Doppelbett mit Altarblick.
Bitte aufwachen .
. der Gottesdienst beginnt gleich. Eine mutige Gemeinde im Thüringer Wald vermietet ihre Kirche an Schlafgäste. Hanna Lucassen über eine kühle Nacht im April
HANNA LUCASSEN
Journalistin, "7 Wochen Ohne"-Mitarbeiterin
Die Morgensonne kriecht am linken Bein des Erzengels hoch. Die Mosaikfenster, auf denen Michael mit sieben Schlangen kämpft, beginnen von unten zu leuchten, in Orange, Gelb, Hellblau. Je höher die Sonne steigt, desto mehr Licht fällt in den leeren, dunklen Kirchenraum.
Es ist früh am Morgen, der erste April. Ich sitze in Schal und Mantel in einer Kirchenbank, meine Bettdecke bis zu einer Schulter hochgezogen, einen Becher Kaffee in der Hand. Es war eine kalte Nacht in dieser Kirche im Thüringer Wald. Und jetzt, am Morgen danach, das ist ein bisschen wie der Auferstehungsmorgen.
Die Michaeliskirche in Neustadt am Rennsteig nennt sich "Her(r)bergskirche": Hier kann man für 25 Euro pro Person übernachten, zu zweit kostet es 45 Euro. In einer offenen Nische im hinteren Kirchenraum steht ein Holzpodest mit einer breiten Matratze mit zwei Daunendecken. Man kann als Sichtschutz einen blauen Vorhang vorziehen, meistens ist dieser offen.
Übernachten in ehemaligen Gotteshäusern - in England ist dies bereits ein Trend und heißt "Champing" (aus Camping und Church). Deutschland steht da noch am Anfang. In der mitteldeutschen Kirche ist die Michaeliskirche die Vorreiterin. Was sie zudem von den leer stehenden Champing-Kirchen abhebt: Sie ist noch in Betrieb. Wer hier übernachtet, hört morgens die Glocken läuten und kann am Sonntag mit der Gemeinde Gottesdienst feiern.
Der Mann hinter dieser Idee ist Horst Brettel, 74, Gemeindekirchenrat und stellvertretender Bürgermeister von Neustadt. Ein freundlicher Mann. Er holt mich am Vorabend des 1. April vom 15 Kilometer entfernten Bahnhof in Ilmenau ab. Nach Neustadt, ein Ort mit 900 Einwohnern, fährt kein Zug. Die Straße schlängelt sich durch den tiefen Wald. Hier und da noch Schneereste. Nicht ungewöhnlich im April. Neustadt liegt in 785 Meter Höhe. "Sie können immer noch ins Pfarrhaus ausweichen!", sagt Brettel. Die Kirche hat keine Heizung und ist deshalb nur von April bis Oktober geöffnet. Ich bin also der erste Übernachtungsgast in diesem Jahr. Kneifen kommt nicht infrage.
Fällt mir auch nicht schwer: Die Kirche ist mir gleich sympathisch. Eine neoromanische Chorturmkirche von 1859 aus grauem Stein. Innen viel Holz, wenig Schnörkel, trotz der zwei Emporen wirkt sie schlicht und nahbar. "Zum Glück haben wir keine Reichtümer", sagt Brettel. "Wir müssen keine Angst haben, dass etwas geklaut wird." Tagsüber ist die Tür immer offen.
Über einen Hof geht's zum Hintereingang des schieferbesetzten Pfarrhauses. Dort sind die Toiletten und Duschen - ab 2021 soll es welche direkt an der Kirche geben - und eine warme Küche, in der ich mir morgens etwas zum Frühstück machen kann. Ein Pfarrer wohnt hier nicht mehr, aber Christel Traut, 73, die Gemeindehaushälterin, die erst mal einen Kaffee kocht. "Wir nehmen uns Zeit für die Gäste", sagt sie, "das ist ja keine ganz normale Unterkunft. Manche suchen einfach Ruhe, manche haben auch etwas auf dem Herzen." Sie gibt mir noch eine zweite Zudecke und die Kirchenschlüssel, zeigt mir Lichtschalter und Sicherheitskasten. Horst Brettel bringt mich noch mit dem Auto zu einer Gaststätte, in der es Schnitzel und Bratkartoffeln gibt, und Schnaps aus einheimischen Kräutern. Das Stundengeläut sei in der Nacht ausgestellt, sagt er zum Abschied. Um acht Uhr würden die Morgenglocken mich wecken. Bis neun Uhr könne ich bleiben. Er wünscht eine gute Nacht. Zögert. Ob ich vielleicht doch lieber im geheizten Pfarrhaus .? Nein? Na dann, gute Nacht.
