Schweitzer Fachinformationen
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Als Tarik am Morgen ins Krankenhaus kam, bat er als Erstes die Oberschwester um die Akte. Sie brachte ihm eine Klarsichthülle, die an allen vier Seiten zugeklebt war. Darauf stand: »Ausstehend bis zum Eintreffen der Genehmigung durch das Tor«. Tarik starrte auf die großen, schräg in eine Ecke gesetzten tiefroten Wörter. Genau in der Mitte der Akte stand auf einer rechteckigen weißen Karte der Name »Yahya Gad al-Rabb Said« und ganz unten eine siebenstellige Zahl. Die eine Hälfte war Teil der Ausweisnummer des Patienten, die andere Hälfte ein Code, der auf die Kategorie der Akte schließen ließ und den nur die Mitarbeiter der Verwaltung verstanden, die für die Klassifizierung zuständig waren. Am Ende war dort noch der Name des behandelnden Arztes zu lesen: »Dr. Tarik Fahmi«, sein Name, von dem er sich schon Hunderte Male gewünscht hatte, ihn von dieser Akte löschen zu können. Aber es war nichts zu machen, er würde dort bleiben und ihm, Tarik, das Leben vergällen, solange es Gott gefiel.
Die Akte in der Hand ging er in sein Büro; Schwester Sabah folgte ihm mit einer Tasse Kaffee. Sie stellte die Tasse auf den alten Holzschreibtisch, wie sie es jeden Morgen tat, dann verschränkte sie die Finger vor ihrem dicken Bauch und gähnte. Ihre Trägheit war unübersehbar:
»Kann ich noch etwas für Sie tun, Doktor?«
»Bleiben Sie heute in der Nähe, Sabah, ich brauche Sie vielleicht noch«, entgegnete er in seiner ihm eigenen freundlichen und ruhigen Art, auch wenn er ihr heute unnatürlich ernst vorkam.
»Wie Sie wünschen, Doktor.«
Sie ging hinaus und schloss die Tür.
Tarik, ein Mann mittleren Alters, gehörte im Krankenhaus zu jener Gruppe von Ärzten, die für die Notaufnahme verantwortlich waren und ihre Arbeit ernst nahmen. Sabah kannte ihn schon, als er noch ein junger Arzt im Schichtdienst gewesen war, der die meiste Zeit bei den Patienten verbrachte und nur selten nach Hause ging. Er hatte nicht viele Freunde und ging auch nicht mit Kollegen aus. Und niemals hatte er sich wie die anderen vor einer Schicht gedrückt. Er war schweigsam und ein wenig sonderbar, schloss seine Bürotür sogar in den Pausen ab, plauderte nicht mit den Schwestern im Schwesternzimmer und sprach weder über sich noch über seine Familie. Aber alle wussten, dass er seine Arbeit gut machte und - vor allem - dass er ein gutes Herz hatte.
Tarik nahm einen Schluck Kaffee und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Er sah auf die Klarsichthülle, setzte sich schließlich auf seinen Lederstuhl, öffnete die Hülle an einer Seite, zog die Akte ein Stück heraus und schob sie wieder zurück.
Es war eines der seltenen Male, dass er überhaupt eine Patientenakte in der Hand hielt. Ein Pfleger hatte alle Patientendaten vollständig notiert, was ungewöhnlich war. Alle Spalten waren komplett ausgefüllt, es gab keinen Platz mehr, um noch etwas hinzuzufügen, keine Frage war ohne Antwort geblieben, und sogar die Fragen, die den Arzt meist gar nicht interessierten und die in einer Patientenakte eher nicht gestellt wurden, waren beantwortet.
»Yahya Gad al-Rabb Said, achtunddreißig Jahre, ledig, wohnhaft im Neunten Bezirk, Gebäude Nr. 1, Beruf: Handelsvertreter .« Diese persönlichen Angaben interessierten ihn nicht besonders, auch wenn er sie schon so oft gelesen hatte, dass er sie auswendig kannte und sich mühelos ins Gedächtnis rufen konnte. Meistens enthielten diese Dokumente nur Informationen, die routinemäßig von allen Patienten abgefragt und mit großer Gleichgültigkeit notiert wurden, weil Ärzte und Pflegepersonal zu nachlässig waren, so viele Spalten auszufüllen. Gewöhnlich begnügten sie sich deshalb mit der Nennung des Namens und des Alters des Patienten.
Tarik schob das erste Blatt Papier zur Seite und zog das zweite heraus, bereit, sich auf die Informationen zu konzentrieren, doch ein mehrmaliges Klopfen an der Tür ließ ihn die beiden Blätter wieder zurückstecken. Er verschloss die Hülle und verstaute sie in der Schreibtischschublade, dann richtete er sich in seinem Stuhl auf. Sabah trat erneut ein, in der Hand eine weitere Akte: »Da ist ein Patient, der nach Ihnen fragt, Doktor. Soll ich ihm sagen, dass Sie beschäftigt sind?«
Er hatte keine Lust, sich jetzt mit einem anderen Fall zu befassen. Nachdem er mit der Prüfung der Akte von Yahya Gad al-Rabb Said begonnen hatte, fiel es ihm schwer, die Anwesenheit anderer zu ertragen. Aber er musste seinen Unmut herunterschlucken, um kein unnötiges Gespräch zu provozieren. Er gestattete Sabah, den Patienten in das Untersuchungszimmer zu führen, und bat sie, dort zu warten. Er überlegte, die Akte an ihren ursprünglichen Platz im Archiv zurückzubringen, bevor er das Büro verließ, doch er bemerkte, dass der Schlüssel auf dem Tisch lag. Er nahm ihn an sich, zog sich den weißen Kittel über, schloss leise die Tür hinter sich, drehte den Schlüssel zweimal herum und ließ ihn vorsichtig in seine Hemdtasche gleiten.
