Die Ampel am Broadway war noch gar nicht richtig auf Grün umgesprungen, da raste auch schon ein ganzes Rudel gelber Taxis an mir vorbei, während ich in der kleinen Todesfalle, die ich quer durch New York zu kutschieren hatte, die rechte Spur blockierte. Kupplung treten, Gas geben, schalten (vom Leerlauf in den Ersten? Oder vom Ersten in den Zweiten?), Kupplung kommen lassen. Wie ein Mantra betete ich mir diese goldene Regel immer und immer wieder vor, doch im hektisch-chaotischen Mittagsverkehr half sie mir leider auch nicht viel weiter. Zweimal bäumte sich meine Blechkiste wie ein wilder Mustang auf, um anschließend wie ein lahmes Kaninchen über die Kreuzung zu hoppeln. Mein Herz klopfte wie verrückt. Bis das Gehopse aufhörte, und ich in Fahrt kam. Mächtig in Fahrt. War ich tatsächlich noch im zweiten Gang? Ich warf einen Blick auf den Schalthebel - einen Blick zu viel. Als ich wieder auf die Straße sah, war ich so gefährlich dicht auf ein Taxi aufgefahren, dass mir nichts anderes übrig blieb, als voll in die Eisen zu steigen - und mir dabei den Absatz abzubrechen. Mist! Schon wieder ein Paar 70o-Dollar-Schuhe im Eimer, ein Opfer meiner Ungeschicktheit - zum dritten Mal in diesem Monat. Ich war fast erleichtert, dass ich bei meinem halsbrecherischen Bremsmanöver den Motor abgewürgt hatte (anscheinend hätte ich die Kupplung treten müssen). So hatte ich wenigstens ein paar Sekunden Zeit, um mir, umtost von wütendem Gehupe und wüstem Gefluche, die Manolos auszuziehen und auf den Beifahrersitz zu pfeffern. Und wo sollte ich mir dieschweißnassen Hände abwischen? Da blieb nur meine Gucci-Hose, die so knalleng am Körper saß, dass sie mir das Blut abschnürte. Mich hineinzuzwängen und sie auch noch bis oben hin zuzuknöpfen, war das reinste Kunststück gewesen. Meine Finger hinterließen hässliche Streifen auf dem samtweichen Wildleder. Ich brauchte unbedingt eine Zigarette, sonst würde ich es niemals schaffen, dieses 84000-Dollar-Cabrio heil durch den Hindernisparcours der Straßen Manhattans zu manövrieren. »Nun fahr schon, Alte!«, brüllte ein unappetitlicher Autofahrer im Feinrippunterhemd, aus dem höchst dekorativ die Brusthaare hervorquollen. »Was glaubst du eigentlich, wo du bist? In der Fahrschule? Aus dem Weg.« Mit zitternder Hand zeigte ich ihm den Stinkefinger und erledigte erst mal die dringendste aller anstehenden Aufgaben: Mir möglichst schnell eine Fluppe anzustecken. Meine Hände waren schon wieder klitschnass, was ich besonders gut daran feststellen konnte, dass mir die Streichhölzer aus den Fingern flutschten. Als ich gerade - endlich - den ersten Zug nehmen wollte, sprang die Ampel wieder auf Grün um. Die Zigarette zwischen den Lippen und vom Tabaksqualm umwölkt, widmete ich mich erneut der Kunst des Anfahrens: Kupplung treten, Gas geben, schalten (vom Leerlauf in den Ersten? Oder vom Ersten in den Zweiten?), Kupplung kommen lassen. Es dauerte noch einmal drei Straßenblocks, bis der Wagen so gleichmäßig lief, dass ich es wagen konnte, die Zigarette wieder aus dem Mund zu nehmen, aber da war es schon zu spät. Die Asche war heruntergefallen und direkt neben dem Schweißfleck auf der Hose gelandet. Wahnsinn. Bevor ich mir richtig darüber klar werden konnte, dass ich - die Manolos mitgerechnet - innerhalb von drei Minuten Klamotten im Wert von 3100 Dollar ruiniert hatte, fing mein Handy an zu plärren. Und als ob es das Leben nicht sowieso schon übel genug mit mir meinte, bestätigte die Nummer des Anrufers auch noch meine schlimmsten Befürchtungen. Es war Ihre Majestät persönlich. Miranda Priestly. Meine Chefin. »Aan-dreh-aa! Aan-dreh-aa! Hören Sie mich, Aan-dreh- aa?