Textprobe:
Kapitel 2.3, Entstehungsgründe:
In Deutschland kann die Entstehung von Bürgerhaushalten auf unterschiedliche Ent-wicklungen zurückgeführt werden. Einerseits ist der Bürgerhaushalt ein Resultat der seit Jahren zunehmenden Bestrebungen partizipative Demokratieelemente auf kommunaler Ebene zu etablieren, um den Bürgern mehr Beteiligungsmöglichkeiten einzuräumen. Mit der Einführung der Direktwahl des Bürgermeisters und der Verankerung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden in den Kommunalverfassungen wurde hierfür in den 1990er Jahren ein erster Grundstein gelegt. Andererseits begünstigten verschiedene Reformen zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltung die Einführung von Bürgerhaushalten in Deutschland. Hierbei stellte das Neue Steuerungsmodell (NSM), das Anfang der 1990er Jahre von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) entwickelt wurde, einen wichtigen Reformansatz dar. Ziel des NSM ist es, durch die Übertragung betriebswirtschaftlicher Kriterien auf das Verwaltungshandeln die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Die Kernelemente des NSMs sind die Stärkung der Kundenorientierung, die dezentrale Fach- und Ressourcenverantwortung sowie eine outputorientierte Steuerung. Bei der Implementierung des NSM ergaben sich in der Praxis jedoch erhebliche Defizite. Es stellte sich heraus, "dass die ökonomische Betrachtungsweise dem politischen Charakter der kommunalen Selbstverwaltung und den unterschiedlichen Rollen des Bürgers nicht genügend Rechnung trägt".
Diese Erkenntnis berücksichtigt das neue Modell der Bürgerkommune, indem es die Verwaltungsmodernisierung mit einer verstärkten bürgerschaftlichen Partizipation bei Planungs- und Entscheidungsprozessen verknüpft. In der Bürgerkommune kommt dem Bürger nicht nur eine Kundenrolle, sondern auch eine Mitgestalter- und Auftrag-geberrolle zu. Das Reformmodell der "Bürgerkommune" strebt damit eine Neugestaltung des Kräftedreiecks zwischen Bürgern, Politik und Verwaltung an. Der Bürger-haushalt stellt hierzu ein mögliches Instrument dar.
2.4, Christchurch statt Porto Alegre als Vorbild:
Der Bürgerhaushalt findet seinen Ursprung in der brasilianischen Stadt Porto Alegre. Dort haben die Bürger seit 1989 die Möglichkeit, sich an der Aufstellung des Haushalts zu beteiligen. Ausschlaggebend für die Entstehung des Bürgerhaushalts in Porto Alegre war ein "window of opportunity", das sich durch den Wahlsieg eines Bündnisses linker Parteien unter Führung der Arbeiterpartei ("Partido dos Trabalhadores") im Jahr 1988 eröffnete. Zwei zentrale Wahlkampfversprechen dieses Bündnisses stellten die Armutsbekämpfung und eine stärkere Bürgerbeteiligung dar. Darüber hinaus hatte sich das Bündnis die Übertragung seines basisdemokratischen Selbstverständnisses auf die Stadtpolitik zum Ziel gesetzt. Hinzu kamen die Forderungen aus der Zivilgesellschaft, die sich insbesondere über Stadtteilinitiativen Gehör verschafften, nach mehr Mitspracherechten und einer gerechten Verteilung der öffentlichen Mittel. Auch die sozialräumliche Spaltung und die gesamtgesellschaftliche Entwicklung in Porto Alegre Ende der 1970er Jahre bildeten einen guten Nährboden für die Entstehung und den Erfolg des Bürgerhaushalts. Der Bürgerhaushalt von Porto Alegre steht somit symbolisch für ein Verfahren, das bislang vom politischen Entscheidungsprozess ausgeschlossene soziale Gruppen einbezieht und durch einen Großteil der Bevölkerung unterstützt wird. Die weltweite Aufmerksamkeit für dieses Verfahren hat in Porto Alegre schließlich dazu geführt, dass die Regierung ihr ursprünglich eigennütziges Verhalten abgelegt hat und zur Übernahme gesamtgesellschaftlicher Verantwortung bereit war.
