Kapitel 20
Gianna liebte Abende wie diesen, daran bestand kein Zweifel. Selbst wenn der Tag bis hierher eine Katastrophe gewesen wäre, hätte ihr das gesellige Miteinander am Seeufer bestmögliche Laune beschert. Ganz sicher würde sie diesen Tag im Nachhinein in die Top 10 des Jahres einordnen. Immer im August lud Robert Myers alle, die in den vergangenen Jahren bei ihm ein Pferd gekauft hatten, zum Barbecue am Strand des Percy Priest Lakes ein. Jedes Mal aufs Neue wurde es ein rauschendes Fest mit leckerem Essen vom Grill, eisgekühlten Getränken. Munter wurde dann über die Stuten und Wallache, die der Zucht entsprungen waren, erzählt. Ins Besondere die letzten drei Veranstaltungen waren Gianna in guter Erinnerung, denn bei diesen hatte sie auch von Pferden erfahren, die sie eingeritten hatte.
Seit sie vor einer Stunde angekommen war, hatte man ihr ununterbrochen vom erstklassigen Gedeihen ihrer einstigen Lieblinge berichtet. Trotz, dass es ihr Tränen in die Augen getrieben hatte, strahlte sie über das ganze Gesicht.
Erst nach gut zwei Stunden fand sie Zeit, sich auch etwas zu Essen zu holen. Mit knurrendem Magen machte sie sich auf den Weg zum Grill, der etwas geschützt zwischen den Bäumen aufgebaut worden war. Easton schwenkte das Rost von Zeit zu Zeit, briet Würstchen und Fleisch fachmännisch und unter zur Zuhilfenahme der genau richtigen Menge an Kräutern. Es schien, er verstand wahrlich etwas davon. Gerade als Gianna die Stelle erreichte, an der Sand in Gras überging aber, sprang ihr jemand nahezu in den Weg.
»Hi, ich bin Speedy«, rief er enthusiastisch. »Und du musst Gianna sein!«
Noch bevor sie einen klaren Gedanken gefasst hatte, schüttelte sie auch schon seine Hand. Und eine Sekunde später klickte sein Plastikbecher an den ihren.
»Auf dass ich niemals heiraten muss!«, sagte er und trank, ohne ihre Reaktion abzuwarten oder ihr wenigstens die Gelegenheit zu geben, sich ihm vorzustellen.
Fraglich, ob sie das überhaupt noch müsste, denn er kannte ihren Namen ja offensichtlich schon.
»Du bist nicht Gianna?« Ihr Verhalten schien ihn immerhin zu irritieren.
»Doch. Doch, die bin ich«, murmelte sie perplex. »Zumindest eine von ihnen, falls es hier noch mehr geben sollte.«
»Die andere wäre in jedem Fall nur eine einfallslose Kopie, das ist sicher!« Er grinste breit und schob sich die Sonnenbrille in die wirren blonden Locken. Seine hellgrünen Augen blitzten vergnügt. Kein Wunder, dass so viele Frauen auf ihn stehen, dachte Gianna, er sieht blendend aus und ist noch dazu charmant. Was aber tat er hier und wieso kannte er sie?
»Du verwirrst mich ehrlich gesagt ganz schön«, gab sie zu und brachte ihn damit zum Lachen.
»Das habe ich schon öfter zu hören bekommen! Ich glaube, es ist einer der Gründe, warum sie mich Speedy nennen, ich bin immer zu schnell und keiner kommt mehr hinterher.« Er zuckte die Schultern in einer vergnüglichen Weise. Es schien ihn nicht genug zu kümmern, um etwas daran zu ändern. Er war offensichtlich eine Frohnatur. Mehr noch als Easton und das war kaum vorstellbar, fand Gianna. »Mein richtiger Name ist Jude Gonzales. Keine Ahnung, wann mich zuletzt jemand Jude genannt hat, und ich bin mir nicht sicher, aber ich denke, dass niemals irgendwer Mr. Gonzales zu mir gesagt hat. Ich bin Jasper Davis' Gitarrist und Noah ist seit Neuestem mein Tech.«
»Ich weiß«, sagte sie noch immer zögerlich. »Das hat er erzählt und ich wusste auch schon vorher, wer du bist. Aber woher kennst du meinen Namen und vor allem wie hast du-«
»Wie ich dich gefunden habe? Ha! Weißt du, das war ganz einfach! Wir waren auf so einer stinklangweiligen Hochzeit und haben da für das Brautpaar ein paar Songs gespielt. Gut bezahlt so was, musst du wissen. Nur das Essen war echt furchtbar und Noah hat uns von der Party hier erzählt und dann auch von dir. Er hat gesagt, seine Gianna wäre die bezauberndste Frau von allen hier. Da habe ich mich umgesehen und wusste sofort, dass er nur von dir gesprochen haben konnte.«
Noah war hier? Augenblicklich schlug Giannas Herz schneller und sie blickte sich möglichst unauffällig um. Seine Gianna?
