Leseprobe aus: "Vom Schicksal der Zeit", Kapitel 3
Und dann griffen die Zahnräder der Lebensuhr ineinander und rückten den Zeiger der Ereignisse ein Stückchen vor.
Tick, tack.
Der Tag, an dem sich alles ändern sollte, zeigte sich nicht mehr ganz so eisig. Der Schnee taute, und ein niemals endender Wasserlauf gluckste und blubberte am Werkstattfenster hinab. Ich erinnere mich genau, wie Johanna aufgeregt hereinplatzte und behauptete, wieder einmal ein Antlitz im Spiegel gesehen zu haben. Sobald das junge Ding durch die Tür kam, roch es nach Sommerblüten. Johanna war hübsch, aber eigensinnig. Einen Ehemann hatte sie noch nicht.
Immer, wenn es mit ihren Eltern zum Streit kam, stattete sie ihrem Onkel Konrad einen Besuch ab. Und er hörte sich ihre Sorgen an und sprach beruhigende Worte.
Es war nun schon das zweite Mal, dass sie vorbeikam und von diesen geisterhaften Gesichtern erzählte. Sie sagte, es wäre gewesen, als blicke jemand wie durch ein Fenster aus dem Spiegel heraus. Eine unglaubliche Geschichte. Konrad bot ihr eine Erklärung, die von Lichtspiegelungen und Schattenspielen handelte. Aber damit gab sie sich nicht zufrieden.
Ich fand das Thema interessant. Es war möglich, dass mehr an der Sache dran war, als ich vermutete. Dennoch beschloss ich, mich aus Konrads Familienangelegenheiten herauszuhalten. Ich polierte derweil das Gehäuse einer verwitterten Holzräderuhr mit Weckerscheibe.
». und hin und wieder meint man Dinge im Augenwinkel gesehen zu haben«, erklärte Konrad und gab sich große Mühe, jedes seiner Worte mit Bedacht zu wählen.
»Sie hat mir geradewegs in die Augen gestarrt«, entgegnete Johanna aufgeregt.
Konrad versuchte sich mit einer weiteren Erklärung: »Wenn man morgens in Gedanken versunken ist, kann einem das eigene Gesicht durchaus fremd erscheinen.«
Johanna platzte der Kragen. »Du denkst, ich . ich bin verrückt? Möchtest du das sagen? Dass ich hier oben Probleme habe?« Sie klopfte mit dem Zeigefinger gegen ihren Kopf. »Im Spiegel war das Gesicht einer grauhaarigen Frau! Und sie hat sich ebenso erschreckt, wie ich mich.« Sie stampfte zur Tür. Dann rief sie vorwurfsvoll: »Wenn mir nur einmal jemand etwas glauben würde!«, und riss wütend die Tür auf.
Ein kalter Windstoß fegte durch die Werkstatt. Ich erschrak. Vor der geöffneten Tür stand eine Dame mittleren Alters. Sie war aufwendiger gekleidet, als man es für gewöhnlich zu sehen bekam, mit einem roten Mantel und glänzenden, schwarzen Lederstiefeln. Der buschige Fellkragen umrahmte ihr aufwendig geschminktes Gesicht, Lippen und Wangen rot, die Lider blau. Obwohl ihr Haar graue Ansätze aufwies, wirkte es ungewöhnlich edel und gepflegt. Wenn man so lange wie ich mit Menschen zu tun hat, bekommt man ein Gespür dafür, wie sie ticken. Diese Frau hatte Vermögen, das sah ich gleich. Und ihrem entschlossenen Mienenspiel nach war sie gewillt, einen Teil davon hierzulassen - in der Uhrmacherei Meisner.
»Niemand versteht mich!«, kreischte Johanna hysterisch und schob sich hastig an der vermeintlichen Kundin vorbei nach draußen.
Die unerwartete Besucherin ignorierte die Familienszene. Es war ihr lästig, las ich in ihrem Ausdruck. Und, dass es ihren außergewöhnlichen Auftritt zunichtegemacht hatte - ihr die Show stahl. Sie schlug die Augen auf, zog ein Tuch aus der Tasche und tupfte sich die Stirn, als wäre sie noch gar nicht da.
Ein paar unendlich lange Sekunden vergingen.
Konrad war derjenige, der die peinliche Stille unterbrach: »Kann ich Ihnen weiterhelfen?«
»Oh«, sagte sie und sah uns überrumpelt an, als wäre die Tür eben erst aufgegangen. »Selbstverständlich.« Jetzt trat sie ein.
Ich konnte ihren vernichtenden Blick förmlich spüren, wie er durch die Werkstatt glitt, prüfend, herablassend, und auch vor Konrad und mir keinen Halt machte. Sie verzog den Mund, als hätte sie einen Schweinestall betreten müssen.
Gerade wollte sich die peinliche Stille wieder ausbreiten, da meinte sie: »Ich bin auf der Suche nach einem ausgezeichneten Kunsthandwerker.«
Konrad war sichtlich überrumpelt. Und er schien aus der Starre nicht so bald zu erwachen. Darum riss ich die Situation an mich.
»Da sind Sie hier genau richtig«, sagte ich, sprang auf und hielt ihr die Hand hin. »Frau .?«
Sie kehrte mir den Rücken zu, betrachtete die Wanduhr und meinte: »Und wie mir scheint, habe ich gefunden, wonach ich suche. Ich möchte Uhren kaufen. Kleine Uhren. Taschenuhren. Eine ganze Menge.« Ihre Art war mir unangenehm. Sie ignorierte mich. Und ihre Worte klangen von oben herab. »Und man sagt, Sie hätten ausreichend Zeit.«
Jetzt packte mich die Wut.
Zum Glück kam Konrad in Bewegung. »Hören Sie mal, Frau .«
»Heckel«, verkündete sie stolz. »Walburga Heckel.«
Er machte große Augen. Er kannte den Namen. ». Frau Heckel. Erzählen Sie mir bitte, worum es geht. Dann sage ich Ihnen, ob es in unsere Auftragslage passt.«
»Ich sagte es bereits. Ich brauche viele Taschenuhren. Sehr viele.«
»Sie wissen, dass so eine Arbeit Geld .«
»Geld spielt keine Rolle«, fiel sie ihm ins Wort.
Konrad sah mich verdutzt an. Ich zuckte mit den Schultern. Schließlich fragte er: »Und wie haben Sie sich diese Stücke vorgestellt?«
»Hübsch müssen sie sein. Unwiderstehlich. Den Rest überlasse ich ganz allein Ihrem Gespür.«
Das hörte sich gut an. Zu gut.