Wenn man noch immer in demselben Haus lebt, in dem man seine Kindheit verbrachte und Abschied von Eltern und Großeltern nahm, macht es keine Mühe, Empfindungen der Anhänglichkeit an die Stadt seines Lebens zu entwickeln. Fallen die Stationen des eigenen Weges aber mit denen des Gemeinwesens zusammen, so schimmert durch beiläufige Erinnerungen die Epoche hindurch. Berlin, das war der Schulweg durch stille Villenstraßen, in denen das Geräusch des Rasensprengers deutlicher zu hören war als der Marschtritt der Bürgerkriegsarmeen, die ja längst entmachtet waren, die eine Seite wie die andere, SA wie Rotfront. Nahm der Zehnjährige etwas wahr von der Wirklichkeit des Dritten Reiches, wenn er mit den Eltern in den großen Ferien an die See fuhr, in die Bäder auf Usedom oder Wollin? Wohl nur, daß auf den Strandburgen Feldzeichen gleich verschiedene Fähnchen im Seewind knatterten, die pommerschen Farben hier, die preußischen dort, wenn es nicht Phantasieflaggen waren, die kaiserliche Standarte oder der Nivea-Wimpel. Die Doppeldecker jedenfalls, die oben über die Steildünen Spruchbänder zogen, warben für Zigarettensorten, Kurkonzerte und Seebäderdienste nach Rügen oder Zoppot. Politische Parolen sind dem Rückschauenden nicht im Gedächtnis. War es eher die Normalität als die Vulgarität, die wenige Jahre später dem Internatsschüler an Berlin auffiel, wenn er aus der Hermann-Lietz-Schule in Thüringen für die Ferien ins elterliche Haus zurückkehrte? Im dörflichen Ettersburg wie im kleinstädtischen Weimar hatte man beim Bäcker mit dem Namen des »Führers« grüßen müssen, wenn man einen Mohrenkopf oder einen Amerikaner verlangte; mit dergleichen hätte man sich in der Reichshauptstadt lächerlich gemacht. Aber inzwischen war die Unschuld dahin. Der Pücklersche Park der Schloßschule Ettersburg grenzte ja an den Forst von Buchenwald, und zwischen Haselnußsträuchern und Robiniengebüsch war man beim morgendlichen Waldlauf auf Warnschilder mit dem Totenkopf gestoßen, der auf elektrisch geladene Sperrzäune aufmerksam machte; hin und wieder war es vorgekommen, daß die Schüler nachts durch Alarmsirenen und Hundegebell geweckt wurden. Die Dorfbewohner erzählten am nächsten Morgen, daß ein Häftling - womit man sehr ungenaue Vorstellungen verband - einen Fluchtversuch gemacht oder im geladenen Drahtverhau den Tod gesucht hatte. Da kehrte man dann nach Berlin wie in die Geborgenheit zurück; schon im Internat hatte man die Spielpläne studiert, und zu Hause galt die erste Sorge Grabbes »Hannibal« in Heinrich Georges Schiller-Theater und Shaws »Heiliger Johanna« in der Volksbühne. Das war in den Osterferien des Jahres 1940 gewesen, in vier Wochen würde der Frankreich-Feldzug beginnen. Als er vorüber war, hatte die Mutter, deren Vater schon in den ersten Schlachten 1914 als Regimentskommandeur gefallen war, am Tage der Siegesparade in Paris sich am Familientisch verwundert, daß »dem Mann« alles in ein paar Wochen gelinge, was im ersten Krieg in vier langen Jahren fehlgeschlagen war. Da hatte der Vater nur knapp bemerkt, mit der Parade der Deutschen auf den Champs-Élysées fange es an und mit der Parade der Russen Unter den Linden werde es enden. An der Tafel, der Vierzehnjährige verfolgte jedes Wort, hatte man eingeworfen, man dürfe es mit dem Haß auch nicht übertreiben, diesmal seien die Russen die Verbündeten, nicht die Gegner. Unvergeßlich die väterliche Antwort in das Schweigen hinein: »Es fragt sich nur, wie lange noch.