»Das hat er so nicht gesagt.«
Speedy lupfte die Augenbrauen und legte den Kopf leicht schief. Seine Mundwinkel zuckten.
»Hat er nicht. Er ist verheiratet.«
»Ja, er ist auch so ein Wahnsinniger«, bestätigte Speedy.
Bevor Gianna aber noch etwas sagen konnte, übernahm das jemand anderes.
»Jetzt schau dir das an, Noah!« Jasper Davis. Gianna hatte Mühe sich nicht zu ihm umzudrehen. Mühelos hatte sie ihn nur an seiner melodisch klingenden Stimme erkannt. Heimelige Wärme lag in der Weichheit, mit der er Konsonanten rollte. »Es ist exakt so, wie ich es erwartet habe. Unser Bienchen hier findet den Honig, absolut ohne jeglichen Aufwand zu betreiben.«
Wie bitte? Gianna war sicher, dass sie sich in ihrer Überraschung verhört hatte. Jasper aber lachte und trat an ihre Seite. Als sie ihn anblickte, hielt er ihr die Hand hin.
»Hi, ich bin Jasper Davis«, stellte er sich vor, als würde irgendwer in dieser Stadt sein Gesicht nicht kennen.
»Gianna Clayton«, erwiderte sie und bemühte sich ihn anstelle von Noah, der neben ihm aufgetaucht war, anzusehen. »Freut mich.«
»Und mich erst!« Er boxte erst Noah an die Schulter, dann Speedy. »Gianna, ich fühlte mich ein bisschen verantwortlich für die Zwei hier. Wenn also einer von ihnen dich belästigen sollte, lass es mich wissen, ja?«
Empört sahen die anderen beiden Männer ihn an und bekamen von Jasper auch noch jeweils einen leichten Schlag an den Hinterkopf. Giannas Blick fand vor allem Noahs, Jaspers Schmunzeln aber entging ihr nicht. Er schien zu wissen, dass sie auf Noah stand. Jeder wusste es offensichtlich. Unangenehm aber war es ihr nicht.
»Eigentlich sind sie aber doch recht umgänglich. Es sei denn, du gibst ihnen Cross-Bikes, dann gehst du besser in Deckung.«
»Habe ich schon bemerkt. Zumindest bei Noah«, gab sie zurück und blickte eben diesen offen an.
Noah machte ein beabsichtigt zerknirschtes Gesicht. Gianna war sich im Klaren darüber, dass er spielte und auch Jasper lachte.
»So guckt er immer, wenn er was angestellt hat!«
»Hätte jemand von euch die Güte mich aufzuklären?«, fragte Speedy. »Ich würde gerne mitlachen!«
»Mit dem größten Vergnügen!«, rief Jasper, schlug Noah noch einmal freundschaftlich vor die Brust. Dann legte er Speedy einen Arm um. »Also, das war so ...«, begann er und zog ihn einfach mit sich zum Wasser herunter.
Wow, dachte Gianna, denn nie hätte sie erwartet, dass einer von Nashvilles größten Countrystars, so unverkrampft sein würde.
»Also, wer die beiden als Freunde hat, der braucht auch keine Feinde, oder?«, fragte Noah in ihren Gedanken herein.
Gianna wandte sich von Speedy und Jasper ab und sah nun ihn an. Zum ersten Mal an diesem Abend so richtig. Hinreißend sah er aus in seinen makellosen schwarzen Jeans und dem blau-karierten Hemd. Um den Hals trug er eine Kette mit einem silbernen Skorpion und am rechten Daumen einen Ring mit einer für Gianna nicht lesbaren Inschrift.
»Ich fand die beiden eigentlich sehr erfrischend. Speedy hat mich verwirrt, aber ich denke, ich hätte wissen können, dass er so ist. Er ist nicht anders zu mir gewesen, als er auf der Bühne herüberkommt. Aber Jasper? Jasper ist außerordentlich geerdet. Das hätte ich nie gedacht.«
»Jasper hat keinerlei Allüren. Er hat sie schlicht nie entwickelt. Er schläft im gleichen Bus wie seine Band und die Instrumententechniker. Es gibt ein luxuriöses Extraschlafzimmer an Bord, aber das wird als Lager für Gepäck genutzt. Mitunter auch als zusätzlicher Aufenthaltsraum. Jasper schläft genau wie alle anderen in einer der Kojen. Er ist ein cooler Typ und mein bester Freund.«
»Das kann ich gut verstehen. Ich schätze, mit ihm kann man sehr viel Spaß haben.«
»Darauf kannst du wetten! Und er ist ein wertvoller Berater in allen Lebenslagen. Wenn du also meine dunkelsten Geheimnisse wissen wollen würdest, müsstest du ihn foltern.« Noah grinste etwas schief. »Also tust du es besser nicht.«
Er lachte etwas beschämt und strich sich über das Kinn. Gianna sah es damit als gegeben an, dass es etwas gab, über das Noah nicht offen sprechen würde. Sie hatte allerdings keine Illusionen darüber, dass es dabei um sie gehen würde. Noah und Noelle - so war es nun einmal.
