalender zu machen.
Olivia hat mir zugeredet. »Das schaffst du, Isabel. Bald kommst du ganz groß raus!«
Ich selbst bin da weniger optimistisch. Olivia will mich bloß aufmuntern. Außerdem ist sie meine Agentin, und da gehört es quasi zur Jobbeschreibung, dass sie ihre Künstlerinnen und Künstler bei Laune hält, ganz gleich, ob sie zufälligerweise auch eng mit ihr befreundet sind oder nicht.
Irgendwie fühle ich mich wie eine Hochstaplerin, wenn ich mich in Gedanken als Künstlerin bezeichne. Ich, Isabel Blum, neunundvierzig, alleinstehend, erfolglos.
Okay, vor einem Vierteljahrhundert habe ich Fotografie studiert, und ich war richtig gut. Aber dann kam das Leben dazwischen, und statt von einem spannenden Projekt zum nächsten um die Welt zu reisen, habe ich mich nach Oscars Tod in mein Schneckenhaus zurückgezogen.
Nachdem ich das Paket mit den Pullovern in die Garage verfrachtet habe, wo schon eine Reihe ähnlicher Kisten zum Abtransport bereitstehen, merke ich, wie erschöpft ich bin. Ich brauche eine Pause. Und einen Kaffee.
In der Küche sieht alles noch so aus wie in meiner Kindheit. Mein Vater hatte vor seinem Tod Modernisierungspläne geschmiedet, doch dazu ist er nicht mehr gekommen. Und so ist hier alles geblieben, wie es war. Die Küchenschränke mit Resopal-Front aus den Sechzigern stehen heute noch da, wo sie in meiner Erinnerung immer waren. Die Raufasertapete ist noch dieselbe. Nur der Herd wurde irgendwann um die Jahrtausendwende erneuert, und die Espressomaschine habe ich erst vor ein paar Jahren angeschafft.
Mit der Tasse in der Hand trete ich hinaus in das Gärtchen, auf das Mama immer so stolz war und das jetzt ziemlich verwildert ist. Wobei mir das eigentlich viel besser gefällt als Mamas akkurat angelegte Beete.
Ich setze mich auf die hölzerne Bank, die dringend einen Anstrich nötig hätte, weil die dunkelblaue Farbe immer mehr abblättert, und genieße die Nachmittagssonne. Der Juni war bisher recht kühl, heute ist der erste warme Tag. Bestimmt wird es bald so unerträglich heiß sein, dass ich mich nach dem durchwachsenen Frühsommer zurücksehnen werde. Ich vertrage die Hitze nicht sonderlich gut. Deshalb habe ich mich auch im Norden immer so wohlgefühlt, damals.
Ich gehe hinein und stelle meine Tasse in die Spüle. Dann mache ich weiter in dem Raum, der zuletzt Mamas Zimmer war. Ursprünglich war es einmal unser Esszimmer, aber dann brauchten wir ein Schlafzimmer für Agnieszka, also aßen wir von da ab in der Küche, und Mama wohnte hier, im schönsten Raum des Hauses. Sie sollte sich wohlfühlen. Und das tat...
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