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Nora
Mit schüchternen Schritten gehe ich den Flur entlang und die schwarzen Mary Janes an meinen Füßen klackern über den Boden. Die Dinger sind so teuer gewesen, dass es nichts von alldem, was ich bisher als Schuhe bezeichnet habe, auch nur annähernd mit ihnen aufnehmen könnte. Ich schwanke ein wenig, hohe Absätze nicht gewohnt, und noch unvertrauter sind mir die zweihundert Jahre alten Eichenholzdielen unter meinen Füßen. Bildteppiche aus der Zeit vor meiner Geburt und auch vor der Geburt meiner Mutter und wahrscheinlich selbst noch vor der Geburt meiner Großmutter schmücken die Wände und verleihen dem Gebäude eine elegante Anmutung von Alter Welt.
Die Düfte von Minze, Zigarrenrauch und teurem Rasierwasser müssen tief und nachhaltig die Wände durchtränkt haben, denn ganz gleich, wohin ich mich in dieser Schule begebe, ich kann dem Geruch nie entfliehen.
Und auch den Blicken nicht. Oh je, wie sie mich anstarren.
Als sei es nicht schon schlimm genug, am ersten Tag des letzten Schuljahres als neue Schülerin in die Klasse zu kommen, habe ich es auch noch lediglich meinem besonderen Glück zu verdanken, hierher verschlagen zu worden sein. Mitten hinein in diese Schar aus den reichsten, privilegiertesten, elitärsten Menschen, mit denen ich wohl je dieselbe Luft atmen werde. Auch wenn es sich nur um den jugendlichen Nachwuchs dieser Kreise handelt.
Ich zupfe an meiner Schuluniform, und der grün-weiß karierte Rock kommt mir plötzlich zu kurz vor, obwohl ich weiß, dass er mir ein gutes Stück über die Knie reicht. Verglichen mit den anderen Mädchen, die an ihren Schließfächern aufgereiht stehen und mich von Kopf bis Fuß mustern, bin ich noch die Anständigste von allen.
»Ist das die Amerikanerin?«, höre ich ein Flüstern rechts von mir und versuche, nicht zusammenzuzucken.
Denn ich bin nicht nur die Neue, die absolute Außenseiterin . mein ganzes Leben ist in den vergangenen Monaten auf jedem Zeitungsregal in ganz London in leuchtenden Farben für jedermann ausgebreitet worden. All diese jungen Leute haben sich bereits ihre feste Meinung über mich gebildet, und dabei ist der erste Schultag noch nicht mal fünf Minuten alt. Sie haben Fotos von mir im Bikini gesehen, wie ich in meinem Heimatstädtchen in Pennsylvania am Schwimmbecken rumhänge. Sie haben die Schlagzeilen über meine sich geldgierig hochschlafende Mutter gelesen und über unsere schändlichen amerikanischen Sitten. Jede Kindheitserinnerung, jede von einem x-beliebigen Fremden daheim in den Staaten ausgeplauderte Information, selbst die dürftigen Schnipsel und Fetzen, die sie von unserem angeblichen Nachbarn und Freund aufgeschnappt haben . Es ist alles öffentlich breitgewalzt worden, um das Bedürfnis nach Klatsch und Tratsch der Besten und Klügsten dieses Landes zu stillen.
Ich weiß, dass Mom und Bennett mir gesagt haben, ich solle den Kopf hochhalten, einfach über den Dingen stehen. Mich so verhalten, als würde ich mich ganz selbstverständlich in den gleichen Kreisen bewegen wie diese Leute. Aber . das hier ist nun mal die Schule. Und selbst schon daheim in Pennsylvania war die Highschool ganz grässlich für mich. Und dort war ich aufgewachsen, im selben Schmutz und derselben Armut wie alle anderen.
Die Winston Preparatory Academy? Das ist etwas ganz anderes. Mit ihren Jahrzehnten der Geschichte, ihren Gedenkwänden zur Erinnerung an ehemalige Schüler, die zu den führenden Häuptern und Firmenbossen dieser Welt geworden sind, einem Schulgeld von fünfzigtausend Pfund im Jahr und Verhaltens- und Benimmregeln, die ich mir niemals werde merken können.
Meine Bluse mit ihrem weißen Kragen und die Jacke der Schuluniform kleben mir am Leib, als ich es endlich zu meinem Schließfach geschafft habe, und so viele Blicke bohren sich mir in den Rücken, dass mir die Röte, die sich zuerst auf meinem Gesicht gezeigt hat, inzwischen mit Sicherheit bis ganz hinunter an die Zehen gewandert sein muss. Ich ziehe den Ordner mit den Einführungsinformationen für neue Schüler - die monoton einsilbige Frau vom Sekretariat hat ihn mir bei einem Vorabtermin ausgehändigt -aus meiner neuen Ledertasche und blättere zu der Seite, auf der meine Schließfachnummer vermerkt ist.
Nur dass das hier keine normalen Schließfächer aus Metall mit einem Kombinationsschloss sind. Sie bestehen vielmehr aus Holz, ein jedes geschmückt mit einem winzigen Schulwappen, das in die linke untere Ecke geprägt ist. Die Schlösser sind nichts als ein Tastenfeld mit Zahlen, und das Ganze sieht aus wie so eine Art aufgemotzter Bankautomat.
