Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Kaum kommt Werfel in Leipzig an, scheidet Kurt Wolffs Kompagnon Ernst Rowohlt aus dem Verlag aus. Vor seiner Trennung vom Verlag hat Rowohlt, mit dem Werfel noch ganze Nächte in den Leipziger Kneipen verbringen wird, den schon 1912 tragisch ums Leben gekommenen Dichter Georg Heym entdeckt und dessen Gedichtband «Der ewige Tag» herausgegeben. Zusammen mit dem Weltfreund, dem Wolff erst skeptisch gegenübersteht, erscheinen in Heyms lyrischen Visionen gleichsam die Archetypen der expressionistischen Ära. Heyms Totentanz der Großstadt, die Elendsbilder von Siechtum, Hunger und Schmutz geben geradezu das apokalyptische Pendant zu dem messianistischen Gemeinschaftspathos Werfels. Gemeinsam sind ihnen die poetische Verschlüsselung und Verdichtung in einer einzigen Metapher, der revoltierende Gestus, die Tierchiffren, Personifikationen und endlich das Kompositionsprinzip der Simultaneität bis hin zur Auflösung traditioneller metrischer und strophischer Schemata. Diese stilistischen Kategorien werden in Werfels nun folgenden Gedichtbänden Wir sind - entstanden zwischen 1912 und dem Frühjahr 1913 -, Einander (1913-15) und Gerichtstag (1915-17) konsequent weiterentwickelt.
Die Leipziger Zeit gehört zu der produktivsten in Werfels Leben, obgleich er sich ganz dem Dasein eines verbummelten Bohemiens verschreibt. Kurt Wolff charakterisiert ihn als ein Konglomerat aus Dichter, Seher und Kind: «. blind für die Wirklichkeit, linkisch, unbeholfen, ungeschickt, erfüllt von Versen und Musik . Er segelte die Straßen entlang, Verdi-Arien singend oder summend und merkte nicht, daß die Leute sich nach ihm umdrehten, sich an die Stirn faßten.»[89] Else Lasker-Schüler, die seine Gedichte liebt, nennt ihn «süßer Bubi», «Propheten-Apache» und «entzückender Schuljunge»[90]. Werfel selbst reproduziert eine Zeitlang dieses von ihm gemachte Bild bewusst: Ich bin ja noch ein Kind./Und wag doch zu singen.[91]
In der Haydnstraße wohnt er zusammen mit Walter Hasenclever und Kurt Pinthus, die beide ihr Studium in Leipzig absolviert haben. Später kommt als weiterer Lektor noch Willy Haas dazu, der wegen einer unglücklichen Liebesaffäre aus Prag flüchten muss. Vor allem mit Walter Hasenclever, von dessen Leidenschaft für den Naturphilosophen und Seher Emanuel Swedenborg er ebenfalls ergriffen wird, verbindet ihn von nun an eine tiefe Freundschaft. Auch Freundinnen gewinnt er in Leipzig. Oft besucht er die Wohnung der musikbegeisterten Schriftstellerin Hilde Stieler, liest ihr seine Gedichte vor, singt mit ihr das Almaviva-Suzanne-Duett aus dem «Figaro». In der Dufourstraße, in dem am Wasser gelegenen Salon Elsa Asenijeffs, die ihn «Bruder» nennt, liest Werfel seine neuen Gedichte und diskutiert mit der Dichterin über weibliche Identität und die Stellung der Frau in der modernen Gesellschaft.
Als am 5. Oktober 1913 «Mariä Verkündigung», Claudels Spiel von der Totenerweckung und Jungfrauengeburt, in Hellerau auf einer dreifachen Bühne mit klaren und sparsamen Bildern inszeniert wird, ist auch Rainer Maria Rilke anwesend. Rilke vernachlässigt die um ihn sich gruppierende Gesellschaft, um endlich und zum ersten Mal jenen Dichter zu treffen, der in seiner Erwartung ein so zerbrechliches Geschöpf sein muss wie seine Verse, «die wie schwache Stege über den Abgründen»[92] wirken. In einer Phase der stagnierenden Produktivität ist ihm die zurückeroberte Kindheit der Weltfreund-Lyrik zum Element eigener Erinnerung geworden. Rilke, der viele Gedichte Werfels auswendig weiß - «ich lese fast nur ihn, staunend, staunend» -, erwartet nun jenes «kindliche Wesen», dem er in seiner Schrift «Über den jungen Dichter» Fähigkeiten attestiert hat, «die über alles Erwerbbare eines ganzen Daseins hinausgehen»[93]. Das Bild, das sich Werfel von Rilke macht, ist nicht minder ideal. Von vielen Tränen, die er seit der Zeit des Erwachens ihm verdanke, und langen regenreinen Tröstungen in der Schulzeit durch Sie[94], spricht er in einem Brief noch kurz vor dem Treffen in Hellerau.