Es ist dunkel, kurz vor zehn, als ich in der Kirche die Schlüssel umdrehe. Ich lösche alle Lichter bis auf die Nachtlampe am Bett. Und nun? Käme ich von einer Wanderung, würde ich sicher todmüde ins Bett fallen. So streife ich noch etwas ziellos durch die Dämmerung, laufe langsam die knarrenden Holztreppen hoch zur ersten Empore. Zur zweiten. In beiden Etagen stehen lange Bänke. Unvorstellbar, dass man einmal so viel Platz brauchte. Neustadt hatte Mitte des 19. Jahrhunderts etwa hundert Einwohner weniger als heute. Die Menschen waren arm und oft krank, las ich in der Chronik des Ortes: Seit 1840 stellte man hier Zündhölzer her, die mit dem hochgiftigen gelben Phosphor verarbeitet wurden. "Da die Herstellung in den damals kärglichen und engen Wohnungen vor sich ging, war diese Produktion mit einem unvorstellbaren Elend verbunden. Die Phosphornekrose (Knochenfraß) führte zu entsetzlichen Verstümmelungen, wenn nicht gar zum Tode."
Wie wichtig wird den Menschen damals der Kirchgang gewesen sein? Heute ist Neustadt ein staatlich anerkannter Erholungsort und wirbt mit reiner Höhenluft. Der Tourismus ist die Haupteinnahmequelle. Der Rennsteig, ein etwa 170 km langer Höhenweg, geht mitten durch den Ort. Etwa 100.000 Wanderer laufen ihn jährlich. Im Winter kommen die Skilangläufer, mehrere Loipen liegen vor der Haustür. Die evangelische Gemeinde hat rund 400 Mitglieder. Zum sonntäglichen Gottesdienst - der im Winter im Pfarrhaus stattfindet - kommen etwa 20.
Christel Traut bezieht die Decken.
Ich gehe die Treppen wieder herunter, erkunde das Kirchenschiff. Meine ersten Schritte sind leise und vorsichtig, dann zunehmend sicherer. Es ist sehr still. Ich bleibe vor vier Gedenktafeln aus Holz stehen, für die gefallenen und vermissten Neustädter im Zweiten Weltkrieg. Etwa hundert Namen stehen da, der Jüngste wäre bei Kriegsende 20 Jahre alt gewesen. Wieder fällt mir die Chronik ein, die beschreibt, dass sich kurz nach Ostern 1945 eine SS-Einheit in Neustadt eingenistet hatte, während zwei Kilometer westlich die amerikanischen Truppen standen. "In der Ortslage und unter der Bevölkerung gab es Panik, hervorgerufen durch den ständigen Artilleriebeschuss der US-Truppen und die andauernden Drohungen der SS, jeden zu erschießen, der sich ergibt oder eine weiße Fahne hisst. Fast jedes Haus wurde beschädigt. Auch an den Kirchen entstanden erhebliche Schäden." Ich stehe lange davor. Drei Kerzen stehen auf dem Boden. Ich zünde sie an. Bin etwas unsicher. Darf ich das eigentlich?
Erschienen in kiba aktuell
Christel Traut und Horst Brettel geben den Gästen die Schlüssel.
Zuerst stand das Bett mitten im Kirchenraum. Da gab's hitzige Diskussionen.
Von der Zeit danach weiß ich nicht so viel. Laut Chronik hissten "beherzte Bürger" dann doch weiße Tücher. Die Amerikaner marschierten ein, Neustadt kam aber wie ganz Thüringen zur Sowjetischen Besatzungszone. Es gab Pläne, die Kirche als Wohnhaus oder Kino umzubauen, der Gemeindekirchenrat hat diese aber "strikt abgelehnt und als indiskutabel bezeichnet", steht in einem historischen Abriss, den Horst Brettel mir gab. Die Kirche wurde in der DDR-Zeit durchgehend genutzt. Die fünf zerstörten Fenster im Altarraum ersetzten Glasbausteine. Erst 1989, kurz vor der Wende, schuf der Künstler Medardus Höbelt die jetzigen Glasmosaiken. Sie stellen Michaels Kampf gegen die sieben Erbsünden dar. "Fast ein bisschen zu katholisch", sagt Brettel mit einem ironischen Lachen.
Der gebürtige Franke lebt seit rund 20 Jahren hier und mag die Kirche. Deshalb engagiert er sich in der Gemeinde, stieß einige Reparaturmaßnahmen an, beobachtet mit Sorge, wie Kälte und Alter dem Gebäude zusetzen. Eine zweite Kirche in Neustadt musste 2016 abgerissen werden. "Das tat uns allen weh", sagt er. So was sollte mit der Michaeliskirche nicht passieren. Als dann im Frühjahr 2017 eine Gruppe junger Architekten fragte, ob sie die Kirche probeweise zu einer Herbergskirche umwandeln könne, war er sofort dabei. Die Initiative suchte, unterstützt von der Landeskirche, nach Ideen, wie man Kirchen in kleinen Orten wieder zum Zentrum des öffentlichen Lebens machen kann. Die Architekten bauten eine Bettstatt für drei Personen mitten in den Kirchenraum und boten diese Übernachtungsmöglichkeit bei der Plattform Airbnb an. Das schlug ein. Die Medien berichteten positiv, die Gäste schrieben begeisterte Kommentare in das Gästebuch - und die Gemeinde war verstimmt. Bei Trauerfeiern an dem Doppelbett vorbeizulaufen, das ging manchen gegen den Strich. Es gab hitzige Diskussionen, schließlich eine Gemeindeversammlung und eine Lösung: Das Bett fand einen neuen Platz, in einer offenen Nische. Und ein Vorhang kam dazu. "Es ist jetzt nicht mehr sofort im Blickfeld,...