»Jasper weiß also mehr über dich als du selbst, könnte man sagen?«
Noah nickte. »Vermutlich ja. Er könnte-«
Gordon unterbrach mit seinem Auftauchen das Gespräch jäh. Er legte einen Arm um Noahs Schultern und blickte Gianna interessiert an. »Na ihr Zwei, worüber sprecht ihr Schönes?«
»Jasper!«, antworteten Noah und sie wie aus einem Munde, als wäre es abgesprochen und als hätten sie zuvor Geheimnisse ausgetauscht.
»So, Jasper also, No?« Gordon grinste breit. »Müssen seine Valerie und deine Noelle sich Sorgen machen?«
Noah sah Gordon ebenso verwirrt an wie Gianna, dann aber erhellte sich sein Gesicht und er begann zu schmunzeln. »Klar! Jasper ist der Traum meiner schlaflosen Nächte! Jetzt hast du mich aber durchschaut. Na so ein Ärger aber auch!«
Sie lachten schließlich alle drei.
Später am Abend war Gianna kurzfristig alleine am Parkplatz. Auf dem Rückweg traf sie erneut auf Speedy.
»Na? Immer noch einsam schöne Frau?«, fragte er und sie lachte leise.
»Nicht wirklich, nein. Ich kann mich nicht beklagen«, gab sie zurück, um dem Gitarristen keine falschen Hoffnungen über den Ausgang des Abends zu machen. Er war nett, aber sie war sicher nicht darauf aus, die Nacht mit ihm zu verbringen. »Ich war etwas ungeschickt und mein Armband ist dabei gerissen. Ich habe es ins Auto gebracht, um es nicht zu verlieren.«
»Das schöne Armband!«, rief er und Gianna war sich sicher, dass es ihm zuvor nicht einmal aufgefallen war.
»Nicht so schlimm. Ich werde es reparieren lassen und meine Hand ist ja noch dran.«
Sachte griff er danach und führte sie an seine Lippen. Lächelnd küsste er ihren Puls. Gianna konnte nicht umhin, leise zu lachen, als sein Dreitagebart über die empfindsame Haut kratzte.
»Entschuldige, das hat gekitzelt, oder?« Mit dem Daumen streichelte er darüber.
»Ein bisschen, ja. Aber das ist schon okay.« Sie entzog ihm die Hand, bevor er es noch als Aufforderung empfand.
»Wie kommt es bloß, dass eine so wunderschöne Lady keinen Freund hat?«
Sie wiegte den Kopf, entschied sich aber, ehrlich zu sein. »Ich habe schlicht das Talent, mich in die falschen Männer zu verlieben«, sagte sie und wie als hätte man ihn gerufen, tauchte Noah bei ihnen auf.
»Hey Speedy, Jasper will irgendwas von dir«, sagte er wenig präzise.
»Ach ja? Und was?«
»Hat er mir nicht erzählt.« Noah zuckte die Schultern. »Nur, dass ich dich zu ihm schicken soll, wenn ich dich zufällig sehe.«
»Bist einen ganz schön weiten Weg gegangen. Zufällig.«
»Ich habe dich hierher gehen sehen und dachte, ich halte dich besser auf. Es hätte ja sein können, dass du schon fahren willst.«
Speedy runzelte die Stirn. »Ohne mich zu verabschieden?«
»Passieren die seltsamsten Dinge.«
»So? Tun sie das?«
»Ja.«
Wie schon bei Easton und Noah in der Bar wurde Gianna erneut unfreiwilliger Beobachter eines Hahnenkampfs. Einen Reim darauf machen, konnte sie sich nicht. Was hatte Noah dagegen, dass sie mit Speedy sprach? Bei Easton verstand sie es in gewissem Maße, dank Speedy aber verdiente Noah sein Geld.
»Solche Dinge wie, dass du auf Gianna stehst, obwohl du verheiratet bist?«, schlug Speedy vor.
»Was?«, brachte Noah nur mühsam und unter Husten hervor und auch Gianna glaubte, sich verhört zu haben. Ihr Herz aber schlug wilde Kapriolen.