Für die Einführung der Bürgerhaushalte in Deutschland war jedoch nicht der Ansatz von Porto Alegre, sondern vielmehr das Modell aus der neuseeländischen Stadt Christchurch maßgeblich. Die dortige Verwaltung zeichnet sich insbesondere durch eine enorme Wettbewerbsorientierung, eine Trennung operativer und politischer Ver-antwortung, eine Verknüpfung von Bürgerorientierung und Effizienz sowie eine detail-lierte Rechenschaftslegung aus. Der Haushaltprozess in Christchurch beginnt in den sog. "community boards", vergleichbar mit den deutschen Ortschaftsräten, wo stadt-teilorientiert erste Vorschläge ausgearbeitet werden. Die Bürgerbeteiligung erfolgt mittels schriftlicher Eingaben, über die in öffentlicher Sitzung diskutiert und anschließend vom Rat entschieden wird. Kennzeichnend für den Haushalt von Christchurch ist eine übersichtliche und leicht verständliche Aufbereitung der Inhalte. Aufgrund der internationalen Erfolge der Stadt Christchurch, setzte sich die Idee des partizipativen Haushalts im Jahr 1998 auch in Deutschland durch. Die Initiative ging hierbei von dem Netzwerk Kommunen der Zukunft aus, das die Einführung des Bürgerhaushalts in insgesamt sieben deutschen Kommunen begleitete. Die Vorreiterrolle übernahm dabei Bürgermeister Gerhard Dietz mit seiner kleinen Schwarzwaldgemeinde Mönchweiler, die im Jahr 1998 in Deutschland als erste Kommune den Bürgerhaushalt einführte. Bereits zwei Jahre später wurde von der Bertelsmann Stiftung und dem Innenministerium Nordrhein-Westfalen das Modellprojekt Kommunaler Bürger-haushalt NRW initiiert. Durch dieses Projekt ist es gelungen, weitere sechs Kommunen für die Erprobung des Bürgerhaushalts zu gewinnen. Seither erfreut sich der Bürgerhaushalt zunehmender Beliebtheit und verbreitet sich in Deutschland mit rasen-der Geschwindigkeit.
2.5, Rechtlicher Hintergrund:
Bei dem Bürgerhaushalt handelt es sich um ein informelles Verfahren zur Bürgerbeteiligung, das in Deutschland vorwiegend auf kommunaler Ebene eingesetzt wird. Die Beteiligung der Bürger erstreckt sich hierbei nicht nur auf einzelne Projekte oder Vor-haben, sondern vielmehr auf das wichtigste Steuerungsinstrument für die Entwicklung einer Kommune: den Haushaltsplan. Der Haushaltsplan dient der Kommune zur Feststellung und Deckung des Finanzbedarfs, der voraussichtlich für die Aufgabenerfüllung im Haushaltsjahr entstehen wird. Er ist die Grundlage dafür, Ausgaben zu leisten und Verpflichtungen einzugehen. Der Haushaltsplan setzt damit verbindliche Vorgaben zur Führung der Haushaltswirtschaft einer Kommune.
Bislang ist in den meisten Kommunalverfassungen lediglich die Pflicht zur öffentlichen Auslegung des Haushaltsplans verankert. In Berlin und Nordrhein-Westfalen wurden bereits erste gesetzliche Grundsteine für eine weitreichendere Bürgerbeteiligung an dem Haushaltsverfahren gesetzt. Die nordrhein-westfälische Gemeindeordnung (GO NRW) regelt beispielsweise, dass die Einwohner gegen den Haushaltsplanentwurf Einwände erheben können. Das Berliner Bezirksverwaltungsgesetz (BezVG) enthält bisher die umfassendste Regelung zur Bürgerbeteiligung bei der Haushaltsaufstellung. Das BezVG schreibt bei dem Haushaltsplan sowie bei mittel- und langfristigen Entwicklungsplanungen eine rechtzeitige Unterrichtung der Einwohnerschaft über Grundlagen, Ziele, Zweck und Auswirkungen vor. Zudem soll den Einwohnern Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden.
Trotz der in Berlin und Nordrhein-Westfalen geschaffenen formellen Basis, gehen Bürgerhaushaltsverfahren weit über das gesetzlich vorgeschriebene Maß hinaus und basieren weitestgehend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Aufgrund der in Art. 28 Abs. 2 GG verankerten kommunalen Selbstverwaltungsgarantie können die meisten Gemeinden deshalb bislang selbstständig über die Einführung und Ausgestaltung des Bürgerhaushaltsverfahrens entscheiden.
2.6, Chancen und Risiken:
Die Erwartungen, die in der kommunalen Praxis mit der Einführung von Bürgerhaus-haltsverfahren verbunden werden, sind vielfältig. Bürgerhaushalte sollen die Verständlichkeit und Transparenz des Haushalts erhöhen, eine größere Akzeptanz politischer Entscheidungen erreichen und eine umfassendere Bürgerbeteiligung an dem Haushaltsverfahren gewährleisten. Zudem sollen durch die Einbeziehung gesellschaftlichen Wissens in die Entscheidungsprozesse, die Effektivität und Effizienz des kommunalpolitischen Systems erhöht und die Politiker zur sparsameren Verwendung öffentlicher Gelder angehalten werden. Hinzu kommt die Hoffnung der politischen Entscheidungsträger, mit Hilfe der Bürgerbeteiligung, gesellschaftliche Widerstände bei konfliktträchtigen Vorhaben oder Konsolidierungsmaßnahmen vermeiden zu können.