« Das war Berlin in jenem Sommer 1940. In den benachbarten Häusern fanden im Herbst die Gartenfeste statt, auf denen die Tanzstundenfreunde der Schwester als dekorierte junge Offiziere von den Tabletts die Fruchtgetränke nahmen; schräg gegenüber der neunzehnjährige Fahnenjunker hatte das Glück einer Verwundung gehabt, die es ihm erlaubte, einen Stock mit einer Silberkrücke zu tragen und sich elegant darauf zu stützen. Im Jahr darauf kamen aus Afrika und Rußland die Anzeigen mit den Kreuzen des Abschieds; in den Zeitungen, die man zu Hause las, war von stolzer Trauer selten die Rede; die Wendungen vom Tod für Führer und Vaterland gab es in den Trauerkarten der Verwandten nicht. Noch einmal zwei Jahre, und der Siebzehnjährige fand sich wegen einer Sache in der Zelle, die das Gericht Heimtücke und Wehrkraftzersetzung nannte; erst nach einem Dreivierteljahr wurde er gnadenweise zur Frontbewährung entlassen. Was ist politische Leidenschaft, was Widerspruchsgeist, wenn Jugendliche gegen die Epoche rebellieren? Der sich Erinnernde läßt es dahingestellt. Aus den kurzen Tagen des Abschiedsurlaubs zwischen Zuchthaus und Front ist nur weniges deutlich in Erinnerung, Furtwängler in der unzerstörten Philharmonie und Gründgens in dem gerade wieder aufgebauten Schinkelschen Schauspielhaus, vor allem aber die Familie im Garten, der am Nachmittag verlassen werden mußte, der rußigen Asche wegen, die aus der brennenden Innenstadt herüberwehte. Dann der allerletzte Abend vor dem Aufbruch, als die jüdische Nenntante Else Meyer - auch ihr Mann war schon im August 1914 als Bataillonskommandeur im Regiment des Großvaters gefallen - zum Lebewohl kam und zur Erinnerung eine Ziertasse mit dem Brandenburger Tor brachte. Am nächsten Morgen mußte sie sich um 3 Uhr früh am Bahnhof Grunewald zum Transport nach Osten einfinden. Wußte die Achtzigjährige, was sich hinter dem Wort »Umsiedlung« verbarg? Sie sprach jedenfalls vom Wiedersehen - »wenn alles vorüber ist«. Die letzten Tage hatte sie in ihrer Wohnung in Lichterfelde-West in der Nähe der alten Kadettenanstalt mit Aufräumen, Silberputzen und Staubwischen verbracht. Niemand solle sagen können, sie habe eine Judenwirtschaft hinterlassen. Vor einem lag die Front, mit der aber nach dem Vorausgegangenen nicht Gefühle der Bedrückung, sondern der Befreiung verbunden waren. Glanzvoll war nichts mehr, was man erlebte, Verwundungen und Rückzüge. Erst vier Jahre später, Ende 1947, kehrte man, vom Glück begünstigt, aus der Gefangenschaft zurück - Glück, daß die Familie es überstanden hatte; Glück, daß es noch das Haus der Kindheit gab, wenn auch erst von den Russen, dann von den Amerikanern beschlagnahmt; Glück, daß Berlin noch da war und das eigene Viertel im richtigen Sektor lag. Da waren die vertrauten Straßen des erst ein paar Jahre, aber Geschichtsepochen zurückliegenden Schulwegs, da war, als das Haus sehr bald freigegeben wurde, das Zimmer mit den vertrauten Möbeln, der Garten mit den Bäumen, in deren Ästen man eben erst geklettert war. Nur die Stämme waren immer wieder unmerklich gewachsen, an ihrem Umfang hatte man das Verstreichen der Zeit abgelesen, nach der Schulzeit, nach der Haftzeit, nach den Kriegsjahren - Verheißungen der Dauer. Wie wäre an Weggehen zu denken gewesen? Die Familie war hier seit je zu Hause gewesen, über die Generationen hinweg. Da war die Kadettenanstalt, wo der ungekannte Großvater als junger Hauptmann Taktik gelehrt hatte; dort war das Brandenburger