«, trompetete sie mir ins Ohr, sobald ich das Motorola aufgeklappt hatte - keine schlechte Leistung, wenn man bedenkt, dass ich sowieso schon alle Hände voll zu tun hatte - von meinen (nun nackten) Füßen ganz zu schweigen. Ich klemmte mir das Telefon zwischen Kinn und Schulter und schmiss die Zigarette aus dem Fenster, wobei ich um ein Haar einen Fahrradkurier erwischt hätte, der sich dafür mit einem derben, aber wenig originellen Fluch bedankte. »Ja, Miranda. Ich verstehe Sie gut.« »Aan-dreh-aa, wo ist mein Wagen? Haben Sie ihn schon in der Garage abgeliefert?« Endlich war mir auf dieser Höllenfahrt auch einmal das Glück hold. Die nächste Ampel sprang auf Rot um. Ich hielt hoppelnd an, ohne auf irgendwen oder irgendwas aufzufahren, und atmete erst einmal tief durch. »Ich bin noch unterwegs, Miranda. Aber ich müsste gleich da sein.« Ich hängte noch ein paar beruhigende Sätze dran, um ihr zu versichern, dass es sowohl dem Cabrio als auch mir gut ging und wir in wenigen Minuten heil unser Ziel erreicht haben würden. »Ja, ja, schon gut«, fiel sie mir brüsk ins Wort. »Bevor Sie wieder ins Büro kommen, müssen Sie noch Madelaine abholen und in die Wohnung bringen.« Klick. Gespräch beendet. Ich starrte einen Augenblick verdutzt auf das Handy, doch es blieb stumm. Offenbar war Miranda der Meinung, es sei alles Nötige gesagt. Madelaine. Wer zum Henker war Madelaine? Und wo steckte sie gerade? Wusste sie, dass ich sie abholen kam? Was sollte sie in Mirandas Wohnung? Und warum blieb diese Aufgabe mal wieder ausgerechnet an mir hängen, wo Miranda doch einen Chauffeur, eine Haushälterin und ein Kindermädchen beschäftigte? Da in New York das Telefonieren am Steuer verboten ist, bog ich in die Busspur ein, fuhr rechts ran und schaltete die Warnblinkanlage ein. Das Letzte, was mir jetzt noch fehlte, war Zoff mit der Polizei. Einatmen, ausatmen, ermahnte ich mich. Ich dachte sogar noch daran, die Handbremse anzuziehen, bevor ich die Fußbremse losließ. Seit Ewigkeiten hatte ich keinen Wagen mit Gangschaltung mehr gefahren, seit fünf Jahren, um genau zu sein. Damals hatte mir ein Freund an der High School ein paar Stunden Unterricht gegeben, die aber kaum einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatten. Für Miranda alles kein Problem und schon gar nicht einer Nachfrage wert, als sie mich vor anderthalb Stunden in ihr Büro zitiert hatte. »Aan-dreh-aa, holen Sie meinen Wagen ab, und bringen Sie ihn in die Garage. Und zwar sofort. Wir brauchen ihn heute Abend, weil wir in die Hamptons fahren.« Ich stand wie angewurzelt vor ihrem riesigen Schreibtisch, aber sie nahm mich schon gar nicht mehr wahr. Dachte ich zumindest, bis sie mich dann doch noch mit einer abschließenden Bemerkung entließ. »Das wäre alles, Aan-dreh-aa. Erledigen Sie das«, fügte sie hinzu, ohne mich auch nur anzusehen. Aber klar doch, Miranda, dachte ich und verließ das Büro. Ich war noch nicht ganz durch die Tür, da versuchte ich schon krampfhaft herauszufinden, was sie wohl genau mit diesem mysteriösen Auftrag gemeint hatte, der garantiert viele Fallstricke für mich bereithielt. So oder so musste ich als Allererstes austüfteln, wo ich den Wagen abholen