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Eine Zeit lang hatte er versucht, die Anzahl der Gleisstücke von Berlin bis nach Genua zu errechnen, die, eng verschraubt und mit einem rhythmischen Klackern, unter ihnen hindurchflogen. Dreißigtausend, dreißig Millionen oder irgendetwas dazwischen? Ein einfaches Gleisjoch war, das hatte Vater ihm einst erzählt, fünfundzwanzig Meter lang. Immer wieder setzte er an, fand aber, er, der ansonsten so sicher mit Zahlen umgehen konnte, keine passende Formel und schlug erneut das Buch auf seinem Schoß auf, las - zum wie vielten Mal? - die ersten Zeilen. Das gleichmäßige Tackern des Zuges machte ihn schläfrig. Ihm fielen die Augen zu, und die ersten Zeilen zogen an ihm vorbei, vertraut von Jugend an.
Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging in das Gebirge .
Er hatte Nietzsches Zarathustra vor der Abfahrt nach Genua mit schnellem Griff aus dem Regal gezogen, das Buch sollte ihn auf der langen Fahrt in den Süden begleiten.
Für das, was vor ihm lag, brauchte er Kraft, Geschick und einen untrüglichen Instinkt für das Mögliche. Er war der Leiter der deutschen Delegation auf der großen Wirtschaftskonferenz in Genua, auf ihm ruhten alle Erwartungen der Regierung.
Die internationale Konferenz sollte für die junge Republik die große politische Bühne sein. Und er darauf ihr Zauberer. Hatte nicht der Reichskanzler gerade ihn berufen, damit er mit seiner Weltläufigkeit, seiner Reputation, seiner Redegewandtheit Deutschland international wieder salon- und satisfaktionsfähig machen würde?
Neunundzwanzig Staaten waren geladen. Nach dem Krieg sollte es für alle wieder bergauf gehen. Für alle?
Kurz bevor sie in das Dunkel des erst seit Kurzem elektrifizierten Gotthard-Eisenbahntunnels hineinglitten, klappte er das Buch zu und legte den Kopf zurück. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Für einen Moment kam es ihm so vor, als würde er nie wieder richtig schlafen können.
Wenige Tage später stand er am offenen Fenster seiner Suite im Hotel Eden. Es war die Nacht auf Ostersonntag, und er konnte nur noch ein Wort denken: Abreise.
Er blickte hinaus in die Dunkelheit, sah Lichter in den Straßen und Gassen blinken, hin und wieder klang aus dem Hafen ein Nebelhorn herauf, rollte wie ein kleiner Donner zwischen den Häuserzeilen entlang und verlor sich wieder. Ein allzu kühler, vom Meer kommender Wind strich über die Häuser der Stadt, für die Jahreszeit zu kalt. Er zog den Gürtel des Morgenmantels enger. Kein Stern war am Himmel zu sehen. Nur Nacht.
War es das gewesen? Das Ende. Sein Ende?
Er hatte vor der Abreise all die Erwartungen gespürt und Lili - nur Lili gegenüber - gesagt, er könne zwar nicht zaubern, aber diese Art Bühne gefalle ihm. Sie sei gerade groß genug, um sich endlich angemessen entfalten zu können.
»Was, wenn das Stück durchfällt oder die Hasen nicht aus dem Zylinder hüpfen«, hatte sie gesagt, halb lachend, aber da war wieder dieser andere Ton, vielleicht gar diese andere Lili mit einem neuen, verborgenen Ernst, als traute sie ihm, die ihm einst jeden Erfolg zugetraut hatte, nun auch das Versagen zu.
Jetzt wusste er die Antwort auf Lilis Frage und zog den Gürtel noch einmal enger. Spürte zugleich, dass die Kälte mehr aus seinem Inneren kam als durch das noch immer geöffnete Fenster.
Obwohl Reichskanzler Wirth aufgrund der Bedeutung der Konferenz neben Staatssekretären, Protokollanten und Dienern eigens mitgekommen war, stand fest, dass die Verhandlungen vor Ort eine Aufgabe des Außenministers waren, und er so etwas wie der Generalbevollmächtigte.
Seine Strategie war klar: sich über eine Verständigung mit England den Westmächten nähern, allen voran dem in starrer Ablehnungsgeste verharrenden Frankreich.
Lloyd George war selbst aus London gekommen, wie auch viele andere Ministerpräsidenten, darin lag eine Chance. Raymond Poincaré hingegen, der französische Ministerpräsident und zugleich Außenminister, war in Paris geblieben und hatte seinen Verhandlungsführer Barthou geschickt. So würde es ihm möglich sein, von der Seine aus nach Belieben Sand ins Getriebe zu streuen, ohne selbst vor Ort tätig werden und den steinigen Weg des Kompromisses gehen zu müssen. Darin wiederum lauerte Gefahr, das hatte ihm von Beginn an deutlich vor Augen gestanden.
Der Weg führte also über England und von dort nach Paris.
Eine Vereinbarung über die Deutschland auferlegten Lasten zu erwirken war das Ziel, um sich dann im Verbund mit den Westmächten Russland zu widmen. Also ein kleiner europäischer Staatenbund unter Einschluss Deutschlands, mit einem diesem Verbund am Ende assoziierten Agrarland im Osten. Das war der Plan.