Tor, auf das der Vorfahr die Quadriga gestellt hatte; wo war das Haus, von wo der andere Ahn, Zelter, seinem Freund Goethe immer die erbetenen Teltower Rübchen schicken mußte? Und dann die Ungenannten und Unbekannten, von denen man ebensoviel und vielleicht mehr in sich trug, Handwerksmeister in der Mark, die Kaufleute Gerson am Werderschen Markt, Prediger in den alten Kirchen, Kupferstecher, Feldwebel, Justizräte. Ganz zum Schluß noch der Bruder des Vaters, Eduard Jobst, der das Buch über die märkische Stadt im Mittelalter schrieb und dann für die Weimarer Republik die Reichskanzlei baute, die Hitler so haßte, daß Speer sie umbauen mußte. Um 1820 starben achtzig Prozent der Deutschen in dem Ort ihrer Geburt; um 1880 waren es nur noch zwanzig Prozent gewesen. Sollte man den Zufall der Beständigkeit, unerworbenes Privileg, in den Wind schlagen? Stadt der Herkunft, Stadt der Erinnerung. Ist sie jetzt nicht eine Erinnerung ihrer selbst? Natürlich - Reichshauptstadt ohne Reich, Metropole ohne Gesellschaft. Aber welche Kapitale wäre das nicht? Ganz Europa ist voller leerer Gehäuse, der Viadukt auf dem Semmering, der nach Triest führte, die Bahnhöfe, von wo aus die Züge nach Galizien und Bosnien gingen, die Gebäude um die Trafalgarsäule, wo die Hohen Kommissare für das Empire saßen. Das Stück, das Alteuropa hieß, ist von der Bühne abgesetzt, überall sucht man sich neue Rollen, die Kulissen zu füllen. Ein Dutzend Fregatten vor den Falklandinseln und zwei Staffeln Mirage im Tschad - das ist alles, was von der Welt der High Commissioners und Generalresidenten geblieben ist. Nicht so ausnahmehaft also, was Berlin zugestoßen ist. Ist es vielleicht so, daß Berlin auch diesmal wieder nur deutlicher macht, was allerorten an Gefährdungen und Herausforderungen bereitsteht? Die Verlockung der Großmächte des neunzehnten Jahrhunderts, im wilhelminischen Griff nach Weltgeltung kam die europäische Versuchung am krassesten und sinnlosesten zur Geltung. Die hektische Zersetzung der alten Gesellschaft und ihres kulturellen Selbstausdrucks, wo hätte sie greller stattgefunden als auf den Bühnen und in den Galerien Berlins? Giraudoux und Gide kamen wie Auden und Isherwood, die entfesselte Stadt zu besichtigen. Dann aber, als die Epoche der Gewaltherrschaft über ganz Europa heraufzog, hielt Berlin fast am längsten stand; Mussolini, Horthy und Pilsudski hatten ihre Macht längst etabliert, als in Berlin die demokratische Regierung durch einen Staatsstreich von rechts gestürzt werden mußte. Schwer zu sagen, ob Berlin sich danach besonders willig der nationalen Ausschweifung ergab. Die neuen Herren, die Berlin erst zur Hauptstadt des Großdeutschen Reiches machten und dann von der Welthauptstadt Germania träumten, stammten jedenfalls nicht aus Berlin, nicht einer von ihnen. Wie Sieger zogen sie, aus Wien und München kommend, in die Residenz der Preußenkönige ein, entfalteten Macht und für kurze, trügerische Jahre auch Glanz, aber eine Berliner Veranstaltung war der Rassentraum von der Herrschaft germanischer Stämme über die Weiten Rußlands nicht. Wie hätte er das auch sein sollen, war man sich der eigenen Beimischungen slawischen und hugenottischen, jüdischen und salzburgischen Blutes doch zu sehr bewußt, sah wohl auch einen Vorzug darin. Und doch, Berlin war die Zitadelle der Gewaltherrschaft, von hier aus wurde erst Deutschland, dann Europa beherrscht, zwölf lange Jahre hindurch blickte die Welt gebannt auf die Stadt.