Beiden gerät die persönliche Begegnung zur Enttäuschung, beide empfinden die Inkommensurabilität von menschlicher Erscheinung und künstlerischem Werk. Statt eines verträumten Jünglings steht ein revoltierender intellektueller junger Mann mit allen äußeren und inneren Attributen einer bilderstürmenden Generation, die das wahnsinnige Außersichsein[95] zum Symbol der neuen Menschheit macht, vor Rilke. «Ein Judenbub»[96], kommentiert lakonisch die Baronin Nádherný von Borutin, Rilkes Begleiterin, die schon als Kind auf die Frage ihres Bruders, wogegen sie eine unüberwindliche Abneigung empfinde, die genauso lakonische Antwort gab: «Gegen Juden.»[97] Rilke übernimmt schon ein paar Tage später dieses Ressentiment in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal: «Der Jude, der Judenjunge, um es geradeaus zu sagen, hätte mir nichts verschlagen, aber es mochte mir doch wohl auch die durchaus jüdische Einstellung zu seiner Produktion fühlbar geworden sein.»[98] Ein «Geruch wie von anderer Gattung, etwas Unüberwindliches», sei von Werfel ausgegangen. Dieses Urteil wird 1914 nach der Lektüre einiger neuer Gedichte Werfels wieder zurückgenommen: «. so erhebt sich auch jetzt wieder mein Gemüth zu einer einzigen Woge der Zustimmung, ich sehe mich bereit, viel eher eines jungen Menschen Ausdruck, Verhältnis und Figur für Zufall zu nehmen.»[99] Auch Werfel fühlt bei der Begegnung etwas Fremdes, etwas «Saftlos-Verfeinertes». Erst am Nachmittag dieses Tages verwandelt Rilke sich in einen Menschen, der stockend von frühen Erlebnissen . von Prag und seiner Kindheit erzählt[100].
Franz Werfel macht in dem neugegründeten Verlag, der schon bald zum Sammelzentrum der jungen expressionistischen Autoren wird, seinen Einfluss selbstlos geltend. Bald schon ist er «der einflußreichste und richtungsweisende Mitarbeiter»[101]. Die Reihe «Der jüngste Tag» wird, so erinnert sich Kurt Wolff, im Mai 1913 eigens eröffnet, weil Franz Werfel «aus Weichheit» immer neue Dichter beim Verlag anbringt, die hier endlich «ein Versuchslabor»[102] finden. Schon im April setzt sich Werfel mit dem kaum bekannten Georg Trakl in Verbindung, berichtet ihm von der tiefen Bewegung[103] bei der Lektüre seiner Gedichte und fragt um Erlaubnis, eine lyrische Auswahl für den «Jüngsten Tag» vorzubereiten. Die Nummer 3 der Sammlung bringt Kafkas Erzählung «Der Heizer», das erste Kapitel des Romans «Amerika». Auf Werfels Vorschlag erscheint auf dem Umschlag ein Stahlstich des New Yorker Hafens.
Dem «Jüngsten Tag» ist ein einzigartiger Ausdruck der Zeit gelungen. Er ist die gelungenste Sammlung des literarischen Expressionismus. In dem ersten, Mitte April 1913 vorgelegten Vorstellungsprospekt zu der Textreihe schreibt Werfel programmatisch: Der neue Dichter wird unbedingt sein, von vorn anfangen, für ihn gibt es keine Reminiszenz . Die Welt fängt in jeder Sekunde neu an - laßt uns die Literatur vergessen!![104]
Von Leipzig aus unternimmt Werfel zahlreiche Reisen. Er ist inzwischen ein bekannter Autor, dessen Lesungen gut besucht werden. Mit Wilhelm Herzog, dem Chefredakteur der Literaturzeitung «März», fährt er im Frühjahr 1913 in einer Pferdedroschke laut singend durch die Straßen Schwabings, von den Blicken kopfschüttelnder Spießer verfolgt. Mit Walter Hasenclever reist er von dort weiter nach Italien. «Werfel, kräftig und breit mit einem offenen, fröhlichen Gesicht, einer Riesenstirn und schwarzen Locken. Hasenclever . schmal und nervös, nachdenklich mit einem Schatten von Melancholie.»[105] In Malcesine, zu Füßen des Monte Baldo am Ostufer des Gardasees, verbringt er mit dem Freund «auf Kosten des Verlages Kurt Wolff»[106] eine glückliche Zeit. Im Weltkrieg, als er in Michel de Montaignes Tagebuch einer Badereise im vierten Kapitel die Lobpreisungen des Gardasees mit seinen Oliven- und Orangenhainen und ausgezeichneten Fischen liest, wird er sich wehmütig an den wunderschönen April in Malcesine erinnern, an die herrlichen Mahlzeiten in Osterien und die Spaziergänge mit Hasenclever und Pinthus.[107] Die Landschaft wird im neuen Gedichtband Einander zum Raum der Geborgenheit.
Oliven im Silber, Oliven,
Verschwebten um einen Pfad.
Ein Maultier wankte auf Steinen.
Gott warf sich aus seinen, zum Weinen,
Unendlich geöffneten tiefen
Augen auf uns herab.[108]
Die Landschaft um den See gibt auch den Hintergrund zu einem Gedicht, das den Pantheismus des Weltfreund durch die christliche Vorstellung eines göttlichen Wesens erweitert. Das kühne thematische Zentrum von Jesus und der Äser Weg ist der Anspruch auf Vollständigkeit. Radikal wird jede Erlösung verneint, solange das Glück geteilt bleibt. Das Bild vom Leidensmann im Veitsdom von Prag, das schon dem Kind überall hin mit seinen schwermütig-bohrenden Augen[109] gefolgt war, wirkt noch immer. Schon in der kleinen Leipziger Erzählung Das traurige Lokal vom November 1912 taucht die Legende auf von...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.