Schweitzer Fachinformationen
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Mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands begann ein neues Kapitel. Für viele war es eine Zeit voller Hoffnung. Endlich vereint, endlich eins. Die Straßen waren gefüllt mit Menschen, die feierten, lachten, sich in den Armen lagen. Auf den Titelseiten der Zeitungen stand: Wir sind ein Volk, aber unter der Oberfläche brodelte es. Denn während die einen von Freiheit sprachen, fühlten sich die anderen betrogen. Arbeitsplätze verschwanden, ganze Industrien kollabierten. Schon bald standen sich Ost und West wieder feindlich gegenüber, nicht mehr durch Mauern getrennt, sondern durch Misstrauen, Vorurteile und Enttäuschung.
In Ostdeutschland wuchs der Frust. »Ihr seid nicht die Verlierer der Einheit«, hieß es offiziell. Aber weil Fabriken schlossen, Löhne sanken und Perspektiven verschwanden, fühlten sich viele genau so: als Verlierer. Und wenn Wut keinen Ort findet, sucht sie sich ein Ventil. Dieses Ventil hieß damals: Fremde. Menschen, die anders aussahen, anders sprachen, anders waren. Der Hass brauchte keine Logik. Er brauchte nur ein Ziel.
Dieses Ventil ist bis heute geblieben. Denn Hass auf Fremde ist selten ursächlich. Er ist ebenjener Anlass für Frust, Angst und Kontrollverlust. Die wahren Probleme liegen anderswo: soziale Unsicherheit, politische Enttäuschung, gefühlte Bedeutungslosigkeit. All das traf schon in den Neunzigern auf die Ostdeutschen zu, und bis heute hat es sich nicht geändert. In vielen Teilen Ostdeutschlands ist nicht nur die Bushaltestelle verschwunden, sondern das ganze Leben. Die großen Gebietsreformen nach der Wende sollten effizient sein. Verwaltung modernisieren, Strukturen verschlanken, Geld sparen. Und sie haben geliefert - nur nicht für die Menschen. Rathäuser wurden dichtgemacht, Schulen geschlossen, Arztpraxen verlegt. Was blieb, war der Weg in die nächste Stadt. Wenn man ein Auto hatte. Wo der Staat ging, folgte das öffentliche Leben. Kein Laden, kein Schwimmbad, kein Café. Kein Ort, an dem man sich trifft, entscheidet und lebt. Ganze Dörfer wurden zu Wohnplätzen ohne Funktion - Zonen des Rückzugs und der Resignation. Die Jungen zogen weg, weil nichts mehr da war. Die Alten blieben - ohne Anbindung, ohne Stimme. Und wer blieb, bekam jahrzehntelang zu hören: »Für euch lohnt sich das nicht.«
Der Staat hat sich zurückgezogen - und damit auch Vertrauen, Zukunft, Selbstwirksamkeit. Wenn Menschen nicht mehr glauben, dass ihr Ort etwas wert ist, glauben sie irgendwann auch nicht mehr, dass ihre Stimme etwas wert ist.
Rechtsextreme haben früh erkannt, was Politik und Verwaltung übersehen haben: Die Leere im Osten ist nicht nur räumlich - sie ist emotional. Wo der Staat sich zurückgezogen hat, sind sie reingegangen. Wo der demokratische Staat sich zurückgezogen hat, zog der autoritäre Populismus ein. Nicht mit Gewalt. Sondern mit dem Versprechen: »Wir sehen euch.« Mit einfachen Antworten auf komplexe Probleme. Mit Präsenz, wo niemand mehr präsent war. Statt sich gegen die Ursachen zu wenden - viel zu komplex, zu diffus und nur schwer greifbar -, richtete sich ihr Zorn auf ein Ziel, das sichtbar und schwach erscheint: die »Fremden«.
Ich erinnere mich an die Bilder von Rostock-Lichtenhagen im August 1992. Flammen, Wut, ein Mob, der klatschte, während ein Asylbewerberheim brannte. Menschen warfen Steine, Flaschen, Molotowcocktails. Polizeibeamte standen daneben - überfordert, hilflos, manchmal ignorant. Im Fernsehen zeigten sie die brennende Unterkunft, in der Menschen um ihr Leben fürchteten.
Für meine Eltern waren diese Bilder ein Schock, aber auch eine Warnung. Sie begannen, ihre Worte sorgfältiger zu wählen, ihre Routinen zu ändern. Ich weiß noch, wie ich bei uns im Schrebergarten (ja, wir hatten uns schnell überintegriert) meinen Geburtstag feierte. Als wir Kinder etwas lauter wurden, holte der Nachbar dramatisch die Fahne des Gartenvereins ein und hisste die Reichskriegsflagge. MITTAGSRUHE! Ich hatte keine Ahnung, was das war, aber meine Eltern kamen dann doch lieber mit, wenn wir das Grundstück verlassen wollten. Die Angst wurde ein ständiger Begleiter.
Und Rostock war nicht das einzige Warnzeichen. Hoyerswerda 1991: Angriffe auf ein Flüchtlingsheim über mehrere Tage hinweg. Menschen sprangen aus dem Fenster, während vor der Tür wieder applaudiert wurde. Mölln 1992, Solingen 1993: Brandanschläge auf türkische Familien. Tote, Trauer, Schock. Aber auch immer wieder dieselben Sätze: »Das sind doch Einzelfälle.« - »Nicht alle sind so.« Worte, die beruhigen sollten - aber nichts beruhigten.
