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Die beliebte Tagesthemen-Moderatorin über ihre zweite Heimat
Der Libanon ist ein kleines Land voller Widersprüche: pulsierend, lebenslustig und gute Gerüche überall. Auf der anderen Seite ein zerstörerischer Bürgerkrieg, dessen Narben auch noch immer deutlich sichtbar sind, Konflikte mit den Nachbarstaaten und Armut.
Für Aline Abboud ist der Libanon ihre zweite Heimat: Geboren 1988 als Tochter eines Libanesen und einer Ostberlinerin verbrachte sie von klein auf ihre Sommerferien bei ihren Großeltern und ihren 15 Cousins und Cousinen im Libanon. Den Geschmack dieser unbeschwerten Monate, diese ganz eigene Mischung aus Hummus, Meersalz und labbrigen Pommes, hat sie noch immer im Gedächtnis.
Aline Abboud begibt sich auf eine sehr persönliche Suche nach ihren Wurzeln, und ermöglicht zugleich einen anderen Blick auf den Libanon und seine Geschichte.
Aline Abboud, geboren 1988 in Berlin, ist eine deutsche Journalistin, Fernsehmoderatorin und Redakteurin. Seit September 2021 moderiert sie die Tagesthemen im Ersten, seit Februar 2022 auch die tagesschau-Nachrichten auf tagesschau24.
Als der Film »Das Lehrerzimmer« des deutsch-türkischen Autors und Regisseurs Ilker Çatak im Jahr 2023 beim Deutschen Filmpreis zum besten Spielfilm gekürt wurde, hielt der Produzent eine Dankesrede. Mit der goldenen Trophäe in der Hand stand er auf der Bühne und hielt eine Lobrede. Darin betonte er die Rolle von Lehrkräften für die eigene Persönlichkeitsentwicklung. Wie gerne man sich an sie erinnere, wenn sie einen erkannt und gefördert haben, einem »die Freiheit zur eigenen Entwicklung gegeben haben.«
Als mir das Video der Rede auf YouTube eingespielt wurde, dachte ich: Mag sein, dass das auf viele Menschen zutrifft - aber auf mich tut es das definitiv nicht. An Herrn K. erinnere ich mich nicht gerne. Wenn überhaupt, dann nur mit sehr gemischten Gefühlen. In der 9. und 10. Klasse war er mein Lehrer. Ich habe ihn nie sonderlich gemocht, und das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit gab er mir zu verstehen, dass ich das Abitur nicht schaffen würde. In seinen Augen war es ein Fehler, dass ich überhaupt das Gymnasium besuchte.
An meiner Schule, dem Carl-von-Ossietzky-Gymnasium im Ost-Berliner Stadtteil Pankow, unterrichtete Herr K. Politikwissenschaft. Auf seinen Unterricht hatte ich nie wirklich Bock. Das lag nicht ausschließlich an ihm, überhaupt konnte ich mich nur schwer für die Schule motivieren. »Weil du faul warst«, sagt mein Vater immer, wenn wir in Erinnerungen schwelgen und diese Zeit Revue passieren lassen. Er stößt dann gerne einen leisen Seufzer aus und schüttelt den Kopf. Vor allem Mathe war für mich der blanke Horror, denn ich habe Dyskalkulie. Wie viel Geld für Mathe-Nachhilfe meine Eltern gezahlt haben, damit ich mit dem Stoff einigermaßen hinterherkomme: unglaublich.
Dass ich mich mit der Schule schwer schwertat, hatte nicht nur mit dem Stoff zu tun, sondern auch mit meinem Status als Außenseiterin. Ich war immer die Kleinste in der Klasse, die meisten meiner Mitschüler überragten mich um Längen. Dann trug ich auch noch eine Brille. Hinzu kam ein unvorteilhafter Kurzhaarschnitt. Im Zusammenspiel bot das wohl die maximale Angriffsfläche. Aber woran es am Ende wirklich lag, dass ich als Mobbing-Ziel für einige auserwählt wurde, weiß ich bis heute nicht. Eine Zeit lang war für mich der Gang in die Schule der blanke Horror. Ich meldete mich kaum in den Stunden aus Angst und Unsicherheit, meine Noten wurden schlechter. Als dann sogar ein blauer Brief bei meinen Eltern eintrudelte, mussten meine Eltern reagieren. Regelmäßig führte mein Vater Gespräche mit Herrn K. und versuchte ihm klarzumachen, dass ich von meinen Mitschülern gemobbt wurde. Herr K. hörte ihm dann zu und tat . nichts.