Luigi Facta, Ministerpräsident Italiens, hatte Genua als Ort der Konferenz vorgeschlagen, die Russen aber wie die arme Verwandtschaft im einige Kilometer entfernt gelegenen Rapallo untergebracht. Dort allerdings im luxuriösen Hotel Imperial Palace, mit Blick auf die Bucht und die anmutigen Hänge Liguriens, ein Ambiente, das selbst die hartgesottensten Kommunisten milder stimmen würde, mochte Facta gedacht haben.
Was so hoffnungsvoll begonnen hatte, was der Höhepunkt seiner Politik der Annäherung und Erfüllung sein sollte, konnte er jetzt, während er noch immer in die Nacht hinausstarrte, nur noch mit den Bildern eines Theaterstücks ertragen, eher Bauernkomödie als Shakespeare. Aufritt, Abtritt, Tapetentüren, Intrigen, verpasste Anrufe, falsche Bärte und falsche Worte, die Welt der Grand Hotels als Chargenbühne. Das Skript längst geschrieben.
England wollte, das war von Anfang an klar, Deutschland gefügig halten und dabei das ihm zunehmend lästig werdende Frankreich von seinem wachsenden Einfluss auf den Kontinent und seinen Ambitionen zurückdrängen. Frankreich hingegen wollte Deutschland kleinhalten, wenn nicht zerstören, brauchte dazu aber die Engländer.
Russland, auch unter dem Einfluss von Lenins Neuer Ökonomischer Politik, wollte zurück auf die politische Bühne. Die Engländer wollten die Russen einbinden, zu sich herüberziehen, sie wieder salonfähig machen und als Gegengeschäft den Zugriff auf die Ölfelder von Baku erhalten. Frankreich verlangte von Russland einerseits die Rückzahlung der erheblichen Kriegsschulden des Zaren, benötigte das Land allerdings für eine neue Entente gegen Deutschland.
Sie alle wedelten, wenn auch nicht offen, mit einem Teil von Polen, den Russen zum Dank vor die Tür gelegt, ohne dass diese das erneute Unheil ahnten.
Sollte es tatsächlich zu einem Schulterschluss zwischen Frankreich, England und Russland kommen, wie sehr hatte sein Staatssekretär Ago von Maltzan vor diesem Ausgang in Berlin gewarnt, würde man die Lasten, auch die Schulden des Zaren, Deutschland mit auf die Rechnung schreiben, zusätzlich zu den hohen Reparationszahlungen.
Dass es genau so kommen würde, hätte ihm dämmern müssen, als die russische Delegation in Genua zur Weiterreise nach Rapallo eintraf. Lenin war nicht dabei, denn er war schwer erkrankt, die Dämmerung seiner Macht bereits am Horizont, während sein junger Arbeiter- und Bauernstaat sich noch immer in den Wirren der Revolution befand.
Auch er hatte wie alle anderen den Einzug von Bauern in abgerissenen Mänteln und Ballonmützen erwartet. Erschienen war jedoch eine Delegation im Frack neuesten Schnitts, ihr Leiter, Georgi Tschitscherin, beherrschte mehrere Sprachen, darunter ein makelloses, geschliffenes Deutsch. Sie hatten sich, wurde berichtet, bei einem Zwischenstopp in Riga vom besten Schneider der Stadt nach neuestem englischem Schnitt einkleiden lassen.
Schließlich die erste Demütigung: Die Konferenz wurde in Unterkonferenzen und Nebenkonferenzen aufgeteilt, manchmal welche, die gar keine sein durften und im Nachhinein Vorkonferenzen genannt wurden. Deutschland blieb, trotz seines Protests und dem des Reichskanzlers, stets vor der Tür. Nicht zugelassen. Die Franzosen hatten sich durchgesetzt. Zurück in Berlin, würde er sich erklären müssen.
Wer nicht mit am Tisch saß, konnte auch nicht mitreden. Die Dinge hatten begonnen, ihm zu entgleiten. Die Russen wandten sich tatsächlich mehr und mehr England zu, führten nächtliche Gespräche. Die Triple Entente England, Frankreich, Russland schien sich zu bilden, und damit eine stählerne Krause um Deutschlands Hals zu legen. Und um seinen.
War er zu zögerlich gewesen? Hätte er nicht in Berlin schon unterschreiben und das Papier hier aus der Tasche ziehen sollen? Er hatte es nicht gekonnt und konnte es heute noch nicht. Es wäre das Eingeständnis seines Scheiterns.
Nach dem ersten Versuch, in seiner Suite im Hotel Eden Schlaf zu finden, hatte er zunächst an seine Mutter eine Karte, dann an Lili einen Brief aufgesetzt und den Nachtportier gebeten, diese durch den Pagen abholen zu lassen.
L.M., Deinen Brief gestern erhalten. Kälte und Regen -, die Arbeit geht langsam. Auf Wiedersehen!
W.
Er konnte ihr nicht schreiben, dass er, so, wie die Dinge lagen, als Geschlagener, wenig später fraglos aus dem Amt Gejagter, nach Berlin zurückkehren würde.
Für Lili fand er andere Worte:
Das Schlimmste, was geschehen kann, ist passiert: Die Westmächte und Russland haben sich geeinigt und schließen sich zusammen. Wir sind ausgebootet und werden es die nächsten Jahrzehnte sein. Ihrer Willkür ausgeliefert. Ich wollte Deutschland retten und stehe vor dem Aus. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht. Aber wie soll dieses aussehen?
Das Wetter in Genua ist übrigens...
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