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Beirut, August 2015
Da lag sie, die Stadt, ockerfarben, undurchdringlich, Häuser unter milchigem Dunst. Eine Promenade am Meer, gesäumt von Palmen. Auf einer Anhöhe über dem Wasser ein Riesenrad. An den fernen Hängen das Blinkern blauer Pools, Morsezeichen des erwachenden Tages. Über dem Süden der Stadt setzte das Flugzeug zur Landung an. Welcome to Rafic Hariri International Airport.
Robert Landauer löste den Gurt, hob seine Reisetasche aus dem Gepäckfach, legte das Sakko über den Arm und strich es glatt. Seine Lesebrille hatte er vor der Landung immer wieder geputzt und in den Kegel der kleinen Lampe an der Kabinendecke gehalten, bis er die prüfenden Blicke seines Sitznachbarn spürte.
Footprint Travel Guides - Lebanon & Syria, den Reiseführer, den er nach vergeblicher Suche in Berlin bei einem Onlinehändler in Sussex »gebraucht wie neu« erstanden hatte, verstaute er zusammen mit der Brille in der Reisetasche. Trotz mehrfacher Anläufe war er über das Kapitel »Before you travel« nicht hinausgekommen. Nach wenigen Absätzen waren ihm, ein Finger als Lesezeichen zwischen den Seiten, die Augen zugefallen.
Ein Flughafenbus brachte ihn zum Terminal. An andere Passagiere, meist Einheimische, gedrängt, mit einer Hand die fleckige Haltestange aus Metall umklammernd, an der anderen den Geruch abgegriffener Münzen, über ihm das Gebläse der Klimaanlage, fühlte er sich auf demütigende Weise verfrachtet. Er hatte es nicht anders gewollt.
Auf dem Gang zur Gepäckausgabe begleitete die Ankommenden eine Fotoausstellung; brennende Häuser, zerstörte Straßen, Checkpoints, ausgebrannte Panzer, MG-Nester, Frauen, die vor Schmerz und Trauer ihre Arme in die Höhe streckten: Bilder des libanesischen Bürgerkriegs. Die Fotos erst schwarz-weiß, dann in Farbe aus der Zeit nach dem Morden, als die Stadt wieder zu wachsen beginnt, ungestüm, ehrgeizig wie Rio oder Abu Dhabi, Global Money für die Zukunft, neue Straßen wie mit dem Besen gekehrt. Die diese Stadt einst zertrennende »grüne Grenze« nur noch ein Riss in der Seele derer, die nicht vergessen können.
Vor dem Flughafengebäude hielt er nach einem Taxi Ausschau, roch den Atem der fremden Stadt, schmeckte Salz auf der Zunge und spürte den Wind, der vom Meer herüberkam, sanft, schwer und heiß. Das Sakko hatte er sich über die Schultern gelegt.
Er winkte ein Taxi heran. Der Wagen hielt, der Fahrer rief ihm durch das geöffnete Fenster etwas zu. Landauer hörte, wie jemand hinter ihm lachte.
Er wandte sich um. »Gehört Ihnen«, sagte die junge Frau. Sie sprach Deutsch mit einem leichten Akzent. Landauer tippte auf den Norden Europas und fragte sich, woran sie seine Nationalität so mühelos hatte festmachen können. Natürlich - in seiner Sakkotasche steckte zusammengerollt der ungelesene Berliner Tagesspiegel.
»Ich bitte um Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen, nehmen Sie es, bitte.« Für einen Moment standen beide unschlüssig nebeneinander.
Der Fahrer stieg aus und öffnete den Kofferraum. Er trug ein eng anliegendes, modisches T-Shirt, eine Ray-Ban-Wayfarer-Brille, sein Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Hamra, West-Beirut. Und Sie?«, sagte die Frau. Sie hatte kurz geschnittenes blondes Haar, Pixie-Cut, fast jungenhaft.
»Crowne Plaza Hotel«, sagte er.
»Hamra und Hamra«, sagte der Taxifahrer auf Englisch, griff mit der einen Hand Landauers Reisetasche, mit der anderen den Koffer der jungen Frau, wuchtete sie ins Auto und hielt die hintere Tür auf. »Selber Preis«, sagte er.
Die junge Frau stieg ein, Landauer ging um den Wagen herum und nahm neben ihr Platz.
Sie nannte eine Adresse, Rue Mansour Jurdak, nahe der saudischen Botschaft. Sie schien nicht das erste Mal in der Stadt zu sein.
»Diana Towers Hotel«, sagte der Fahrer. »Und Sie, Mister, Crowne Plaza? Bei geöffnetem Fenster können Sie sich heute Abend gegenseitig aus der Zeitung vorlesen.« Sein Englisch war sicher. Er legte den Gang ein und fuhr an.
Nach kurzer Zeit hatte die junge Frau ihn in ein Gespräch verwickelt, Englisch, Französisch, ein paar Brocken Arabisch, der Fahrer parierte, als sei es Teil des Geschäfts. Sie fragte nach dem Wetter, den Flüchtlingen aus dem Nachbarland, neuen Anekdoten aus der Politik und dem stumm geschalteten libanesischen Parlament, und ob es das Restaurant Soundso im Stadtteil Gemayze noch gäbe. Nicht mehr? Shit. Too bad.
What a pity, sagte der Fahrer.
Merde. Sie ließ sich nicht beirren.
Landauer sah aus dem Fenster. Taxis, Lastwagen und abgedunkelte Limousinen von Mercedes, Audi, BMW oder Lexus glitten an ihm vorbei, die Kennzeichen aus Beirut, Jounieh oder Damaskus.
