Schweitzer Fachinformationen
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Was uns zerbricht, das rettet uns. Amen. Mein Name ist unwichtig. Ich bin vierundzwanzig Jahre alt. Sie können mich Samt nennen.
Während Sie so zu mir herübersehen, denken Sie, Sie würden mich auf keinen Fall zur Tochter haben wollen. Auch nicht, dass Ihre Tochter mit mir befreundet wäre. Es kann Ihnen ja keiner verdenken. Es fängt ja schon an bei den Tattoos. Sie überziehen meinen kompletten Unterarm, einige haben mit der Zeit ihre Form verloren oder ich habe sie absichtlich verstümmelt - besonders die mit den Namen zweier Jungs, die ich einmal geliebt habe -, andere sind in Sprachen verfasst, die ich nicht kenne. Ich habe mich noch nie getäuscht, wenn es darum geht, verächtliche Blicke wahrzunehmen, die auf mich gerichtet sind.
Sie würden sicher nicht wollen, dass Ihre Tochter so wäre wie ich. Ich gehöre nicht einmal zu dem Typ Mädchen, auf das Sie gelegentlich scharf sind, wenn Sie sich mal wieder von Ihrer Midlife-Crisis-Depression ablenken wollen. Dafür habe ich Verständnis. Es kränkt mich nicht im Geringsten.
Mein Name ist unwichtig. Ich bin zwanzig Jahre alt. Ich hatte begonnen, Übersetzen zu studieren.
Vom ersten Monat an fand ich es todlangweilig. Ich wollte in ein anderes Fach überwechseln, aber da war es schon zu spät. So beschloss ich, die Uni ganz hinzuschmeißen und Schauspielerin zu werden. Obwohl es anfangs leicht zu sein schien, wurde ich nie wirklich gut. So ähnlich war es mir schon einmal ergangen, als ich glaubte, Talent zum Malen zu haben, dann aber durch die Aufnahmeprüfung der Kunstakademie fiel. Mein Vater wischte gerade den Boden, als ich mit einem neuen Tattoo zur Tür hereinkam. Es war ein Tiger, mit dem ich meinen Beschluss feiern wollte, nie wieder zur Uni zu gehen. Mein Vater hörte mir zu, sein Blick war an die geschwollenen Mäander des Tattoos geheftet. Er sagte, ich würde immer mehr wie Mutter, das mache ihm Angst. Ich sagte ihm, als Schauspielerin würde ich viel Geld verdienen. Ich würde dafür sorgen, dass es ihm an nichts fehlte. Später bereute ich, das gesagt zu haben. Zwar ließ er mir mein tagelanges Wegbleiben von zu Hause kommentarlos durchgehen - mal sagte ich ihm, ich müsse in einer anderen Stadt Regisseure treffen, mal musste ich an einem Schauspiel-Workshop teilnehmen -, doch wenn er beim Putzen irgendetwas von mir auf dem Boden herumliegen sah, fing er immer an zu zetern, ich solle ihn doch alleine leben lassen, er wolle endlich wieder heiraten. Dann beruhigte er sich und fragte mich, wann es denn nun so weit sein würde, dass ich Geld nach Hause brächte. Ich fing an, mir zu wünschen, dass er wieder zu seiner zweiten Frau zurückkehren und uns einfach vergessen möge wie vor dem Tod meiner Mutter. Eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen er Interesse an meinem Leben gezeigt hatte, war jene, als er - unbemerkt von seiner neuen Frau - in mein Zimmer geschlichen war, um mein Handy zu durchsuchen. Er wollte sehen, ob ich mit meiner Mutter kommunizierte. Nach ihrem Tod hatte er immer wieder versucht, aus uns herauszukitzeln, was genau wir über die Umstände von Mutters Tod wussten.
Trotzdem wünsche ich mir jene Tage zurück. Damals war es immerhin noch besser als heute, wo er die ganze Zeit hier herumsitzt und jeden meiner Schritte überwacht.
Mein Name ist unwichtig. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt. Wenn Sie mir eine Zigarette geben würden, wäre ich Ihnen dankbar.
Wissen Sie, warum ich so bin? Der Unterschied zwischen mir und Ihnen ist, dass Sie im Gegensatz zu mir Wurzeln haben. Wurzeln, die tief in die Erde reichen. Deshalb wirken Sie so adrett und sauber, deshalb ist Ihr Lächeln so schön. Und deswegen wirke ich so vertrauensunwürdig. Was uns zerbricht, das rettet uns. Das ist so etwas wie ein Gesetz. Wenn ich als Jugendliche ausgeschimpft wurde, dann nannte man mich immer ein wurzelloses Teufelskraut. Das verletzte mich nicht, denn jene wütend dahingeworfene Beleidigung entsprach weitestgehend der Realität. Oder vielleicht habe ich sie auch einfach verinnerlicht. Ich pflegte mein Umfeld genau zu beobachten, auf der Suche nach der Ursache für mein Sosein: so fernab jeder Vertrautheit, jeder tieferen Bindung, so fern von all dem Geplauder, Gezanke und Gelächter, das mich umgab und doch ausschloss. Die Wurzeln der anderen konnte ich genau sehen. Etwa die, die sich in den häuslichen Spiegel geschlagen hatten, vor dem ein Mädchen stand und sich prüfend begutachtete, bevor sie aus dem Haus ging, nach draußen, wo in jedem Winkel ihre Verwandten und Brüder und Freunde auftauchen könnten und exakt wissen würden, was zu tun, was zu sagen war. Sie schienen darauf abgerichtet zu sein. Wie seltsam: abgerichtet auf Alltagsgespräche, Streitigkeiten und darauf, die richtigen Dinge einzukaufen. Vertrautheit schien durch ein unsichtbares, komplexes Geflecht aus miteinander verzweigten Kanälen zu plätschern. Ich fühlte mich nicht immer willkommen. Obwohl ich mich daran erinnere, wie ich oftmals versuchte nachzuahmen, was ich um mich herum sah. Ich war gar nicht einmal so schlecht darin. Aber jene Erde war nicht meine Erde. Es war unübersehbar: Sie spuckte mich aus. Ich wuchs nicht so wie meine wurzelbestückten Widersacher, die es schafften, mir alles, was ich begehrte, zu verderben. Es musste erst viel Zeit vergehen. Erst vor nicht allzu langer Zeit erfuhr ich, dass das, was uns zerbricht, uns rettet und dass ich meinen Trumpf in der Tasche habe, seit ich geboren bin. Und als ich sie so sah, wie sie starr in schmutziger Erde steckten, billige Elemente, da regte sich die Erde und stülpte sich nach innen. Aller Ruhm war nun dem Unkraut, das sich mühelos mit dem Wind vermehrte. Gelobt sei der Name des Herrn. Möge sein Wort auf die Erde niederkommen wie ein Schwerthieb. Der Ruhm gehörte fortan mir, meinem windigen, blauen Element und jenem zusätzlichen, hässlichen Auge, das sich mir auf der Brust geöffnet hatte und das man mir so lange zu zeigen verboten hatte, außer als Narbe. Das Jüngste Gericht war gekommen, die Erde gehörte mir.
