Samurai
Irgendjemand in seinem Kopf sagte "Hallo." Arne erschrak so heftig, dass er sich beim Rasieren schnitt. Er mochte es nicht, wenn jemand in seinem Kopf "Hallo" sagte, aber er wusste auch nicht, was er dagegen tun konnte.
Er mochte auch seine Träume nicht. Letzte Nacht war jemand mit seinem Fuß in der Hand davongelaufen und den ganzen Morgen lang hatte sich Arne schon gefragt, wie der Fremde wohl an seinen Fuß gekommen war.
Schon als er vor einigen Wochen mit einer kleinen Reisetasche in der Hand wieder in seinem alten, mittlerweile verstaubten Kinderzimmer stand, wusste er, dass er ein Ronin war, ein Verlierer, ein herrenloser Samurai. Erst hatte er seine Arbeit verloren, dann seine Geduld. Als ihn die Freundin mit ihrem gemeinsamen Sohn verließ, konnte er auch die große Wohnung nicht mehr halten.
Völlig planlos war er bei seinen Eltern aufgetaucht und hatte um Asyl gebeten.
Arnes Mutter war hocherfreut gewesen, aber sein gestrenger Herr Papa hatte mit den Augen gerollt.
Er hatte sich zwar nicht zu Arnes Einzug geäußert, aber das war auch nicht nötig gewesen. Arne wusste, dass er in den Augen seines alten Herrn schon immer ein Verlierer gewesen war.
Arne war in sein Zimmer gegangen und hatte sich erst einmal umgesehen. Das schmale Bett am Fenster, die altmodischen Vorhänge, die blaugemusterten Tapeten. Das Regal mit den Büchern, den Zeugen aller Hoffnungen und Pläne, die er einst einmal gehegt hatte: Bücher über verschiedene Kampfkünste und über die Krieger des alten Japan, Bücher über Informatik, Algebra und Geometrie, aber auch Bücher über Anatomie und Medizin.
Sein Vater hatte ihn schon als Arzt gesehen - oder wenigstens als Informatiker. Aber nichts, was Arne in die Hand nahm, wollte ihm glücken.
Sein Studium musste er abbrechen, weil er sich mehr mit der Geschichte Japans als mit Biochemie, Physiologie und Physik auseinander-setzte. Er wechselte in eine Ausbildung zum Fachinformatiker, dem Fach, von dem sein Vater einmal gesagt hatte, dass dort alle komischen Käuze als Nerds irgendwie unterkämen.
Aber Arne fand sich nicht zurecht. Dabei war er eifrig und wollte seinem Herrn dienen, ganz wie ein Samurai das getan hätte.
Doch die Menschen, mit denen er arbeitete, fanden seine Art befremdlich und sein Interes-se an Jiu Jitsu, an asiatischen Waffen und am Schwertkampf beängstigend.
Nur in seinem Kampfsportverein war er akzeptiert und anerkannt. Dort hatte er es immerhin bis zum 2. Dan gebracht.
Doch das war lange her. Warum nur hatte er mit dem Training aufgehört?
Die Stimme in seinem Kopf lachte. Es war Julias Schuld, dachte er, aber an Julia wollte er jetzt nicht denken!
Er hatte noch etwas Speed im Haus, gutes, fast reines Amphetamin. Arne packte Rasierklinge und Spiegel aus und richtete sich eine Line. Akribisch zerhackte er die groben Körnchen, bis sie fein wie Puderzucker waren. Dann nahm er ein kleines Stückchen Aquariumschlauch, das er an den Schnittkanten rund geföhnt hatte, hielt sich das linke Nasenloch zu und zog mit dem Schlauch im rechten Nasenloch das Puder kräftig ein.
Es landete direkt in seinem Gehirn, zumindest fühlte es sich so an. Arne kicherte. Vielleicht war das Zeug ja tatsächlich direkt im Gehirn gelandet.
Wo hatte er nochmal aufgehört zu denken? Ach ja, Julia.
Arne hielt sich beide Nasenlöcher zu, während er seinen eigenen Gedankenfaden suchte und immer wieder verlor. Neulich hatte er astreines Heroin gehabt, das war geil gewesen. Aber das jetzt hier war auch nicht schlecht. Junge, Junge, wohl ein bisschen viel erwischt, dachte er, nahm die Hand von der Nase und ließ sich auf die Seite kippen.
Sein Blick fiel dabei auf das Filmplakat "47 Ronin". Keanu Reeves überragte darauf eine Kollage aus Menschen und Kriegern und hielt dabei ein Hattori Hanzo Katana vor sich, das gleiche Samuraischwert, das auch Uma Thurman in Kill Bill benutzt hatte. Aber Kill Bill war einfach nur geistloser Blödsinn gewesen, während es die 47 Ronin tatsächlich gegeben hatte.
Naja, vielleicht nicht ganz so, wie in dem Film. Im 17. Jahrhundert hatten sie Keanu Reeves jedenfalls nicht gebraucht, um die Ehre ihres Fürsten wiederherzustellen.
Was war das? Ein Gedanke flatterte wie ein Schmetterling um seinen Kopf und Arne konnte ihn nicht einfangen. Doch, jetzt, ja, Julia!
