6. November
Vor lauter Regen habe ich das Ortsschild verpasst. Die Täler vernebeln, die Spurrillen verschwinden, als ich kaum noch etwas sehe, fahre ich auf den Seitenstreifen und halte an. Wie das Wasser auf die Kühlerhaube klatscht. Begonnen hat das Unwetter schon gestern. Seit der Abfahrt von der Autobahn bin ich niemandem begegnet. Im Radio wurde davor gewarnt, die Straßen zu benutzen, aber ich hatte keine Wahl. Es ist siebzehn Uhr, der Himmel anthrazitgrau. Ich konnte die Sitzlehne nicht verstellen. Sehr aufrecht sitze ich da, vom Prasseln ganz benommen. Immerhin wirkt der Transporter stabil. Er sieht aus wie die orangenen Wagen vom Straßenbauamt. Ich wollte bei der Autovermietung vor allem etwas Praktisches.
Eine Stunde vergeht. Endlich lässt der Regen nach. Ich fahre weiter. Das Navi führt mich tief in den Wald. Bald dringt weder Regen noch Licht durchs Blätterdach. Ich schalte das Fernlicht ein. Das Lenkrad klebt. Ich fahre kilometerweit in langsamem Tempo, suche meinen Weg auf zugerankten Pfaden, bis zu einer steilen Auffahrt. Das Tor weiter oben steht offen. Zum ersten Mal mache auch ich die Bewegungen meines Vaters. Schalte in den ersten Gang, beschleunige, die 7 Räder drehen auf dem Schotter kurz durch, ich halte die Spur, stelle vor dem Haus den Motor ab. Das automatische Licht springt an. Ein Kaninchen flieht davon.
Das Gebäude wirkt müde, das Dach hängt auf den Mauern wie ein vom Efeu erstickter Riese. Am Haselstrauch ist ein Auto geparkt. Der Farn sprengt die Stufen der Außentreppe. Durchs Fenster erahne ich Licht. Ich drücke mein Auge an den Spion, weiche sofort zurück. Mit dem Gesicht meiner Schwester habe ich nicht gerechnet, gewaltige Stirn, weit auseinanderstehende Brauen, Glupschaugen, meine Schwester riesig aufgebläht vor der Linse, die mein Vater angeblich mit Absicht andersherum eingebaut hatte. Wir haben nichts zu fürchten noch zu verbergen, so seine Worte, unser Reichtum ist innerlich, und jeder soll wissen, dass hier die schönsten Menschen wohnen.
»Hallo.«
Meine Stimme klingt lauter als beabsichtigt. Véra antwortet mit einem Lächeln, das zu groß für ihren Mund ist. Sie nimmt mir den Koffer aus der Hand, stellt ihn in der Küche unten an die Treppe. Ich sehe den Steinfußboden wieder, die Holzmöbel, die Badezimmertür im Schatten des offenen Kamins. So - die Feuerstelle voller Bücher - habe ich ihn noch nie gesehen. Über dem Esstisch hängt anstelle des Leuchters ein Vogelkäfig. Hinter den Gitterstäben stapelt sich Käse.
Véra deutet zur Treppe und wendet sich der Arbeitsplatte zu, ich soll mich einrichten, während sie das Essen vorbereitet. Früher war sie furchtbar chaotisch. Ich mache ihr ein Kompliment. Sie tippt in ihr Handy und zeigt mir das Display:
Damit du dich wie zu Hause fühlst.
Etwas brüsk antworte ich, wir sind ja Schwestern, das ist auch mein Zuhause, und solche Höflichkeiten können wir uns sparen. Hastig stellt sie den Gasherd an. Ich kann mir nicht verkneifen, noch hinterherzuschicken:
»Vor allem, weil wir eh nichts behalten.«
Die Treppe quietscht unter meinen Socken. Ich muss aufpassen, nicht auszurutschen. Die Tür zum Schlafzimmer unserer Eltern steht halb offen. Ich bleibe auf der Schwelle stehen, in der Zugluft der undichten Fenstertür. Schwarzes Parkett. Mitten im Zimmer das große Bett, die nackte Matratze, ohne Laken, ohne Decke. Ich frage mich immer noch, wie meine Eltern ohne Wand und Kopfteil schlafen konnten. Irgendwie erleichtert schließe ich die Tür. Ich weiß nicht, was ich mehr gefürchtet habe, in diesem Bett hier zu schlafen oder mit meiner Schwester im alten Kinderzimmer, jetzt, wo wir erwachsen sind.
Ihr süßliches Parfüm schnürt mir die Kehle zu. Sie hat unser Stockbett behalten. Heute Abend macht mich der Anblick wehmütig. Das Gestänge scheint zu fragil, um uns beide zu tragen. Kommode und Schreibtisch stehen an ihrem Platz, bauchig und lachsfarben, genau wie früher. Ich schaue, ob ich Empfang habe. Neun Tage werde ich hier verbringen und muss für meine Kollegen erreichbar sein. Nur ein Balken. Manchmal verschwindet er.
