Auf der ganzen Insel waren die Mütter nervös. Die Bäume in den Zitrushainen trugen gleichzeitig Blüten und Früchte, trotz der hohen Luftfeuchtigkeit während Island Close. Wie passend war es da, dass ausgerechnet unter ihren Ästen die Lustbarkeiten des Abends inszeniert wurden. Es war Tu B'Av, das Fest der Liebe, das jedes Jahr im August stattfand, bei Vollmond, in dessen weißem Licht Liebesgeständnisse gemacht, gebrochene Herzen riskiert, vertraute Gesichter mit neuen Augen betrachtet wurden. Es gab Lagerfeuer, Musik und ein Festmahl, denn der frisch gefangene Schnapper des Tages war nicht für den bescheidenen Export eingefroren worden, sondern kam der Insel zugute und wurde über rauchenden Ölfässern gegrillt. In den Bäumen hingen Laternen, und auf dem Boden waren traditionelle tuganische Decken ausgebreitet. Dazu boten weitverzweigte Äste Verstecke, in denen man Fehler begehen konnte. Im vergangenen Jahr hatte sich die neu eingetroffene Charlotte Walker entschuldigt und war in ihrem Häuschen geblieben, weil die mit romantischen Möglichkeiten aufgeladene Atmosphäre sie nervös gemacht hatte. Sie hatte sich den Abend als einen Rausch aus Mondschein, Zitrusrauch und stillschweigendem Einverständnis vorgestellt - eine durchaus zutreffende Vision, wie sich jetzt herausstellte. Nur dass es in diesem Jahr keinen Ort gab, an dem sie lieber gewesen wäre.
An der improvisierten Bar goss Betsey Coffee kleine Mengen einer goldglänzenden Flüssigkeit in Marmeladengläser, die immer wieder ihren Weg von den Frühstücksbüffetts vorbeifahrender Kreuzfahrtschiffe auf die Insel zu finden schienen. Sie wurden überall neuen Verwendungsmöglichkeiten zugeführt, von Betseys Café bis zur Inselklinik. Etrog-Likör besaß die satte, grünlich goldene Farbe frischen Olivenöls und war dick wie Sirup. Er war stärker als Limoncello und wurde nicht aus den Früchten, sondern aus den berauschend duftenden Blättern hergestellt. Man trank ihn in einem Zug. Betsey drückte jedem, der vorbeikam, ein Gläschen in die Hand.
»Paz, Dr. Vet. Wissen Sie, was ich gerade gedacht habe? Wenn es ein Tier gibt, das Ihnen heute Nacht Probleme bereitet, dann die Moshaw-Eselin. Erfahrungsgemäß fohlen Eselstuten am liebsten bei Vollmond.«
»Danke«, sagte Charlotte und überlegte, ob sie den Likör heimlich hinter einen Baum kippen konnte. Betsey bemerkte ihr Zögern und schlug sich die Hand vor die Stirn.
»Grundgütiger, verzeihen Sie mir! Jetzt fällt mir wieder ein, dass Sie keinen Alkohol vertragen. Ich besorge Ihnen Fizzycan. Das war ein Abend neulich, was? Nach der Sause hätten Sie sicher keine fohlende Stute gebrauchen können. Sie hätten doppelt gesehen und dem Besitzer mitgeteilt, es seien Zwillinge!«
Charlotte musste sich peinlich berührt eingestehen, dass die Pensionierungsfeier des ehemaligen Inselarztes nicht gerade zu ihren Sternstunden zählte. Sie hatte an jenem Abend einen Schock erlitten und deshalb zu tief ins Glas geschaut, ein mildernder Umstand, den sie Betsey allerdings lieber nicht mitteilte. Die servierte in ihrem Café an der Harbour Street nämlich mit jedem Heißgetränk auch den neusten Klatsch und Tratsch, ein durchaus wohlmeinender Service für ihre Gäste. Charlotte wollte den Grund für ihren Schock unter keinen Umständen publik machen. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie auch ihre eigene Erinnerung daran ausgelöscht. Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie hoffte inständig, dass Betsey sich täuschte, was die Eselin anging. Heute Abend hatte sie frei.
Betsey nahm das Marmeladenglas zurück und gab ihr stattdessen eine Limonade. Charlotte war ihr dankbar dafür, dass sie das Thema wechselte und auf Dexter, ihren Corgi, zu sprechen kam. Er habe am Morgen auf dem rechten Hinterbein gehumpelt, später am Strand jedoch sämtliche Krabben verfolgt, es handle sich also bestimmt nur um Morgensteife, nicht wahr? Charlotte hörte zu und nickte mit einem Gesichtsausdruck, von dem sie hoffte, dass er professionell wirkte. Sie war die einzige Tierärztin auf der Insel - im Grunde hätte sie so oft über die Stränge schlagen können, wie sie wollte, die Inselbewohner hätten sie trotzdem weiter konsultieren müssen. Trotzdem, Charlottes Ansicht nach war einmal schon zu viel.