Der Staat spricht übrigens bis heute bei Angriffen auf Migranten gern von »Einzelfällen«. Es klingt kontrollierbar, zufällig, beruhigend, nicht systemisch - und erspart politisches Handeln. Die Gesellschaft nimmt das bereitwillig auf, obwohl sie es besser weiß. Warum? Weil es bequemer ist. Wer den Rassismus als Ausnahme sieht, muss sich nicht fragen, wo er selbst wegschaut, schweigt oder profitiert. Ja, profitiert! Wer nicht als »fremd« gilt, bewegt sich sicherer, wird seltener kontrolliert und leichter anerkannt. Man hat besseren Zugang zu Wohnungen, Jobs und Chancen - einfach, weil andere aussortiert werden. Rassismus kostet die Betroffenen Kraft - und verschafft den Nicht-Betroffenen Ruhe. Genau deshalb bleibt er oft unsichtbar: weil viele von ihm profitieren, ohne es zu merken. Der »Einzelfall« ist die Entlastungslüge - für Behörden, für Medien und für alle, die sich nicht mit der unbequemen Realität auseinandersetzen wollen.
In den Nachrichten hörte ich ständig das Wort »Asylanten«. Es war ein Wort, das mit einer Schärfe ausgesprochen wurde, die mir schon als Kind Unbehagen bereitete. »Asylanten« - das waren eben keine Menschen, sondern Fremde, Eindringlinge, Probleme. Und obwohl ich kein Asylant war, spürte ich, dass auch ich gemeint war. Meine Hautfarbe, mein Name, meine Herkunft - all das machte mich zum Teil dieser Gruppe, die man ablehnte. Dann gab es noch das Wort »Kanake«. Auf dem Schulhof fiel es beiläufig, fast schon wie ein Spitzname. Wir, die Keneks, sollen nicht überempfindlich sein, hieß es, es sei ja »nicht böse gemeint«. Außerdem kommt »Kanacke« ja aus dem Hawaiianischen und bedeutet doch nur Mensch! Eigentlich ist es ein Kompliment! Wir sind doch alle Menschen! Dann sag's doch auf Hawaiianisch . Aber Worte bleiben. Vor allem die scharfen.
Die Politik? Schwankte zwischen Betroffenheit und Aktionismus. Helmut Kohl sprach von »braunen Rattenfängern«, aber Maßnahmen folgten nur zaghaft. Die Gesellschaft müsse zusammenhalten. Gleichzeitig wurde 1993 das Asylrecht verschärft. »Die Grenze der Belastbarkeit ist erreicht«, war zu hören. Als ob Schutzsuchende ein Problem wären, das man wegverhandeln könnte. Als ob Brandanschläge wie der von Solingen bedeuteten, man müsse nun weniger Hilfe gewähren, nicht mehr. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer warnte schon damals vor einem »Verrohungsprozess« in der Gesellschaft, der durch soziale Unsicherheit und politische Sprachlosigkeit befeuert werde. Aber Warnungen verhallen schnell, wenn sie unbequem sind.
Rückblickend waren die Neunziger ein Scheidepunkt. Hoffnung und Hass lagen nah beieinander. Während ein Teil des Landes versuchte, Brücken zu bauen, rissen andere sie ein. Während rechtsextreme Gruppen wie die Skinheads Sächsische Schweiz Jugendliche rekrutierten und Neonazi-Bands Konzerte als »politische Schulungen« tarnten, sahen viele weg. »Das geht wieder vorbei«, sagten sie. Ging es nicht. Es wuchs. Es grub sich ein. In der Sächsischen Schweiz, genauer in Pirna, regiert heute übrigens der erste AfD-Oberbürgermeister mit einer Mehrheit im Stadtrat. Ich habe Freunde in der Stadt, sie raten mir aber dringend davon ab, sie zu besuchen. Germany 2025.
Wissenschaftliche Studien belegen, dass die Neunzigerjahre den Nährboden für den aktuellen Rechtsruck gelegt haben. Das Gefühl von »Wir zuerst«, das Misstrauen gegenüber der Politik, den politischen Entscheidungsträgern, die Skepsis gegenüber »dem Fremden« - all das hat seine Wurzeln in dieser Zeit. Es ist kein Geheimnis, dass wirtschaftliche Unsicherheit, verbunden mit kultureller Überforderung, eine gefährliche Mischung ist. Und genau diese Mischung brodelte in den Neunzigern. Viele Ostdeutsche fühlten sich nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung immer mehr als Bürger zweiter Klasse. Die versprochenen »blühenden Landschaften« waren für viele gleichbedeutend mit Arbeitslosigkeit. Wenn in den Medien dann noch eine »Flut« von Geflüchteten, von Migranten, von »den anderen« suggeriert wurde, war es leicht, Schuldige zu benennen.
Auch der Westen war dagegen nicht immun. In Städten wie Hamburg, Frankfurt, München gab es Übergriffe, Attacken, Hass. Nicht immer laut, nicht immer mit Feuer und Flammen. Aber auch die leise Ausgrenzung war gewalttätig, die Blicke und Kommentare. »Integration« war ein Wort, das viel forderte, aber wenig Angebote machte. »Sie sollen sich anpassen«, hieß es. Aber was, wenn die Anpassung bedeutet, sich kleiner zu machen?
Meine Eltern verstanden die Botschaft schnell: »Seid dankbar, dass ihr hier sein dürft. Fragt nicht zu viel. Fordert nicht zu viel. Lernt, denn: Tavana bovad har ke dana bovad.« Der berühmte Vers des persischen Dichters Ferdowsi - Wissen ist Macht -, der vor der islamischen Revolution auf jedem Zeugnis geschrieben stand - egal ob für die Grundschule oder die Habilitation - und wahrscheinlich dazu geführt hat,...
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