sollte. Wahrscheinlich stand er in der Vertragswerkstatt, aber genauso gut konnte er auch in jeder anderen der zig Millionen New Yorker Werkstätten repariert worden sein. Vielleicht hatte sie ihn einer Freundin geliehen, und er wurde nun in irgendeiner sündteuren Garage an der Park Avenue gehätschelt. Natürlich war es auch nicht auszuschließen, dass sie einen neuen Wagen meinte, den sie eben erst gekauft hatte und den ich von einem mir völlig unbekannten Händler nach Hause überführen sollte. Wie auch immer, für mich bedeutete dieser Auftrag vor allem eins: jede Menge Detektivarbeit. Also dann, ans Werk. Ich probierte es zuerst bei Mirandas Kindermädchen, aber bekam nur ihre Mailbox zu hören. Bei der Haushälterin hatte ich mehr Glück. Sie war nicht nur da, sie konnte mir sogar weiterhelfen. Sie verriet mir, dass es sich nicht, wie befürchtet, um einen nagelneuen Wagen handelte, sondern um ein dunkelgrünes Sportwagencabrio, das normalerweise in Mirandas Privatgarage abgestellt war. Die Marke allerdings wusste sie nicht, und ebenso wenig, wo er gerade stand. Als Nächstes versuchte ich es bei der Assistentin von Mirandas Ehemann. Von ihr erfuhr ich, dass die Eheleute ihres Wissens noch einen schwarzen Lincoln Navigator der Luxusklasse und einen kleinen grünen Porsche besaßen. Super! Meine erste heiße Spur. Noch ein Anruf in der Porsche-Werkstatt in der Eleventh Avenue, und der Fall war gelöst. Dort hatte man soeben einige kleinere Lackierungsarbeiten an Ms. Miranda Priestlys grünem Carrera 4 Cabrio durchgeführt und einen neuen CD-Wechsler eingebaut. Volltreffer! Ich bestellte mir eine Limousine und ließ mich in die Werkstatt bringen, wo ich den Mechanikern eine eigenhändig gefälschte Vollmacht von Miranda übergab, die mich berechtigte, den Porsche in Empfang zu nehmen. Dass ich mit der Wagenbesitzerin weder verwandt noch verschwägert war, schien niemanden zu kümmern, genauso wenig wie die Tatsache, dass eine wildfremde Person hereinspaziert kam und sich ganz cool einen teuren Schlitten übergeben ließ, der ihr gar nicht gehörte. Sie warfen mir die Schlüssel zu und lachten bloß, als ich sie bat, mir den Wagen aus der Garage zu setzen, weil ich mir nicht sicher war, ob ich überhaupt den Rückwärtsgang finden würde. Nach einer geschlagenen halben Stunde hatte ich zwar schon sage und schreibe zehn Straßenblocks geschafft, wusste aber immer noch nicht, wo oder wie ich wenden sollte, um endlich in die richtige Richtung fahren zu können, zu der Privatgarage, deren Koordinaten mir Mirandas Haushälterin verraten hatte. Die Chancen, heil dort anzukommen, ohne mir selbst, dem Porsche, einem Radfahrer, Fußgänger oder anderen Fahrzeug etwas anzutun, standen bei null. Und Mirandas Anruf trug nicht gerade dazu bei, meine Nerven zu beruhigen. Wieder startete ich einen Rundumschlag mit dem Handy. Diesmal antwortete das Kindermädchen, und mir fiel ein Stein vom Herzen. »Tag, Cara. Ich bin's.« »Hallo, was gibt's? Bist du unterwegs? Es ist so laut.« »Gut geraten. Ich musste Mirandas Porsche aus der Werkstatt holen. Leider hat der verfluchte Wagen eine Gangschaltung, und schalten ist nicht gerade meine starke Seite. Und jetzt hat Miranda auch noch angerufen, und will, dass ich eine Madelaine abhole und in die Wohnung bringe. Wer ist diese Madelaine, und wo könnte sie stecken?