»Kennen Sie Beirut? Auch den Süden, al-Dahiye, das dunkle Fenster der Stadt? Haben Sie Lust auf ein Abenteuer?«
Unvermittelt hatte sie sich ihm zugewandt. Landauer wusste nicht, was er antworten sollte.
»O.k. Versuchen wir es«, sagte sie und legte dem Fahrer die Hand auf die Schulter. Ob er bereit wäre, die Stadtautobahn zu verlassen und die Route durch den Osten der Stadt zu nehmen. In Cola könne er wieder auf die Hauptstraße. Der Fahrer schüttelte bestimmt den Kopf. Sie wandte sich wieder Robert Landauer zu.
»Hisbollah-Gebiet, die ganze Gegend hier auf der rechten Seite. Ich finde, das sollten Sie sehen. An uns haben sie kein Interesse. Es sei denn, Sie sind ein saudischer Prinz, der eine Menge Lösegeld verspricht, und auf dem Weg zu Ihrer Villa in den Bergen.«
Landauer sah im Rückspiegel den Hilfe suchenden Blick des Fahrers.
»Nicht kneifen«, sagte sie.
»Sind Sie sicher, dass dieses kleine Manöver nicht leichtsinnig ist?« Er mochte die Stimme nicht, mit der er das sagte.
»Leichtsinnig?« Sie lachte und zog eine Marlboro Light heraus. »Rauchen Sie?«
Landauer verneinte, als junger Mann gelegentlich, irgendwann habe er aufgehört, er wisse nicht mehr, wann. Sie reichte dem Fahrer eine Zigarette, er betrachtete sie, steckte sie sich hinters Ohr.
»Wenn er unser kleines Manöver tatsächlich ausführt, dann nicht wegen einer blöden Zigarette. Und nicht für tausend Dollar. Sondern weil er ein Mann ist«, sagte sie. Der Fahrer fluchte vor sich hin, schüttelte den Kopf und nahm, ohne die Geschwindigkeit zu verringern, die nächste Ausfahrt. Der Wagen begann zu rumpeln, nachdem sie abgebogen waren und nun parallel zur Stadtautobahn in Richtung Norden fuhren. Trotz der Schlaglöcher und der herumliegenden Müllreste nahm der Fahrer den Fuß kaum vom Gas, am Straßenrand glitten Werkstätten für Lastwagen, alte Mercedes-Trucks mit Wassertanks vorbei, Frauen in schwarzen Tschadors, Stände für Gemüse und Obst. Der Mittelstreifen war nur noch eine Spur aus Sand, Gestein, darauf leere Plastikkanister, alte Autoreifen. An den Laternenmasten hingen Bildnisse eines schwarz gewandeten, aus wachen Augen herabblickenden Mullahs. Fotos und handgemalte Plakate.
»Hassan Nasrallah. Ihn für ein Interview zu bekommen wäre für mich der Jackpot. Keine Chance. Jede Nacht ein anderes Bett. Einer der international meist gesuchten Männer. Dem südlichen Nachbarn würde es schon reichen, nur einen Arm oder ein Bein von ihm zu bekommen, bislang hat auch das nicht geklappt.«
Der »südliche Nachbar«. Israel. Auch seinetwegen war er hier und tastete in der Innentasche seines Sakkos nach dem Pass, den er sich für diese Reise neu hatte ausstellen lassen, ohne verräterische Stempel.
Ob sie genug gesehen hätten, wollte der Fahrer wissen. Ohne ihre Antwort abzuwarten, bog er nach Westen ab, Richtung Meer, wenig später waren sie wieder auf der Schnellstraße. Landauer spürte, wie die Anspannung wich. Der Kragen seines Hemdes war nass.
»Sie sind Journalistin?«
»Ich arbeite an einer Artikelserie über den neuen, sich gerade mal wieder selbst abschaffenden Nahen Osten. Ursprünglich eine kleine Reportage über die Ermordung Jitzchak Rabins und das trübe Jubiläum der Friedensverträge. Israel und die Rechten, Israel und die Palis. Aber wenn man in dieser Region einmal beginnt, ist es schwer, wieder ein Ende zu finden. Und einen Anfang auch. Lauter lose Fäden.«
»Rabin. Das ist zwanzig Jahre her. November 1995. Yigal Amir, am Platz der Könige. Drei Geschosse, selbst gebaute Dum-dum. Die Ärzte hatten bei Rabin keine Chance.«
»Sie sind Arzt?«
»Nicht für so etwas.«
»Aber Sie scheinen sich in der Region auszukennen.«
»Früher einmal, ja . vielleicht.«
Durch die Frontscheibe sah er auf einer Anhöhe das Riesenrad, das er vom Flugzeug aus entdeckt hatte. Verloren und stumm stand es dort, als wären die Schausteller längst weitergezogen und hätten das stählerne Gerüst von der Farbe getrockneten Bluts zurückgelassen, als Geschenk, als Mahnung, als Fluch.
»Hinter mir liegt eine Woche Kairo«, sagte die junge Frau. »Jetzt ein paar Tage Beirut. Anschließend über Istanbul nach Tel Aviv. Direkt geht nicht. Wenn in Israel tatsächlich einer den Mund aufmacht, geht es von da aus retour an den Schreibtisch. Amsterdam. Ressort Außen- und Sicherheitspolitik bei deVolkskrant. Vorne mit kleinem d, schließlich sind wir ein kleines Land und interessieren uns vielleicht auch deswegen ganz besonders für andere kleine Länder.« Sie lachte, frei und unbeschwert.
Ihr Handy klingelte, sie blickte auf das Display, ließ es wieder in die Tasche gleiten. »Mein Fotograf. Er erwartet mich im Hotel.«...
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