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Das war der letzte Tag von Asrars und Hinas Leben.
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Das Meer bei Mumbai war in Aufruhr. Es wollte den Krieg gewinnen, der seit Jahrhunderten im Gange war, und die Insel einnehmen. Haushoch türmten sich die Wellen und schlugen wütend den Kopf an die Ufer. Sie stiegen so hoch, als wollten sie den Himmel berühren. Beim Anblick dieser kampflustigen Wellen konnte es einem angst und bange werden. Seit drei Tagen regnete es in der Stadt, und jetzt stand auf den Durchfahrt- und Hauptstraßen ebenso wie in den engen dunklen Gassen das Wasser kniehoch. Am Himmel war nichts zu sehen außer schwarzen Wolken. Die Stadt hatte vergessen, wie es war, wenn die Sonne schien. Am Himmel gab es Löcher, aus denen in Strömen das Wasser herabfloss. Es war, als stünden gar keine Wolken am Himmel, sondern ein Wasserfall. Das Meerwasser war bereits tief in die unterirdischen Kanäle eingedrungen. Das Regenwasser konnte nicht mehr abfließen. In den großen Kanälen kämpften Meer- und Regenwasser miteinander, in der Folge barsten die Betonwände der Kanäle und das vermischte Wasser drang weiter in die inneren Erdschichten vor. Immer wieder ertranken Bewohner der an die Regenwasserkanäle angrenzenden Siedlungen. Durch den Aufruhr im Mithi-Fluss war ein großes Gebiet überschwemmt worden. In den meisten Stadtteilen gab es keinen Strom. Die tiefliegenden Stadtteile boten ein erschreckendes Bild von Chaos und Zerstörung. Zwischen Stadtverwaltung und Regierung und der Bevölkerung war die Verbindung abgebrochen. Soweit sich die auf der Insel lebenden Menschen erinnerten, hatte es noch nie einen so heftigen und anhaltenden Regen gegeben.
Im Tempel von Mumba Devi im Herzen der Stadt herrschte eine unheimliche Stille. Die Göttin sah unendlich verzweifelt aus. 6000 Jahre vorher, einige Tage vor dem Kampf mit »Mumba-Raka«, hatte Brahma in ihrem Gesicht dieselbe Verzweiflung gesehen. Als nach der Niederlage von Mumba-Raka der Tempel von Mumba Devi errichtet wurde, hatte Brahma sich selbst in den Tempel begeben, um seine Glückwünsche zu übermitteln. Als im Tempel das Standbild von Mumba aufgestellt wurde, lag auf ihrem Gesicht eine unbestimmte, unerklärliche Stille. Hatte an jenem Tag Brahma Mumba die Zukunft von Mumbai vorausgesagt? Gab es außer Brahma noch eine andere Macht im Universum, die wusste, welcher Kummer das natürliche Lächeln auf Mumba Devis Antlitz in eine dumpfe Stille verwandelt hatte?
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Asrars Vater Malik Deshmukh und seine Kindheitsfreunde Sajid Solkar und Abid Solkar betrieben Fischerei an der indischen Westküste. Ihr Dorf, das direkt am Arabischen Meer lag, hieß Mabaad-Morpho oder »Meta-Morpho« und das Boot »Königin des Meeres«. In Mabaad-Morpho war Malik Deshmukhs Boot berühmt. Wenn die »Königin des Meeres« vom Fischfang in den reißenden Wogen zurückkehrte, teilten die drei Freunde den Fang untereinander auf, und ihre Frauen verkauften die Fische auf den lokalen Märkten. Das Meer, das Boot und die Fische waren ihr Leben. Dem Fischfang widmeten sich die drei Freunde mit all ihrer Kraft, und vom Erlös des Fischfangs lebten sie, wenn man auch kaum von wirtschaftlichem Erfolg sprechen konnte. In ihren Köpfen waren sie von der Vorstellung besessen, irgendwann einmal viel Geld zu verdienen, aber ihr Schicksal sah das nicht vor. Was ihnen bevorstand, war im Gegenteil ein extrem unglücklicher Tag. Es geschah so, dass an jenem Tag die »Königin des Meeres« in einen Strudel geriet. Alle drei Freunde waren mit den Stimmungen, Launen und Verhaltensweisen des Meeres vertraut. Ihr ganzes Leben hatte sich schließlich auf den Wellen des Meeres abgespielt. Gewöhnliche Strudel im Meer hatten sie Hunderte von Malen gesehen. Aber das, was heute auf einmal vor ihren Augen auftauchte, spottete jeder Beschreibung. Von Strudeln dieses Ausmaßes hatten sie nicht einmal ihre Eltern erzählen hören. Sie sahen einander an. Zeit, einander auch nur ein Zeichen zu geben, blieb nicht, ganz zu schweigen von Worten. Sie sprangen ins Meer.
Nur einer von ihnen erreichte das Ufer. Nur Abid Solkar konnte sich retten. Nach Malik Deshmukh und Sajid Solkar suchte man am Meeresufer und im Wasser, aber alle Anstrengungen blieben erfolglos.
Zwei oder drei Wochen später wurde am Strand von Mabaad-Morpho ein abgebrochenes Stück der »Königin des Meeres« angeschwemmt. Die Leute staunten, als sie sahen, dass es der Teil des Bootes war, auf dem der Name stand.