Vor einem Jahr bin ich hierhergekommen, in diese Stadt. Vor meiner Reise hatte ich geglaubt, dass ich mich hier endlich zu Hause fühlen würde, unter all den Freaks, die es hier gibt. Ich dachte, hier würde ich mich nicht fremd fühlen wie in meiner Heimat. Doch es kam anders. Wissen Sie eigentlich, wie unmöglich es hier für mich ist, einen Job zu bekommen? Man findet mein Aussehen komisch. Die blauen Strähnen in meinem Haar, den fetten dunklen Lidstrich, die Silberringe in meiner Unterlippe und in meiner Augenbraue, meine mit Tätowierungen überzogenen Arme: Keiner möchte mich damit einstellen. Klar, ich könnte mir fürs Vorstellungsgespräch einfach ordentliche Kleidung anziehen, meine Piercings abnehmen und meine Tattoos unter langen Ärmeln verstecken. Aber das meine ich nicht. Dieses Erscheinungsbild ist doch dafür da, dass wir uns untereinander erkennen. Dass wir erst gar niemandem vormachen, wir hätten so etwas wie Verantwortungsbewusstsein. Dass wir keine Mühe in den Umgang mit Leuten stecken, die uns ohnehin nicht akzeptieren würden. Wir sind wurzellos. Das ist es. Und einfach war es nie. Deswegen bin ich hier. Mir ist kalt von dem ganzen Herumstehen hier auf der Straße und dem Sprechen mit Menschen, die es alle so unglaublich eilig haben.
Mein Name ist unwichtig. Ich bin siebzehn Jahre alt. Sie können mich Samt nennen.
Ich war allein zu Hause. Ich rief meinen Vater an, ich wollte ihn um Geld bitten, um damit Essen zu kaufen. Er sagte, ich solle ruhig vorbeikommen, aber bitte so, dass seine Frau nichts davon mitbekommt, also legte ich auf und lief hinunter in den Park. Dort saß ich eine Weile, als zwei junge Männer, die ebenfalls im Park herumlungerten, versuchten, mir über einen Straßenjungen einen Gruß zu übermitteln, indem sie mir eine Packung Kaugummis durch ihn überbringen ließen. Mit einem Ruck stand ich auf und zog mich schnellen Schrittes ans andere Ende des Parks zurück, wo der Kinderspielplatz war.
Ich suchte mir eine freie Bank und setzte mich hin. Einige Minuten später setzte sich eine Frau mit Kopftuch und braunem Teint neben mich. Sie war groß und schlank und wirkte wie um die vierzig. Mein Gott. Die hatte bestimmt Wurzeln, die ganz tief reichten. Die kümmerte es bestimmt nicht, was andere über ihr Leben sagten. Sie zog ein Falafelsandwich aus einer sauberen Tüte, zerteilte es und gab mir die Hälfte. Ich schämte mich in Grund und Boden, da mir, seit ich den ersten Bissen genommen hatte, Tränen in Strömen die Wangen hinunterliefen. Das Brot war warm, die Falafel noch heiß, und die Frau schien tatsächlich tiefreichende Wurzeln zu haben, denn sie überschüttete mich nicht etwa mit Mitleid, sondern wartete, bis ich mich ein wenig beruhigt hatte. Dann sagte sie, ohne mich etwas zu fragen, dass sie auf dem Land Alphabetisierungskurse gebe. Ich solle doch auch arbeiten, dann würde es mir bestimmt besser gehen. Ich könne gerne mit ihr arbeiten. Sie fragte mich nach meinen Eltern, worauf ich ihr sagte, dass sie verreist seien. Mir schien, dass ihr das missfiel. Dann fragte sie mich nach meiner Festnetznummer. Ich muss da irgendwie hineingeschlittert sein, denn ich gab ihr unsere richtige Nummer. Obwohl ich ihr so leicht eine falsche hätte geben können.
Ich dankte ihr, ging nach Hause und bereute alles. Würden meine Eltern erfahren, dass ich einer fremden Frau im Park mein Herz über unsere Familienprobleme ausgeschüttet hatte, würden sie mir die Hölle heiß machen. Ich wünschte mir von ganzem Herzen, dass sie bloß nicht anrufen würde. Doch sie rief an.
Mein Name ist unwichtig. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt. Sie können mich Samt nennen.
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