« Cara kriegte sich gar nicht wieder ein vor Lachen. »Made- laine ist ihre französische Bulldogge, und sie ist beim Tierarzt. Sie wurde heute sterilisiert. Eigentlich sollte ich sie nach Hause bringen, aber jetzt muss ich stattdessen die Zwillinge früher aus der Schule holen, damit sie alle in die Hamptons fahren können.« »Das muss ein Witz sein. Ich soll mit diesem Porsche einen Köter abholen? Ohne einen Unfall zu bauen? Unmöglich.« »Sie ist in der East Side Tierklinik, in der 52. Straße. Tut mir leid, Andy, ich muss jetzt los, die Mädchen abholen. Aber ruf mich ruhig an, wenn ich noch etwas für dich tun kann.« Kurz bevor ich endlich in die 52. einbog, war ich mit den Nerven fix und fertig und mit meiner Konzentration total am Ende. Schlimmer kann es nicht mehr kommen, dachte ich, als schon wieder ein Taxi bis auf zwei Zentimeter auf den Porsche auffuhr. Eine Schramme, ein Kratzer, und ich war mindestens meinen Job los, wenn nicht mein Leben. Darauf konnte ich Gift nehmen. Da nicht im Traum daran zu denken war, am helllichten Tag eine Parklücke zu finden - oder auch nur ein freies Plätzchen im Halteverbot -, rief ich in der Klinik an und bat, mir den Hund nach draußen zu bringen. Auf den letzten Metern kam prompt der nächste Kontrollanruf von Miranda, die wissen wollte, warum ich immer noch nicht wieder im Büro war. Wenigstens brauchte ich nicht lange zu warten. Ich hatte kaum angehalten, da erschien auch schon eine nette Frau mit einem winselnden, schnüffelnden Welpen auf dem Arm. Die Frau zeigte mir Madelaines Naht und riet mir, sehr, sehr vorsichtig zu fahren, da der Hund Schmerzen habe. Aber sicher, Lady. Ich fahre sehr, sehr vorsichtig, um meinen Job und möglicherweise nebenbei noch mein Leben zu retten. Wenn der Hund auch etwas davon hat, soll es mir recht sein. Nachdem sich Madelaine auf dem Beifahrersitz zusammengerollt und ich mir eine Zigarette angesteckt hatte, rubbelte ich mir erst mal die eiskalten Füße warm, um Kupplungs- und Bremspedal überhaupt fühlen zu können. Kupplung treten, Gas geben, schalten, betete ich mir vor, während ich versuchte, die arme Madelaine zu ignorieren, die jedes Mal laut aufjaulte, wenn ich Gas gab. Wenn sie nicht jaulte, winselte oder schnaufte sie und wurde zu allem Uberfluss immer hysterischer. Ich wollte sie trösten, aber sie spürte, dass ich es nicht ernst meinte. Außerdem hatte ich keine Hand frei, um sie zu streicheln oder ihr einen aufmunternden Klaps zu geben. Dafür also hatte ich vier Jahre meines Lebens mit der Analyse und Interpretation von Romanen, Theaterstücken, Kurzgeschichten und Gedichten verplempert - um einen kleinen, weißen, schlappohrigen Hund zu trösten, während ich mein Möglichstes tat, den wahnsinnsteuren Luxusschlitten meiner Arbeitgeberin nicht zu Schrott zu fahren. Tolles Leben. Genau das, was ich mir immer erträumt hatte. Wider Erwarten gelang es mir, den Wagen ohne weitere Zwischenfälle in die Garage zu fahren und den Hund bei Mirandas Portier abzuliefern. Aber meine Hände zitterten immer noch, als ich endlich in die Limousine stieg, die mir kreuz und quer durch die ganze Stadt gefolgt war. Der Fahrer sah mich mitfühlend an und meinte, so eine Gangschaltung sei wirklich tückisch, doch mir war nicht nach Smalltalk zumute. »Zurück zum Elias-Clark-Building«, seufzte ich bloß, als derWagen anrollte. Da ich diese Strecke jeden Tag mindestens einmal, manchmal aber auch zweimal fuhr, wusste ich, dass mir höchstens acht Minuten blieben, um ein paar Mal tief durchzuatmen, mich wieder