Gleich nach diesem unerwarteten Ereignis geschah noch etwas Seltsames, das einige Tage lang in Mabaad-Morpho für Aufsehen sorgte. Es war so, dass am Abend des Tages, an dem das abgebrochene Stück der »Königin des Meeres« an den Strand des Ortes gespült worden war, jemand dieses Stück Holz aufgehoben und auf eine erhöhte Plattform gelegt hatte, die am Ufer stand. Am folgenden Tag konnte man zehn, zwölf Delfine in Ufernähe auf und ab schwimmen sehen. Die Delfine schienen immer wieder hochzuspringen, um auf die Plattform schauen zu können, wo das abgebrochene Stück der »Königin des Meeres« lag. Zuerst nahm niemand die wenigen ernst, die das Verhalten der Tiere bemerkten und es anderen gegenüber äußerten. Es hieß sogar, heutzutage hätten manche Leute angefangen, sogar tagsüber zu trinken. Als sich allerdings am dritten, vierten und fünften Tag dasselbe Schauspiel bot, festigte sich unter den Dorfbewohnern die Überzeugung, dass hier etwas Besonderes und Bedeutsames vorging. Jemand ging, um Abid Solkar davon zu berichten. Seit er nach dem Untergang der »Königin des Meeres« als einziger heil ans Ufer gelangt war, saß Abid Solkar zu Hause. Als er von den Delfinen hörte, stand er sofort von seinem Lager auf und ging zum Strand. Am Ufer war über die Hälfte der Einwohner von Mabaad-Morpho versammelt, um die Delfine zu beobachten. Als die Leute Abid Solkar kommen sahen, liefen sie zu ihm. Er schüttelte einigen alten Männern die Hand und wandte seine Aufmerksamkeit dann den Delfinen zu. Sie waren nicht sehr weit vom Ufer entfernt. Abid Solkar machte ein nachdenkliches Gesicht. Er stieg auf die Plattform. Von dort schaute er zu den Delfinen hin und schwenkte beide Arme. Die Leute, die am Ufer standen, schauten zuerst zu Abid Solkar, dann zum Meer. Staunend sahen sie, dass plötzlich alle Delfine im Meer wieder und wieder hochsprangen. Dieser Tanz der Delfine dauerte eine halbe Stunde an. Danach verschwanden sie.
Als die Delfine verschwunden waren, stieg Abid Solkar von der Plattform herunter. Die Leute umringten ihn. Ein Mann namens Karim Mujaver trat vor und machte einen Witz: »Also ehrlich, trinken jetzt auch noch Delfine Alkohol?« Die Menge brach in Gelächter aus. Minutenlang schüttelten sich die Leute vor Lachen und wollten sich gar nicht mehr beruhigen. Das lag wohl weniger an der witzigen Bemerkung als an dem Umstand, dass bekanntermaßen Karim wenige Tage zuvor eine Schnapsbrennerei aufgemacht hatte.
Als wieder etwas Ernst eingekehrt war, fragte ein älterer Mann: »Abid, was war da los?« Abid Solkar, der Mann, der dem Rachen des Todes entkommen war, erklärte, dass das Verhalten der Tiere seinen Ursprung in früheren Begegnungen zwischen der »Königin des Meeres« und den Delfinen hatte. Wenn die drei Freunde zum Fischen hinausgefahren waren und ihr Boot weit draußen im Meer ankerte, waren bisweilen in ihrer Nähe solche Tiere im Wasser hochgesprungen und hatten die Fischer angeschaut, und sie hatten dann zurückgeschaut und dabei die Arme geschwenkt. Nachdem er das gesagt hatte, wandte er sich um und ging. Die Menge sprach noch lange über dieses Thema. Konnte es wirklich solch eine Verständigung zwischen Mensch und Tier geben? Waren die Delfine tatsächlich dem Rest des gesunkenen Bootes gefolgt und hatten gewartet, dass der Fischer ihnen durch Armeschwenken antwortete? Schließlich gelangte man zu dem Schluss, das sei nicht möglich. Ja, es sei wohl möglich, dass einer, der dem Tod von der Schippe gesprungen war, sich nicht von dem Schlag erholte. Auch wenn sie es nicht aussprachen, bezweifelten viele Dorfbewohner, dass Abid ganz klar im Kopf war.
Freilich sah man nach diesem Tag keine Delfine mehr in Ufernähe, und dass sie nicht mehr auftauchten, bestätigte letztlich doch das, was die Leute für unglaublich hielten.
Nach dem Tod von Malik Deshmukh sorgte seine Frau Hasina Deshmukh durch den Verkauf getrockneter Fische für den Lebensunterhalt der Familie und die Ausbildung ihres Sohnes Asrar. Asrar wusste, wie sehr sich die Mutter abrackern musste, um sich und ihn durchzubringen. Als er die Prüfung der 10. Klasse abgeschlossen hatte, sagte er ihr noch am selben Abend, er werde nach Mumbai gehen und irgendein Handwerk lernen oder eine Arbeit annehmen. Die Mutter versuchte lange, ihn davon abzubringen, aber er ließ sich sein Vorhaben nicht ausreden. Er sagte der Mutter, dass noch drei weitere Jungen aus seiner Schule mitgingen. Sie alle würden in Mumbai in der »Unterkunft der Gemeinschaft« wohnen. Das war eine Wohnung oder eigentlich ein großes Zimmer in Mumbai, die der Dorfgemeinschaft gehörte und als Standort für junge Männer diente, die aus Mabaad-Morpho in die Stadt zogen und eine Unterkunft brauchten. Jeder, der aus dem Dorf nach Mumbai kam, konnte zu einer günstigen Monatsmiete hier wohnen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts unterhielten die meisten Dörfer des Küstenstreifens am Arabischen Meer solche Unterkünfte in Mumbai. Als die Mutter verstand, dass Asrar alles gut überlegt hatte, nicht allein in die Großstadt ging und auch über seine Unterbringung nachgedacht hatte, ließ ihre Besorgnis etwas nach, und sie...
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