Montag, der 30. Januar 1933
Am Montag, dem 30. Januar 1933, sitzt Gustav Wächter am Schreibtisch seines Büros im Finanzamt Baumeisterstraße 8. Er hat soeben einige Dokumente unterzeichnet, blickt auf und betrachtet durch sein Fenster die Frauenstatue, die das siebzehn Meter hohe Denkmal auf dem Hansaplatz krönt. Sie stellt nicht Hammonia dar, die Schutzpatronin Hamburgs, wie viele glauben, sondern bildet eine allegorische Darstellung der Hanse in Frauengestalt, eine norddeutsche Marianne. Ihre rechte Hand ist in einer beschützenden Geste über den Platz erhoben und in der linken trägt sie einen Dreispitz, an dessen Fuß eine Hansekogge aus dem Stein gemeißelt wurde, auf deren Heck das Hamburger Stadtwappen in Gold abgebildet ist. Das Denkmal wurde aus belgischem Granit und Sandstein errichtet, es steht auf einem kreisförmigen Treppensockel, der zu dem quadratischen, halbhoch mit Wasser gefüllten Becken führt. Wasser, das aus vier Löwenmäulern spritzt und in muschelförmige Becken hinunter gespuckt wird. Über den Löwenköpfen steht in vier Nischen eine zusammengewürfelte Ansammlung von Statuetten - der römische Kaiser Konstatin, Karl der Große, Erzbischof Ansgar und Adolf der III. von Schauenburg. Darüber thronen die Stadtwappen der norddeutschen Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck sowie das deutsche Reichswappen. Es ist nicht ganz einfach zu durchschauen, warum diese Figuren und Symbole um den Brunnen auf dem Hansaplatz versammelt wurden, aber man ahnt, dass dieses Denkmal von der Macht der Hanse und Hamburgs Platz als natürlicher Bestandteil des Deutschen Reichs erzählen will. Gleichzeitig erzählen die vier Statuetten im Sockel des Denkmals etwas über die Christianisierung Europas und vor allem Norddeutschlands.
Rund um den Hansebrunnen neigt sich der Markthandel für diesen Tag dem Ende zu. Einige der fahrenden Händler haben ihre Waren bereits weggepackt und Gustav lauscht dem charakteristischen Geräusch der metallbeschlagenen Räder ihrer Wagen auf dem Pflaster, als plötzlich einer der ihm unterstellten Mitarbeiter ohne anzuklopfen in sein Büro stürmt. So etwas ist noch nie vorgekommen. Einmal im Raum erzählt der Kollege mit einer Mischung aus Euphorie und kaum verhohlener Schadenfreude, dass Adolf Hitler nun Reichskanzler ist. Der hereinstürmende Kollege, dessen Name Georg Herrel ist, erkennt plötzlich, dass er etwas Ungehöriges getan hat, und entschuldigt sein Verhalten damit, dass er Geburtstag hat. "Ich werde heute fünfundvierzig", erklärt er verlegen und man sieht ihm an, dass er dies als ein Omen betrachtet.
Ein anderer Mann, der an diesem Tag Geburtstag feiert, ist Franklin Delano Roosevelt, der frisch gewählte, aber noch nicht in sein Amt eingeführte, zweiunddreißigste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, der zu einem würdigen Gegner Hitlers werden und den Führer schließlich gemeinsam mit anderen besiegen wird. Georg Herrel ist sich dieses Zusammentreffens nicht bewusst, als er sich zurückzieht, um seinen Geburtstag zu feiern, und seinen Chef verlässt, der alleine den Platz betrachtet.
In Gustav Wächters Augen ist der Hansaplatz immer einer der schönsten Plätze der Stadt gewesen und er hat seinen Arbeitstag häufig damit beendet, bei den Händlern auf dem Platz oder in einem der kleinen Geschäfte, die ihn umsäumen, einzukaufen. Er überlegt, ob er in Herrn Simmons Drogerie an der Ecke Hansaplatz 7 vorbeischauen und dort einige stärkende Hustenbonbons kaufen soll, ehe er zum Hauptbahnhof weitergeht, um dort die Hochbahn zu seiner Wohnung im Eppendorfer Weg zu nehmen, als ihm plötzlich auffällt, dass die Frauenstatue, die den Hansebund symbolisieren soll, ihm den Rücken zukehrt. Er hat bisher nie darüber nachgedacht, aber sie blickt nach Südosten, zum Steindamm und dahinter in Richtung Heiliges Land. Und zum ersten Mal sieht Gustav Wächter, dass ihre Hand nicht beschützend über die Stadt erhoben ist, sondern vor ihrem Körper zum Hitlergruß ausgestreckt wird.