zu beruhigen und mir zu überlegen, wie ich die Asche- und Schweißflecken kaschieren sollte, die auf dem Wildleder meiner Gucci-Hose zu permanenten Gestaltungsmerkmalen geworden waren. Und was die Schuhe anging - bei denen war sowieso Hopfen und Malz verloren. Die einzige Rettung wäre die Schusterbrigade, die bei Runway für genau solche Notfälle Gewehr bei Fuß stand. Leider war die Fahrt diesmal schon nach sechseinhalb Minuten vorbei, und mir blieb nichts anderes übrig, als wie eine wackelige Giraffe auf einem gekappten und einem Stöckelabsatz ins Gebäude zu hinken. Bei einem schnellen Zwischenstopp in der Kleiderkammer staubte ich ein nagelneues Paar kastanienbraune kniehohe Jimmy Choos ab, die fantastisch zu dem Lederrock passten, den ich mir im Vorbeilaufen angelte. Die Lederhose landete auf dem Stapel für die »Couture-Reinigung« (wo die Preise bei 75 Dollar pro Kleidungsstück anfingen). Jetzt noch rasch in den Kosmetikraum. Eine der Redakteurinnen warf einen Blick auf mein verlaufenes Make-up und machte sich sofort mit einem Erste-Hilfe-Köfferchen an die nötigen Ausbesserungsarbeiten. Nicht übel, dachte ich, als ich mich in einem der allgegenwärtigen hohen Spiegel betrachtete. Niemand hätte vermutet, dass ich noch vor wenigen Minuten kurz vor einem Amoklauf mit anschließendem Selbstmord gestanden hatte. Selbstbewusst betrat ich Mirandas Vorzimmer, setzte mich an meinem Schreibtisch und freute mich auf ein paar freie Minuten, bis sie vom Lunch zurückkam. »Aan-dreh-aa«, rief sie aus ihrem spartanisch eingerichteten Büro, das den Charme einer Tiefkühltruhe verströmte. »Wo sind das Auto und der Hund?« Ich schoss wie eine Rakete vom Stuhl hoch und lief, so schnell mich meine 12-Zentimeter-Absätze auf dem plüschigen Teppichboden tragen wollten, hinüber. »Den Wagen haben ich beim Parkwächter in der Garage abgegeben und Madelaine bei Ihrem Portier, Miranda«, antwortete ich. Ich war stolz, beide Aufgaben erfüllt zu haben, ohne den Wagen, den Hund oder mich selbst ins Jenseits zu befördern. »Und was haben Sie sich dabei gedacht?«, fragte sie und blickte tatsächlich von ihrer Women's Wear Daily hoch. »Ich hatte Sie doch ausdrücklich gebeten, den Wagen und den Hund hierher zu bringen. Die Mädchen können jede Minute da sein, und dann wollen wir gleich los.« »Ach. Ich dachte, Sie hätten gesagt, ich soll^« »Genug. Die Details Ihrer Inkompetenz interessieren mich nur peripher. Schaffen Sie mir den Wagen und den Hund her. Ich will in 15 Minuten fahren. Verstanden?« 15 Minuten? Hatte das Weib Halluzinationen? Ich brauchte ein, zwei Minuten, um mit dem Lift nach unten zu fahren und eine Limousine zu bekommen, sechs bis acht zu ihrer Wohnung und dann noch einmal circa drei Stunden, bis ich den Hund in dem i8-Zimmer-Palast aufgestöbert, den verfluchten Wagen aus der Garage geholt und mich wieder bis zu ihrem Büro durchgekämpft hatte. »Selbstverständlich, Miranda. In 15 Minuten.« Kaum stand ich wieder im Vorzimmer, fing ich an zu zittern. Ich fragte mich, ob mein Herz wohl gleich im gesegneten Alter von 23 Jahren den Geist aufgeben würde. Unten auf der Straße schlotterte ich immer noch so heftig, dass mir die Zigarette, die ich mir als Erstes ansteckte, aus der Hand fiel und nicht etwa auf dem Betonboden, sondern genau auf einem meiner neuen Jimmys landete. Bevor sie herunterrollte, schaffte sie es noch, mir ein kreisrundes Loch ins Leder zu brennen. Toll, knurrte ich. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ruinierte Kleidungsstücke im Wert von insgesamt 4000 Dollar an nur einem Tag, eine neue persönliche Bestleistung. Vielleicht ist sie ja tot, bevor ich wieder zurück bin, dachte ich. Ich hatte beschlossen, optimistisch zu bleiben. Vielleicht würde sie an einer seltenen exotischen Krankheit sterben. Das wäre für alle ihre Mitarbeiter eine Erlösung. Ich nahm noch einen letzten Zug von meiner zweiten Zigarette, trat sie auf dem Bürgersteig aus und rief mich zur Vernunft. Du willst nicht, dass sie stirbt, dachte ich. Wenn sie stirbt, hast du keine Chance mehr, sie selbst umzubringen. Und das wäre doch wirklich jammerschade.2 Ich war ein ahnungsloser Engel, als ich zum ersten Vorstellungsgespräch meines Lebens antrat und in einen der berühmten Elias-Clark-Fahrstühle stieg, in denen sich alles, aber auch alles auf und ab bewegte, was in der Modewelt Rang und Namen hatte. Ich wusste nicht, dass die einflussreichsten Klatschkolumnisten, Societypersönlichkeiten und Medienmanager der Stadt wegen der perfekt geschminkten, atemberaubend gekleideten Wesen, die in den edlen Aufzügen geräuschlos nach oben entschwebten, schlaflose Nächte verbrachten. Ich hatte noch nie Frauen mit derart blondem Blondhaar gesehen und wäre nie auf die Idee gekommen, dass allein die Strähnchen vom Starfriseur 6000 Dollar im Jahr kosteten oder dass dem Eingeweihten ein einziger Blick genügte, um anhand der Farbgebung den Coloristen zu identifizieren. Ich hatte auch noch nie so schöne Männer gesehen, die ihre hart erarbeiteten, aber nicht zu muskelbepackten Traumfiguren in eng anliegenden Rollkragenpullovern und knackigen Lederhosen zu Schau stellten. Taschen und Schuhe, die ich noch niemals an einem lebenden Menschen zu Gesicht bekommen hatte, verkündeten stolz, wo sie herkamen: Prada! Armani! Versace! Von der Bekannten einer Bekannten - einer Redaktionsassistentin bei der Zeitschrift Chic - hatte ich gehört, dass es solchen Accessoires hin und wieder sogar vergönnt war, in diesen Fahrstühlen ihren Schöpfern zu begegnen, ein gewiss auch für Miuccia, Giorgio oder Donatella freudiges Wiedersehen mit einem Paar Stiletto- Pumps aus der Sommersaison 2002 oder einem tropfenförmigenHandtäschchen aus der letzten Frühjahrskollektion. Als ich in den Elias-Clark-Aufzug stieg, wusste ich, dass in meinem Leben eine Veränderung bevorstand - bloß ob es eine Veränderung zum Besseren war, das wusste ich nicht. Die ersten 23 Jahre meines Lebens war ich eine eher biedere Provinzpflanze gewesen, aufgewachsen in einer idyllischen Kleinstadt wie aus dem amerikanischen Bilderbuch. Kindheit und Jugend in Avon, Connecticut, verliefen nach dem üblichen Klischee: High-School-Sport, Jugendgruppe, harmlose »Saufgelage« bei Freunden, die eine sturmfreie Bude hatten. In der Schule trugen wir Jogginghosen, am Samstagabend schlüpften wir in unsere Jeans und warfen uns zum Tanztee oder für einen Ball mit braven Rüschenkleidern in Schale. Und dann aufs College! Es war wie eine neue, aufregende Welt, die sich nach der High School auftat. Dort war für jeden etwas geboten, ganz gleich ob Künstler, Aussteiger oder Computerfreak. Auf dem College standen mir sämtliche Möglichkeiten offen. Ich hatte die Qual der Wahl, welchen intellektuellen oder kreativen Interessen ich mich widmen, welches abseitige oder esoterische Orchideenfach ich studieren wollte. Nur ein