Die Stunden bei Herrn K. sind mir bis heute nachhaltig in Erinnerung geblieben. Im negativen Sinne. Grundsätzlich machte er recht engagierten Unterricht, nur eben nicht mit mir. Trotzdem hat er mich auf eine Weise erkannt und gefördert, die ihm selbst vermutlich nie bewusst war. Dafür bin ich ihm bis heute dankbar.
Auf dem Lehrplan stand der Besuch einer öffentlichen Gerichtsverhandlung. Wir Schüler sollten einen Einblick bekommen, wie der Rechtsstaat so arbeitet. Auf der Anklagebank des Amtsgerichts Wedding saß an diesem Tag ein etwa fünfzigjähriger Mann. Er sprach kein Deutsch und hatte deshalb einen Übersetzer zur Seite gestellt bekommen. Was dem Mann vorgeworfen wurde, worum es ging, weiß ich heute nicht mehr. Aber ich habe noch genau vor Augen, wie der Angeklagte immer wieder seinen Kopf zur Seite neigte, weil der Übersetzer ihm ins Ohr flüsterte. Zwischendurch fielen sich die verschiedenen Parteien immer wieder gegenseitig ins Wort: der Staatsanwalt, der Verteidiger, der Richter. Dann noch das sonore Murmeln des Dolmetschers, der für den Angeklagten simultan übersetzte. Ein chaotischer Sprachbrei waberte so durch den Raum.
Weil ich in der ersten Reihe saß, schnappte ich immer mal ein paar Brocken auf. Einzelne Worte und Halbsätze zwischen dem Angeklagten und seinem Übersetzer. Irgendwann wandte ich mich zu Herrn K. neben mir und flüsterte: »Ich verstehe, wovon die reden. Das ist Arabisch.« Ich hatte mir nichts dabei gedacht. Es schoss mir einfach so durch den Kopf und musste raus. Ich sagte es wahrscheinlich mehr zu mir selbst als zu meinem Lehrer. Der nahm es scheinbar unbeeindruckt zur Kenntnis, nickte nur stumm und verfolgte weiterhin die Verhandlung.
Ich hatte diesen Moment bereits vergessen, als wir das Gerichtsgebäude verließen und uns auf den Heimweg machten. Plötzlich tippte mir Herr K. von hinten auf die Schulter. Irritiert drehte ich mich um. Was wollte er? Ich war auf alles gefasst. Eindringlich sah er mich an und sagte: »Das ist ein Pfund, dass du Arabisch sprichst. Bau das ruhig aus. Daraus solltest du etwas machen.« Entgeistert starrte ich Herrn K. an und war baff. Hatte ich richtig gehört? Zum ersten Mal hatte dieser Mann etwas Positives zu mir gesagt. Ich konnte es kaum glauben.
Dass es für Außenstehende ungewöhnlich sein könnte, dass ich Arabisch sprach, war mir bis dahin nicht in den Sinn gekommen. Warum auch? Für mich war es das Normalste der Welt. Erst durch Herrn K. wurde mir bewusst, dass es offenbar ein Alleinstellungsmerkmal war. Zum ersten Mal bekam ich das gespiegelt. Zum ersten Mal hatte jemand darauf reagiert.
Dass Leute in Berlin Arabisch sprechen, ist ja heutzutage nichts Ungewöhnliches. Vor allem in Kreuzberg, Neukölln oder Wedding. Dort wohnen viele Araberinnen und Araber. Aus dem Libanon, Palästina, Syrien, Ägypten. Im Ostteil der Stadt sind es bis heute weitaus weniger. In Pankow, wo vor dem Fall der Mauer die politische und intellektuelle Elite des Landes lebte und danach gut situierte Besserverdiener aus Westdeutschland, waren arabische Nachbarn eher eine Seltenheit. Außer meinem Vater und einigen seiner alten libanesischen Studienfreunde kannte ich keine weiteren Libanesen in der Gegend, geschweige denn sonst jemanden, der wie ich Arabisch sprach.