Ich gebe den Code ein, doch noch immer blinkt mich das Licht über dem Tastenfeld rot an. Ich versuche es erneut, aber wieder ohne Erfolg. Vielleicht hat man mir im Sekretariat ja die falsche Kombination gegeben? Meine Güte, ich bin wahrscheinlich das einzige Mädchen an der Winston, das derart grundlegende Schulprobleme hat. Ich lese mir den kurzen Absatz darüber durch, wie sich das Schloss zurücksetzen lässt, und mache mich sofort ans Werk. Als das Licht endlich grün blinkt, seufze ich erleichtert auf. Am liebsten würde ich mein flammend rotes Gesicht sofort in der Dunkelheit des Schließfachs verstecken.
Doch als ich die Holztür öffne, springen rote und weiße Luftballons heraus und die Wände des Schließfachs sind über und über mit Paparazzifotos von meiner Mutter und ihrem zukünftigen neuen Ehemann beklebt, als sei es Geschenkpapier. Von irgendwo im Fach beginnt Miley Cyrus' »Party in the USA« zu spielen, so laut, dass alle im Flur die prägnanten Gitarrenakkorde hören können.
Ein Gefühl der Demütigung, durchdringend und pochend wie eine rot entzündete Wunde, rieselt mir über den Rücken und mich überläuft es abwechselnd heiß und kalt. Ich kenne natürlich niemanden hier, und so kann ich auch nicht wissen, wer dahintersteckt. Ich weiß nur, dass irgendwie vor mir schon jemand anderes an mein Schließfach herangekommen ist, und dieser Jemand, wer auch immer es war, hat mir eine Botschaft zukommen lassen.
Mehrere Mädchen, die ein paar Meter weiter auf dem Flur beieinanderstehen, brechen in schallendes Gelächter aus. Sie tragen kurze Röcke sowie makelloses Make-up und verletzen die hier geltende Kleiderordnung überhaupt in mannigfacher Weise. Mit nach diesem Streich vermutlich weit geöffnetem Mund fahre ich zu ihnen herum. Eines der Mädchen mustert mich mit frech hochgezogener Braue, dann stapft sie davon und die anderen schließen sich ihr an, während die übrigen Schüler im Flur auf mich zeigen und lachen.
Mir wird bewusst, dass Miley immer noch weitersingt, und so knalle ich das Schließfach zu, was nur noch mehr Aufmerksamkeit auf mich lenkt.
»Schau nicht so drein wie ein panisches Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank, dann lassen sie dich womöglich in Ruhe.«
Die Stimme durchdringt meine Verlegenheit, kitzelt mir mit ihrem tiefen Timbre und ihrem britischen Akzent am Hals.
Ich wende unwillkürlich den Kopf dorthin, woher die Stimme kommt. Als Erstes fällt mir das Winston-Wappen auf der Standardjacke der Schuluniform ins Auge. Und dann wandert mein Blick immer höher und höher, bis ich den Kopf fast in den Nacken legen muss.
Der Erste aus dem Kreis meiner Mitschülerinnen und Mitschüler, der sich die Mühe gemacht hat, das Wort an mich zu richten, ist groß . mehr als einen Kopf größer als ich. Der Blick der dunkelgrünen Augen fast so dunkel wie die Schuluniformjacke, die von seinen breiten Schultern ausgefüllt wird, begegnet meinem. In diesem Blick liegen Verurteilung, ein Anflug von Ärger und eine ganze Menge Sarkasmus. Die dazu von Lippen von der Farbe zerdrückter Kirschen ausgesprochenen Worte passen nicht zum Gesichtsausdruck des Sprechers. Dieser Junge mit dem rabenschwarzen Haar, eigentlich schon eher ein Mann, erteilt mir hier keinen Rat.
Er spricht eine Warnung aus.
Der pure Schreck angesichts seiner Gegenwart sowie der Eindruck von Wohlstand und Überlegenheit, der von ihm ausgeht, werfen mich fast um. Er wartet und mein sprachloses Schweigen lässt belustigt einen Muskel an seinem Kinn zucken.
Als ich irgendwie einfach keine Worte finden kann und mein allein auf sein Gesicht gerichteter Tunnelblick immer schlimmer wird, streckt er die Hand nach mir aus. Große geschmeidige Finger heben eine Locke meines feuerroten Haars von meiner Uniformjacke.
Er zwirbelt die Strähne um seine Finger und mustert mich, während mein Blick der Bewegung mit kindlich ehrfürchtiger Scheu folgt.
Er beugt sich näher heran und der frische Duft von Wald nach einem Gewitter überwältigt meine Sinne. »Oder mach, was immer du willst. Ich werde meinen Spaß dabei haben mit anzusehen, wie sie ihre Spielchen mit dir treiben. Du gehörst nicht hierher, du bist ein Niemand.«
Seine Beleidigung, ausgestoßen, als sei es das schmutzigste Schimpfwort, das er über die Lippen bringen kann, reißt mich aus meinen Träumereien. Ich fahre zurück, und mein Haar fällt mir wieder auf die Schulter, während mich sein kaltes, boshaftes Grinsen verhöhnt.
Ich sollte etwas sagen, mich verteidigen, kämpfen . aber ich bin noch nie eine Kämpferin gewesen. Ich habe die damit verbundene Aufmerksamkeit nie gewollt. Ehrlich gesagt habe ich noch nie in meinem Leben so recht gewusst, was ich überhaupt will.
Also mache ich auf dem Absatz kehrt und stürme davon.
Was diesem Elitevölkchen nicht bewusst ist: Ich habe nie auch nur die geringste Absicht gehabt, zu ihm zu gehören. Eine zu werden, wie sie es sind. Ich bin ganz zufrieden damit, die Rolle der Außenseiterin zu übernehmen, nicht hierher zu...