Fach war im Vorlesungsverzeichnis nicht vertreten: die Haute Couture. Die vier Jahre in Providence, in denen ich Seminare über die französischen Impressionisten besuchte und mir ellenlange Hausarbeiten zur englischen Literatur abrang, bereiteten mich in keiner - nein, in keinster Weise - auf meine erste »richtige« Arbeitsstelle vor. Ich schob den Augenblick der Wahrheit so lange wie möglich hinaus, indem ich mir nach dem Examen erst mal ein bisschen Geld zusammenpumpte und einen Trip über den großen Teich machte. Einen Monat lang klapperte ich mit dem Zug halb Europa ab, sah dabei aber, wie ich zugeben muss, wesentlich mehr Strände als Museen. Fast der Einzige, mit dem ich während dieser Zeit in Kontakt blieb, war mein Freund Alex, mit dem ich damals schon seit drei Jahren zusammen war. Er wusste genau, dass mir das Alleinreisen nach spätestens fünf Wochen auf den Keks gehen würde, und weil er seine Stelle als Lehrer erst im September antreten musste, überraschte er mich in Amsterdam. Bis dahin hatte ich Europa ziemlich abgegrast, und weil Alex im Sommer davor schon dort gewesen war, schmissen wir nach einem verrückten Nachmittag in einem Coffee Shop unsere Traveller Checks zusammen und kauften kurz entschlossen zwei Flugtickets nach Bangkok. Dann reisten wir kreuz und quer durch Südostasien. Wir gaben am Tag kaum mehr als zehn Dollar aus und redeten über unsere Zukunftspläne. Er freute sich schon wahnsinnig darauf, an einer Schule unterrichten zu dürfen, die mitten in einem der sozialen Brennpunkte der Stadt lag, war begeistert von der Idee, junge Seelen zu formen und sich für die Armen und Benachteiligten einzusetzen. Typisch Alex. Ich verfolgte keine derart hehren, idealistischen Ziele. Im Gegenteil, ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, für eine Zeitschrift zu arbeiten, und zwar nicht für irgendeine, sondern für den renommierten New Yorker. Und obwohl ich mir denken konnte, dass man in der Redaktion nicht gerade auf mich warten würde, war ich fest entschlossen, es bis zum fünften High-School-Klassentreffen geschafft zu haben. Für den New Yorker zu schreiben, war schon immer mein größter Wunsch gewesen. Das erste Heft hatte ich mir gekauft, nachdem sich meine Eltern einmal über einen besonders gelungenen Artikel unterhalten hatten. Meine Mutter: »Eine derart intelligente Schreibe findet man heute nirgends mehr.« Mein Vater: »Etwas Scharfsinnigeres gibt es nicht.« Ich war sofort hin und weg gewesen. Die peppigen Rezensionen und die witzigen Cartoons hatten mich regelrecht vom Hocker gerissen. Hinzu kam das Gefühl, einem erlesenen Zirkel anspruchsvoller Leser anzugehören. Seit nunmehr sieben Jahren hatte ich keine Ausgabe mehr verpasst, und ich kannte die Namen aller Redakteure und Autoren in- und auswendig. Alex und ich standen also beide an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt. Trotzdem hatten wir es nicht eilig, wieder nach Hause zu kommen. Irgendwie spürten wir wohl, dass dies unsere letzten unbeschwerten Tage sein würden, bevor uns die Wirklichkeit gnadenlos beim Schopf zu packen bekam, und so verlängerten wir in Delhi unsere Visa, um noch ein paar Wochen länger durch das exotische Indien zu reisen. Eine Schnapsidee, wie sich zeigen sollte. Nichts ist tödlicher für die Romantik als eine Amöbenruhr. Eine Woche lang litt ich, von Alex liebevoll gepflegt, in einer dreckigen indischen Herberge vor mich hin, bis