Als ich mich aus dem Fenster lehne, sehe ich den Transporter. Das Orange bringt mich zum Lachen. Das Fahrzeug sieht aus wie eine dicke Hummel. Und wirkt hier so befremdlich wie das Wiedersehen mit meiner Schwester, dem ersten seit dem Tod meines Vaters vor fünf Jahren.
Véra hat Wein in die Kristallgläser geschenkt. Gestresst von diesem Zeremoniell, erkläre ich, dass ich nicht trinke. Sie zieht die Brauen hoch, gießt den Wein zurück in die Flasche, etwas geht daneben, ich wische mit dem Ärmel darüber, ziehe dann den Pulli aus, mir ist warm. Das Bambusgeschirr ist für mich fremd. Stolz zeigt mir Véra die Käseverpackung mit den darauf abgebildeten Esskastanien, dann auf den Kamin: Das ist Räucherkäse. Ich vertreibe den Gedanken, dass er aus Rohmilch gemacht ist. Sie hat einen Chicorée-Salat mit Feigen und Walnüssen gemacht. Ich frage, ob sie darüber nachgedacht hat, wie wir in den nächsten Tagen zusammen vorgehen sollen, ich nämlich noch nicht, ich habe viel zu tun gehabt. Sie tippt drauflos:
Glückwunsch zu deinem Preis.
Ich murmele, das ist nett.
Keine Ahnung, was sie von den Drehbüchern weiß,die ich geschrieben habe. Das letzte wurde auf einem italienischen Festival ausgezeichnet, aber ich konnte nicht hingehen, und so oder so hatte ich sie nicht eingeladen.
»Hast du was von Octave gehört?«, frage ich in möglichst neutralem Tonfall.
Sie nickt, natürlich, und deutet auf die Feigen und Nüsse, die sind von ihm ... Ich unterbreche sie. Für mich ist nichts dabei, was ich behalten will. Sie soll sich aussuchen, was sie will, den Rest bringen wir zur Müllkippe. Ihre Finger klammern sich um ihr Handy. Mit dem Kinn deutet sie hinüber zum Schrank, zur Küche, zum Bad. Ich verdrehe die Augen, wir werden da drin ja wohl nicht rumwühlen. Der Schein ihres Displays erhellt ihr Gesicht:
Wie du willst.
Etwas versöhnlicher sage ich, dass ich zu tun habe. Und bin spät dran. Ich werde mich zurückziehen müssen, um zu schreiben. Mit einer Selbstverständlichkeit, die mich verunsichert, zeigt sie mir wieder ihr Display:
Wie du willst.
Dann fragt sie, was gerade bei mir ansteht. Ich berichte vom jüngsten Auftrag, der Adaption von George Perecs Roman W oder die Kindheitserinnerung. Véra begleitet meine Sätze mit Lächeln. Mit aufgesetzter Beiläufigkeit erwähne ich die namhafte Produktionsfirma, das Renommee der angefragten Besetzung, meiner Co-Autorinnen im Drehbuchteam. Wir müssen sechs Folgen schreiben. Gedreht werden soll in zwei Jahren. Véra applaudiert. Ich wiegele ab. Das Adaptieren ist bei dem Text nicht einfach. Und ich bin nur Dialogschreiberin. Ich erzähle ein bisschen über Perec, und sie nickt heftig, sie weiß, sie hat Anton VoylsFortgang gelesen.
»Du liest?«
Sie nickt, natürlich tut sie das.
»Ich weiß nicht, mein Vater ...«
Schweigen.
»Ich meine Papa.«
Das hat er nie erwähnt. Ohne ihr Lächeln abzulegen, reicht sie mir die letzten Feigen. Ich war fünfzehn, Véra zwölf, als ich in die Staaten ging. Der Aufenthalt war für die Zeit der Oberstufe geplant, in einer Gastfamilie. Véra sprach schon seit Langem nicht mehr. Sie lernte lesen und schreiben, aber ich hatte nicht gedacht, dass sie so weit gekommen ist.
»Und wie geht es dir?«, frage ich, als ich merke, dass ich sie seit meiner Ankunft noch nichts gefragt habe.
Unser letzter Kontakt liegt ein Jahr zurück, da ist es um ihren Umzug nach Périgueux gegangen. Zuvor hat sie hier im Haus meines Vaters gelebt, sogar nach seinem Tod. Ich habe ihr aus der Ferne geholfen. Die kleine Wohnung war schon möbliert, sie wollte ohne meine Zustimmung nichts von den Sachen aus unserer Kindheit mitnehmen. Jetzt, wo der Verkaufsvertrag unterschrieben ist, zählt Véra darauf, dass ich beim Ausräumen helfe.