Die Untersuchung dauerte nicht länger als ein paar Minuten. Er stellte dem Patienten nur ein paar kurze Fragen und untersuchte ihn in aller Eile. Auch bei der Diagnose und der Therapieanordnung hielt er sich kurz. Seine Gedanken kreisten um die Akte, die er zurückgelassen hatte. Er überlegte, eine Fotokopie anzufertigen und sie mit nach Hause zu nehmen, wo er Gelegenheit haben würde, sie aufmerksam und ungestört zu lesen, nahm aber aus Angst vor möglichen Konsequenzen sogleich von dem Gedanken Abstand. Ihm war bewusst, dass es nicht mehr nur um ihn ging und dass die Angelegenheit nicht mehr nur den eingeschränkten Machtbefugnissen der Verwaltung unterlag. Tarik war niemand, der Grenzen überschritt. In seinem ganzen Leben war er noch nie zum Tor gegangen, er hatte weder Ansprüche noch Probleme, sein Leben verlief monoton und vorhersehbar, er hatte das Medizinstudium beendet und sein Abschlusszeugnis erhalten, würde in Bälde seine Privatpraxis eröffnen, und seit Kurzem traf er sich mit einer Kollegin. Doch nun stand seinem seit Langem ruhigen und althergebrachten Leben diese Akte von Yahya Gad al-Rabb Said im Weg.
Warum nur war er an jenem Tag im Krankenhaus geblieben, wo er es sonst doch stets pünktlich zum Ende seiner Schicht verließ? Und warum hatte er unbedingt die Verletzten untersuchen müssen und insistiert, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um ihre Wunden zu versorgen und sie zusammenzuflicken, bevor der Notarztwagen sie ins staatliche Krankenhaus brachte? Und warum hatte er sich ausgerechnet Yahya ausgesucht, um ihn zu röntgen, und keinen anderen? Tarik schwirrte der Kopf, die Antworten und Details verflüchtigten sich in letzter Zeit, und jedes Mal, wenn er die Akte betrachtete, nahm seine Ratlosigkeit zu. Es schien, als hätten sich ganze Erinnerungsstücke an das, was passiert war, in Luft aufgelöst und waren verschwunden, vielleicht weil er sie sich in den letzten Wochen so oft ins Gedächtnis gerufen und ständig vor sich selbst wiederholt hatte.
Er ging an den benachbarten Untersuchungszimmern vorbei und sah, dass einige der neuen Ärzte Tee und Kaffee tranken; das Radio plärrte. Er blieb ein paar Minuten stehen und lauschte. Die Moderatorin des Jugendsenders sprach live mit einer Zuhörerin über Telefon und fragte die Frau, wie es um ihre Kinder bestellt sei, die noch Studenten waren, und erwähnte deren aufrechte und nachahmenswerte Moral. Diese Moral hatte die Jugendlichen davon abgehalten, das Haus zu verlassen, als die »schändlichen Ereignisse« begannen, und sie davor beschützt, sich von den Lügen mitreißen zu lassen oder sich sogar an den Vorgängen zu beteiligen. Die Frau war glücklich über die Anerkennung und das Lob, das ihr zuteilwurde, und erzählte begeistert, dass sie von Anfang an keine Mühe bei der Erziehung ihrer Kinder gescheut und sie immer auf den rechten Pfad geleitet habe. Deshalb wüssten sie, was gut für sie sei, und man müsse keine Angst haben, dass sie vom Weg abkamen. Tarik schüttelte den Kopf, unfähig, das Gespräch zu begreifen. Er verließ das Radiozimmer, ging zur Oberschwester und bat sie, ihn nicht zu stören, weil er in seinem Büro einige wichtige Dokumente lesen wolle. Sie versprach ihm, die Patienten zu den anderen Kollegen zu schicken, rief Sabah zu sich, die gerade ihr Frühstück beendet hatte, und trug ihr auf, die Akten gleichmäßig auf die anderen Ärzte zu verteilen.
Tarik kehrte wieder zu seinem Lederstuhl zurück. Er hatte immer noch die Worte der Radiomoderatorin im Ohr. Wie alle hatte auch er von den Schändlichen Ereignissen gehört, schon als sie begonnen hatten oder kurz danach. Aber er war niemals dort gewesen und wusste kaum etwas darüber. Er hatte nichts gesehen, nur das, was mit jenen geschehen war, die daran beteiligt gewesen waren oder das Pech gehabt hatten, sich zufällig an Ort und Stelle befunden zu haben. Er hatte einige Kommentare gehört, die in seiner Anwesenheit geäußert worden waren, sei es von Kollegen und Bekannten, manchmal auch von Nachbarn und Fahrgästen in öffentlichen Verkehrsmitteln. Er hatte sich ein vages Bild von den Ereignissen gemacht, schemenhaft und ohne Details, aber das genügte ihm, um der Angelegenheit keine weitere Beachtung zu schenken. Nichts daran erregte seine besondere Aufmerksamkeit. Er war nur zu dem Schluss gelangt, dass einige Leute ihrem Ärger darüber Luft gemacht hatten, dem strengen Regime folgen zu müssen, das das Tor ihnen kurz nach seinem Erscheinen auferlegt hatte. Sie wollten gegen die neuen Regeln, die nun für alle bindend waren, aufbegehren und ein anderes System installieren, das, so hatte er es sich von einigen Kennern der Situation erklären lassen, weniger autoritär und streng war, vielmehr toleranter und weitsichtiger. Aber seiner persönlichen Meinung nach würde das zu Unordnung und...
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