ich mich geschlagen gab und wir den Rückflug antraten. Nachdem meine Mutter mich am Flughafen auf den Rücksitz des Autos gepackt hatte, hörte sie auf der gesamten Fahrt nach Hause nicht mehr auf, mit dem Kopf zu schütteln. Auf eine gewisse Weise war der Traum einer jeden jüdischen Mutter nun auch für sie wahr geworden. Sie hatte einen Grund, mit mir von Arzt zu Arzt zu Arzt zu ziehen, um ganz sicherzugehen, dass sich auch nicht mehr der mickrigste Parasit in ihrem Töchterlein versteckt hielt. Es dauerte vier Wochen, bis ich wieder das Gefühl hatte, zu den Lebenden zu gehören, und zwei weitere, bis mir dämmerte, dass ich es zu Hause nicht mehr aushielt. Mom und Dad waren fantastisch, aber jedes Mal gefragt zu werden, wo ich hin wollte, wenn ich das Haus verließ, war auf die Dauer ätzend. Ich rief meine Freundin Lily an und fragte sie, ob sie mich in ihrem Miniapartment in Harlem aufnehmen würde. Aus reiner Herzensgüte sagte sie ja.Schweißgebadet wachte ich in Lilys winziger Bude auf. Mir brummte der Schädel, der Magen grummelte, jeder Nerv war bis zum Äußersten gereizt. O nein, nicht schon wieder!, dachte ich entsetzt. Die Parasiten sind zurück, und ich werde sie bis an mein Lebensende nicht mehr los! Und wenn es womöglich etwas noch viel Schlimmeres war? Vielleicht hatte ich mir eine seltene, verzögert auftretende Form des Denguefiebers eingefangen? Oder Malaria? Oder gar Ebola? Still und starr lag ich da und bereitete mich innerlich schon auf mein baldiges Ableben vor, als plötzlich Bilder der vergangenen Nacht vor mir aufstiegen. Eine verräucherte Kneipe irgendwo im East Village. Ein infernalisches Geschepper, das sich Jazz Fusion Musik nannte. Ein knallrosa Cocktail in einem Martiniglas - igitt! Nur nicht daran denken. Freunde und Bekannte, die vorbeikamen, um mich in der Heimat zu begrüßen. Ein Trinkspruch, ein Pinkschluck, noch ein Trinkspruch. Gott sei Dank, es war weder Gelb-, Fleck- noch Schwarzwasserfieber, sondern bloß ein ganz ordinärer Kater. Ich hatte nicht daran gedacht, dass ich nach der überstande- nen Ruhr mit zehn Kilo weniger auf den Rippen wohl nicht mehr ganz so viel Alkohol vertragen konnte wie vorher. Knapp 52 Kilo bei einer Körpergröße von 1,75 m verhießen für eine Nacht auf der Piste nichts Gutes (auch wenn sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass diese Werte für einen Job bei einer Modezeitschrift idealer nicht hätten sein können). Tapfer entfaltete ich auf Lilys Knochenbrechercouch, auf der ich seit einer Woche schlief, die schmerzenden Glieder und konzentrierte meine ganze Energie darauf, mich nicht zu übergeben. Sich wieder an Amerika zu gewöhnen - das Essen, die Umgangsformen, die herrlichen Duschen - war nicht allzu schwierig gewesen. Bloß das Hausen im Notquartier war auf die Dauer nichts für mich. Wenn ich sparsam lebte und meine letzten Baht und Rupien zusammenkratzte, blieben mir noch knapp anderthalb Wochen, bevor ich komplett abgebrannt war. Meine Eltern wären jederzeit bereit gewesen, mir auszuhelfen, aber diese Hilfe hatte einen kleinen Haken. Ich würde wieder bei ihnen einziehen und mir zu allem und jedem ihren Kommentar anhören müssen. Bei diesem Gedanken wurde ich schlagartig munter, und es hielt mich keine Sekunde länger auf der Mördercouch. Und so begann jener schicksalhafte Novembertag, an dem mich in weniger als einer Stunde das erste Vorstellungsgespräch meines Lebens erwartete.