Mein Vater erzählte mir mal, dass es in der gesamten DDR nur um die sechzig libanesische Studenten überhaupt gab. Für die meisten, die Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger vorm Bürgerkrieg geflohen sind, war Ost-Deutschland nur eine Art Zwischenstopp. Die DDR-Fluggesellschaft »Interflug« bot damals einen Direktflug vom Libanon nach Deutschland an. Tausende Geflüchtete stiegen in Beirut in den Flieger und landeten in Berlin-Schönefeld. Dort kauften sie sich dann für fünf Ost-Mark ein Transitvisum und »machten rüber« in den Westen. Besonders viele Palästinenserinnen und Palästinenser, die vorher schon aus ihrer Heimat in den Libanon und von da aus Richtung Deutschland flüchten mussten.
Mein Vater aber wollte in der DDR Fotografie studieren und bekam ein Stipendium. Er war damals zweiundzwanzig und hatte eine Zusage von der renommierten Kunsthochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Für ihn ein Sechser im Lotto. Schon immer hatte er sich für Fotografie interessiert, mit einer kleinen Kamera geknipst, was ihm vor die Linse kam. Auch im Libanon hatte er einige Zeit in Studios, bei libanesischen Hochzeiten oder auch Miss Libanon fotografiert, und diesen Traum wollte er sich dann in der DDR verwirklichen. Nicht weil er mit dem System sympathisierte, sondern aus ganz pragmatischen Gründen. Anders als zum Beispiel in Kanada, wohin es viele seiner Landsleute wegen der französischen Sprache verschlug, hatte er damals für das Studium der Fotografie die Auswahl DDR, Tschechoslowakei oder die Sowjetunion. »Was soll ich mit Russisch oder Tschechisch, Aline?«, hatte mein Vater mir vor Jahren mal geantwortet, warum er die DDR wählte. Er sprach wie viele junge Libanesinnen und Libanesen neben Arabisch fließend Französisch, etwas Schulenglisch und jetzt noch Deutsch? - Ja, damit konnte er mehr mit anfangen. Das Studium in Leipzig war für ihn eine Chance. Dass er dafür auch einiges aufgeben musste, nahm er in Kauf und hat es bis heute nicht bereut.
Seine Familie gehört der christlichen-katholischen Glaubensgemeinschaft der Maroniten im Libanon an. Noch heute reagieren Menschen verwundert, wenn sie von meinen Wurzeln erfahren. Eine Frage, die mir häufig gestellt wird, lautet: »Warum trägst du kein Kopftuch?« Dass es im Libanon, oder generell in der Region, nicht nur Muslime gibt, scheinen die wenigsten auf dem Schirm zu haben.
Aber egal ob christlich oder muslimisch: In Pankow, wo ich geboren und aufgewachsen bin, habe ich die ersten Jahre meines Lebens ohnehin kaum Libanesen getroffen. Wenn, dann waren es alte Studienfreunde meines Vaters, die auch damals nach Deutschland gekommen sind. Verstreut in ganz Berlin, zu deren Familienfeiern wir oft eingeladen waren. Da wurde dann libanesisch gesungen, getanzt und lecker gegessen. Für mich als Kind waren das tolle Abende, mit vielen anderen Kindern, die so aussahen wie ich. Das war für mich Normalität. Ohne Zwang, ohne Probleme. Ich erinnere mich an eine libanesisch-nicaraguanische Familie, bei der wir früher oft waren. Ihre Tochter war etwas jünger als ich, aber eine gute Spielpartnerin. Und sie sprach damals schon drei Sprachen: Deutsch, Spanisch und Arabisch. Diese Diversität. Verschiedene Kulturen, die zusammenkamen. Dass sie so viele Sprachen in so einem jungen Alter sprechen konnte, fand ich ziemlich cool...
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