»Du stehst ganz offensichtlich auf Gianna«, wiederholte Speedy ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ich hatte dich schon beim ersten Mal verstanden«, erwiderte Noah, ohne Gianna anzusehen. Sein Blick galt einzig dem blonden Gitarristen und er sah ihm direkt in die Augen.
Er hat nichts zu verbergen, dachte Gianna. Ernüchterung löste den Trommelwirbel in ihr ab.
»Warum hast du dann nachgefragt?« Speedy musterte ihn genau.
»Weil es Schwachsinn ist und du nicht den geringsten Grund dazu hast, eine so haltlose Theorie aufzustellen.«
Noah klang wahrlich wütend, und auch wenn es schmerzte, verstand Gianna ihn gut. Wäre sie glücklich verheiratet, würde es ihr auch nicht gefallen, wenn ständig jemand Bemerkungen dieser Art von sich gab. In diesem Moment bekam Gianna Angst, dass Noah ihre Freundschaft nach diesem Abend beenden würde, um wieder Ruhe einkehren zu lassen.
Speedy holte erneut tief Luft und Gianna beschloss zu gehen. Besser sie selbst bot keine Angriffsfläche. Unter Umständen konnte sie so das Unausweichliche noch vermeiden.
»Jungs, reißt euch zusammen!«
Alle drei erschraken ob der plötzlichen Ansprache. Mit Jaspers Auftauchen hatte keiner von ihnen gerechnet.
»Ich dachte, ich hätte euch beigebracht, wie man sich in Anwesenheit einer Lady verhält.« Jasper grinste und wandte sich Gianna zu. »Das ist, was ich meinte, Gianna. Du hättest mich gerne rufen können!«
»Danke«, sagte sie unsicher. »Das ist schon okay?!«
Sachte streichelte er über ihren Oberarm. »Du entschuldigst?« Auf ihr Nicken hin fuhr er fort. »Speedy, ich dachte, wir spielen ein paar Lieder und machen ein bisschen Stimmung.«
Speedy nickte sofort.
»Ich habe doch gesagt, er sucht nach dir!«, brüstete Noah sich. »Siehst du, ich habe es nicht erfunden!«
Nein, leider nicht, dachte Gianna. Es wäre ja auch zu schön gewesen. An Märchen aber glaubte sie schon lange nicht mehr.
Jasper griff Noah in den Nacken und drückte unverkennbar etwas fester zu, denn Noah ging leicht in die Knie. Denkbar auch, dass er kitzlig war.
»Und du mein Freund, schnappst dir auch eine Gitarre von meinen. Du kennst alle meine Lieder und wir stellen später ein paar Videos ins Netz. Vielleicht ergibt sich so was für dich.« Jasper blickte wieder Gianna an. »Hast du ein Smartphone und kannst filmen?«
Gianna nickte und Jasper bedankte sich, zog Noah dann einfach am Arm hinter sich her.
»Bis später, Gianna«, rief Speedy, bevor auch er folgte, und grinste breit.
»Hey, ich wollte doch Speedy nur so schonend wie möglich beibringen, dass Gianna schon vergeben ist!«, hörte sie Noah noch im Weggehen sagen. »Sie ist nämlich mit Easton Sawyer zusammen, weißt du?«
Easton? Wieso Easton? Bevor Gianna eine Antwort darauf finden konnte, griff jemand nach ihrem Arm. Im ersten Moment wollte sie sich wehren, dann aber erkannte sie Easton und blieb trotz ihres stürmisch schlagenden Herzens still. Easton lachte und nur eine Sekunde später senkte er seine Lippen ohne Vorwarnung auf ihre, küsste sie leidenschaftlich und ungeniert. Einen Augenblick lang war Gianna davon so überrumpelt, dass sie sich nicht wehrte. Sein Kuss war nicht unangenehm, doch aber nicht was sie wollte, und so legte sie schließlich die Hände an seine Brust. Sachte schob sie ihn von sich.
»Was bitte war das denn?«, fragte sie atemlos.
»Na ja«, begann Easton und grinste von einem Ohr zum anderen. »Das ist, was dein Freund tun sollte, oder?«
Verwirrung ist heute mein zweiter Vorname, dachte Gianna und blickte ihn in der Hoffnung um Aufklärung an.
»Ich habe Noahs letzte Worte gehört.«
Während er lachend weiter in Richtung Parkplatz ging, fiel der Groschen doch noch. Und genau im richtigen Moment wandte Easton sich noch einmal zu ihr um.
»War nur Spaß!«, rief er. »Entschuldige?!«
»Nein, schon gut.«
Kopfschüttelnd ließ sie ihn stehen, ging zurück zum Strand. Unter Umständen hatte noch jemand eine Geschichte über Pferde zu erzählen. Das wäre beruhigend und genau das Richtige in diesem Augenblick.