Gegen eine direkte Beteiligung der Bürger am Haushaltsverfahren wird oftmals ange-führt, dass die Kosten in keinem Verhältnis zu dem Nutzen des Verfahrens stehen und aus der Bürgerbeteiligung keine verwertbaren Ergebnisse resultieren. Zudem wird das Bürgerhaushaltsverfahren häufig auch als "Alibi-Veranstaltung" ohne wirkliche Einflussmöglichkeit angesehen und deshalb befürchtet, dass die daraus resultierende Enttäuschung bzw. die unerfüllten Erwartungen bei den Bürgern zur Resignation führen könnten. Häufig in der Kritik steht auch die mangelnde Repräsentativität von Bürgerhaushaltsverfahren, die insbesondere durch eine geringe Bürgerbeteiligung und eine Überrepräsentation gewisser Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet sein soll. Auch die Behauptung, dass dieses Instrument häufig von organisierten und ohnehin bereits politisch engagierten Bevölkerungsteilen missbraucht wird, findet bei den Gegnern von Bürgerhaushaltsverfahren großen Zuspruch. Eine andere kritische Bemerkung bezieht sich auf das als unzureichend empfundene Bürgerwissen. Die Bürger seien nicht ausreichend informiert und verfügten lediglich über Oberflächenwissen, würden die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht kennen und seien daher mit einem Bürgerhaushaltsverfahren schlichtweg überfordert. Nach Auffassung der Kritiker können solche Partizipationsversuche langfristig sogar die Stabilität des gesamten politischen Systems gefährden. Dies wird insbesondere damit begründet, dass den gewählten Vertretungskörperschaften die Entscheidungskompetenz genommen wird und dadurch meist Alternativen umgesetzt werden, die lediglich einen Minimalkonsens aller Beteiligten auf sich vereinigen oder eine entsprechende Lobby haben.
Inwieweit Bürgerhaushaltsverfahren in der Realität tatsächlich solche positiven oder negativen Effekte entfalten, ist bislang noch offen.
3, Evaluation von Bürgerhaushaltsprojekten:
In einem Artikel der Frankfurter Neuen Presse heißt es zum Frankfurter Bürgerhaushalt 2014: "Bürgerhaushalt ist gescheitert und wird beendet". Unter der Kategorie Lob & Kritik auf der Internetplattform des Frankfurter Bürgerhaushalts posten Bürger zu dem gleichen Verfahren hingegen Beiträge, wie beispielsweise "Klasse Idee mit der Bürger-befragung" oder "Großes Lob an die Stadt für diese Aktion". Zu ein und demselben Verfahren liegen somit Bewertungen vor, die unterschiedlicher kaum ausfallen könnten. Was führt zu solch unterschiedlichen Einschätzungen? Was ist für die Autoren dieser Beiträge ausschlaggebend, um zu diesen Einschätzungen zu gelangen? Anders als bei den zitierten Bewertungen, legt eine wissenschaftliche Evaluation die Kriterien offen, anhand derer der Erfolg oder Misserfolg und die Wirkungen eines Bürgerhaushaltsprojektes beurteilt werden. Evaluationen tragen zudem dazu bei, die Stärken und Schwächen eines Verfahrens zu identifizieren und dadurch künftige Verfahren zu verbessern. Wie bereits erwähnt, liegen über die Wirkungen und Erfolgsfaktoren von Bürgerhaushaltsprojekten bislang kaum methodisch fundierte Ergebnisse vor, weshalb vielfach ideologische Ziele, Erwartungen oder gar Befürchtungen an die Stelle empirischer Befunde treten (vgl. Abschnitt 2.6).
Inzwischen gibt es zwar einige methodische Vorschläge zur Evaluation von Beteili-gungsprojekten und verschiedene Einzelfallstudien zu bestimmten Bürgerhaushaltsverfahren, vergleichende empirische Analysen stellen jedoch nach wie vor die absolute Ausnahme dar. Um herauszufinden, ob die erhofften Wirkungen von Bürgerhaushaltsprojekten tatsächlich eintreten und welche Faktoren dabei eine wichtige Rolle spielen, bedarf es einer umfassenden empirischen Untersuchung, die mehrere Bürger-haushaltsverfahren anhand einheitlicher Kriterien evaluiert. Hierzu ist es zunächst erforderlich den derzeitigen Forschungsstand zu den Wirkungen sowie die bisherigen Erkenntnisse über die Erfolgsfaktoren darzustellen. Anschließend kann auf dieser Basis systematisch ein Evaluationsraster für die empirische Untersuchung entwickelt werden.