Ich schaue ihr über die Schulter und lese. Sie macht eine genervte Bewegung. Ich muss ihr Zeit lassen, entschuldige mich, nehme noch etwas Salat.
Nach einer Landumlegung gilt unser Haus nicht mehr als Pachtgut des angrenzenden Schlosses, dem Pigeon Froid, das Octaves Familie gehört. Die Sicherheitsstandards sind jetzt andere. Um die zu erfüllen, müssten wir an Dach, Heizung und Elektrik nachrüsten, können uns das aber nicht leisten und haben das Angebot eines Campingplatzes angenommen, der das Haus abreißen und dann alles übernehmen will. Octave möchte unsere Steine, um das Taubenhaus zu renovieren.
Véra zeigt mir ihr Display. Die Arbeit im Laden langweilt sie. Sie macht eine Weiterbildung zur Stabilisierung von Blumen.
»Stabilisierung?«
Blumen mit Chemie behandeln, damit sie nicht welken.
Ich täusche Neugierde vor.
»Also, alles stabil?«
Kommt auf die Blumen an.
Ich erkläre, dass ich eigentlich wissen wollte, wie das Geschäft läuft. Sie zuckt die Schultern.
Viele Leute wollen den Aufwand nicht mehr.
Wir räumen den Tisch ab. »Stimmt, im November wachsen ja keine Blumen«, sage ich schließlich etwas stupide.
Véra geht früh schlafen. Ich bleibe im Wohnzimmer, von der Nacht durchdrungen. Die Stehlampen werfen warme Schatten, aber ich fühle mich unwohl. Die Fenster haben keine Vorhänge. In der Spiegelung sehe ich mich auf dem Sofa, in Dunkel gehüllt, umgeben vom Surren des Kühlschranks und dem Geruch des Käses im Käfig. Der mit Büchern zugestellte Kamin bedrückt mich, Dutzende angepinnter Van-Gogh- Sonnenblumen. Mein Vater sammelte Poster von Ausstellungen und Theateraufführungen. Er besuchte sie nicht und scherte sich wenig um die Namen der Künstler, sondern wählte die buntesten Bilder, um die Wände zu behängen.
Auf das Entrümpeln habe ich jetzt schon keine Lust. Einfacher wäre, wir zünden die Bücher an, sodass nur die Steine bleiben, die ja das Einzige sind, das jemand noch von uns haben will.
Ich verschiebe das Mails-Abarbeiten auf den Folgetag und verbringe den Abend, besorgt über Irvins Schweigen, auf meinen Chat-Plattformen. In New York ist es bald Abend. Er hätte Zeit, mir zu schreiben. Ich will warten, bis er sich zuerst meldet, finde mich dann aber kindisch, wünsche ihm eine gute Nacht, bin gut angekommen. Ich zögere. Füge hinzu, dass er mir fehlt.
Das Badezimmer ist meinen Erinnerungen treu. Mit den Wänden und Bodenplatten aus Naturstein wirkt es wie ein Keller. Véra hat mir ein Handtuch hingelegt, ordentlich gefaltet auf der Kommode. Die habe ich wegen ihrer Wurmlöcher immer ekelig gefunden, auch wenn sie behandelt wurden. Ihren Schmuck hat Véra weggeräumt. Ethno-Stil, Federn, Muscheln. Ich ziehe eine Schublade auf. Sie ist voll mit Bernstein,
Halsketten, Broschen. Ich schiebe den feuchten Teppich mit dem Fuß zur Seite, steige in die Duschkabine, lasse Véras Haare im Abfluss verschwinden. Hoffe, dass er nicht verstopft.
Lange stehe ich unter dem heißen Wasser. Meine Haare tragen den Abdruck des Gummis, nach dem Hormonabfall wurden sie trocken. Ich habe keine Ahnung, wann meine Periode wiederkommt. Ich wende mich zur Steinwand. Wenn ich nackt bin, suche ich immer noch reflexhaft Halt, vermeide den Blick hinab auf meinen Bauch, von dem Irvin behauptet, nicht zu sehen, wenn er sich aufbläht. Das wäre nur in meinem Kopf. Er will mich beruhigen, kann nichts dafür, hat nicht gesehen, wie es mir rot die Beine runterlief und alles im Schlauch verschwand. Er weiß nichts von meinem Körper.
Je leiser ich sein will, umso lauter knarren die Stufen. Der grünliche Schein unserer ladenden Handys erfüllt den Raum. Nur Véras Kopf schaut unter der Decke hervor, die Hände bilden ein Schutzdach über der Brust. Ihre Kleider als Knäuel auf der Kommode. Die Leiter quietscht, die Bettwäsche raschelt. Vom Waschmittelgeruch gewiegt, schlafe ich sofort ein.