Julia war Schülerin in seinem Sportverein gewesen. Er hatte sich des ungeschickten Mädchens angenommen und mit ihr für die Prüfung zum 5. Kyu geübt. Dabei kamen sie sich näher, als es die Übungen eigentlich zugelassen hatten.
Arne kicherte, als er daran dachte. Es war so plötzlich gekommen. Eben noch ein Nichts und Niemand und dann plötzlich der Freund einer echten, lebendigen Frau ... Julia. Auch sie war relativ unerfahren und innerhalb kürzester Zeit schwanger.
Hastig suchten sie sich eine große Wohnung und zogen zusammen, ohne sich wirklich gekannt zu haben.
Aber Arne war glücklich gewesen. Stolz hatte er Julia seinen Eltern vorgeführt und sich auf seine Vaterrolle gefreut. Natürlich würde es ein Junge werden, da war er sich sicher, und er würde ihn ab seinem dritten Lebensjahr unter-richten, wie es sich für einen Samurai gehörte. Er würde ihn lehren, seinen Körper zu beherrschen, Angst und Schmerzen zu unterdrücken, sich mit und ohne Waffen zu wehren und mutig in die Welt zu gehen. Während ihn selbst eine unglückliche Knieverletzung zwang, eine Trainingspause einzulegen, legte er schon die Trainingspläne für seinen Ungeborenen fest.
Julia wurde langsam angst und bange, insbesondere als sie erfuhr, dass sie tatsächlich einen Sohn bekommen würde.
Sie wollte, dass ich die Dolche und Schwerter von den Wänden abhänge, erinnerte sich Arne und sah Keanu Reeves auf dem Plakat an. Hätte Julia von ihm auch verlangt, dass er die Waffen streckt? Nein, das hätte sie nicht. Arne war sich ganz sicher.
Keanu hatte schließlich wie ein Samurai gekämpft. Und was tat er?
Was tat er? Arne fiel nichts ein. Ich tue nichts, stellte er fest. Nichts.
Bei diesem Gedanken konnte Arne nicht verhindern, dass er weinte. Ein paar Tränen nur, dann hatte er sich wieder im Griff, zog noch eine Line und lief dann unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Ja, er war ein Ronin, ein herrenloser Samurai, seine Frau und sein Sohn waren verschwunden und sein Fürst und Arbeitgeber hatte ihn gefeuert.
Seine Ehre als Samurai war verletzt, doch statt sich der Situation zu stellen, weinte er! Tiefer konnte man nicht sinken.
Arne wusste jetzt überdeutlich, was er zu tun hatte. Was er längst hätte tun müssen. Und was er auch ohne Zaudern tun würde! Seine Ehre wiederherstellen und die seiner Familie. Mag sein, dass er keinen Gehilfen hatte, aber es hatten schon andere ganz allein und ohne Hilfe Seppuku verübt. Vielleicht hatten sie gemogelt? Hatten doch kurz vor knapp Schmerzen gezeigt?
Das würde ihm nicht passieren! Arne ließ sei-nen Blick über die drei Schwerter schweifen, die jeder Samurai besitzen durfte: über Tanto, den Dolch, das Kurzschwert Wakizashi bis zum Langschwert Katana. Sie waren handgeschmiedet, scharf und gepflegt, eines großen Kriegers würdig!
Arne straffte sich. Er würde es ihnen allen zeigen!
***
Nachdem sein Entschluss feststand, ging es Arne deutlich besser. Mit dem Übereifer eines Menschen, der Amphetamine in Kopf und Nase hatte, ging er ans Werk. Er hatte keinen Gehilfen für das, was die Menschen gerne fälschlicherweise Harakiri nennen, also musste er sich einen schaffen.
Im Kopf ging er noch einmal die verschiedenen Seppuku-Rituale durch: Es ging nicht allein darum, sich den Bauch aufzuschneiden, bis die Gedärme heraustraten. Es ging auch darum, die Hauptflussader des Qi zu durchtrennen, daher musste der Schnitt wohlüberlegt und richtig gesetzt sein.
Allerdings durfte man nicht allzu schnell das Bewusstsein verlieren, sonst konnte man die Schnitte nicht zu Ende führen.
Und man durfte sich vom Schmerz nicht übermannen lassen. Genau dafür stand der Gehilfe bereit. Sobald die Schnitte klaglos gesetzt waren, beugte der Samurai seinen Kopf nach vorne und nun durfte der Sekundant, der Kaishaku-nin, von hinten und in einer einzigen Bewegung seinem Gefährten mit einem Katana den Kopf abschlagen. Dabei musste der Kaishaku-nin mit äußerster Präzision vorgehen, denn der Kopf durfte nicht ganz vom Körper abgetrennt werden, weil das an die Hinrichtung eines Kriminellen erinnert hätte.
Viele Sekundanten scheiterten an dieser verantwortungsvollen Aufgabe, führten den Hieb zu früh, zu spät oder zu wuchtig aus.
Wenn sie dabei das Leiden ihres Freundes massiv verlängerten, wurden sie daraufhin gedrängt, ebenfalls Seppuku zu begehen.
Arne hatte keinen engsten Vertrauten und damit auch keinen Kaishaku-nin. Wer oder was also könnte ihm von hinten den Kopf ab-schlagen? Auf der Suche nach einer Idee, lief er im Zimmer auf und ab, dann setzte er sich in die Mitte seines Kinderzimmers auf den Boden und starrte alles an, was sich darin befand.