In diesem Moment sah sie Levi Mendoza durch die Dämmerung und den Lagerfeuerrauch auf sich zukommen, die dunklen Haare noch nass vom See, die Zähne strahlend weiß, als er sie erblickte und grinste. Charlotte war sich ihres eigenen Herzens noch nie so bewusst gewesen wie in diesen letzten Wochen mit Levi, hatte noch nie so sehr gespürt, wie kraftvoll und eigenständig dieser Muskel in ihrer Brust schlug, wie sehr er auf diesen charismatischen Mann reagierte, der sich ihr nun im Halbdunkel näherte. Levi schien sie verzaubert und in eine andere Frau verwandelt zu haben. Die verkrampfte, befangene Charlotte war von den Zwängen ihrer bisherigen Londoner Existenz befreit worden, hatte alles Theoretische, Defensive, Vorsichtige abgestreift. Wenn sie mit Levi zusammen war, sprach sie aus, was sie gerade dachte, kannte keinerlei Zurückhaltung, obwohl ebendiese Zurückhaltung bisher ihre Religion gewesen war. Sie erkannte sich in dieser neuen Charlotte kaum wieder, wusste eins jedoch genau: Ihr neues Ich war gefährlich, schwer aufrechtzuerhalten und vermutlich eine Verbesserung.
Nun lagen Levis Hände um ihre Taille, und er zog sie mit sich in den Schatten der Bäume, weg vom gedämpften, gelblichen Licht der Kerzen, die auf Betseys Klapptisch-Bar flackerten.
»Wie lange gedenkst du noch auf dieser Party zu bleiben?«
Er fragte es dicht an ihrem Ohr, und seine Finger hatten begonnen, hauchzart an der Innenseite ihres Oberschenkels hinaufzuwandern.
»Wir sind doch gerade erst gekommen! Ich dachte, ich muss für dich auf einer Wiese im Mondschein tanzen, während du ein Band durch die Luft schwingst. Oder so.«
Levi lachte, ihr Lieblingsgeräusch.
»Ich bin nicht hier, um bei einem uralten Balzritual eine Jungfrau auszuwählen, Dolittle. Ich weiß genau, mit wem ich nach Hause möchte und was ich dort vorhabe. Wenn dir nach Tanzen zumute ist, können wir das gern in den eigenen vier Wänden erledigen.« Ihre Hand schlüpfte besitzergreifend unter sein T-Shirt und strich genüsslich über seinen Rücken. Für einen Moment hielt er sie fest, und sie wiegten sich hin und her, als würde gerade eine Ballade ertönen und nicht I Get Around von den Beach Boys, auf dem Akkordeon gespielt und gesungen von Taxi. Dann entdeckte Charlotte über Levis Schulter hinweg Dan Zekri, der mit einem Ausdruck irgendwo zwischen Abscheu und Neid in ihre Richtung starrte. Vielleicht war es aber auch nur Einbildung, und er hatte sie in Wirklichkeit überhaupt nicht bemerkt, sondern suchte den Zitrushain nach einem Freund oder einer Freundin ab. Sie vergrub ihr Gesicht in der Wärme von Levis Hals. Dann löste sie sich widerstrebend von ihm. So ging das nicht weiter - wenn Levi sie noch länger an sich presste, würde sie keine zehn Minuten auf diesem Fest überleben; dann würde sie keinen einheimischen Likör brauchen, um sich lächerlich zu machen. Sie verkündete, sie wolle auf die Suche nach Elsie gehen, und marschierte zielstrebig in die entgegengesetzte Richtung von Dan Zekri davon. Sicher war sicher.
Auf Tuga verwendete man getrocknete Zitrusschalen als Anzünder, daher roch es um die Lagerfeuer herum scharf und süßlich. Charlotte hatte bereits den Himmel abgesucht, aber keine herumflatternden Fledermäuse entdeckt. Da es anderswo genügend reife Früchte gab, ließen sie die Zitrushaine links liegen und machten sich stattdessen über die alten Jackfrucht- und Mangobäume weiter unten im Tal her. Sie hatte beobachtet, wie sie vor etwa einer Stunde aus ihren Unterschlüpfen gekommen und lautlos am wolkenlosen Himmel vorbeigeflattert waren. Reptilien und Amphibien würden für immer ihre große Liebe bleiben, doch die tuganischen Fledermäuse bereiteten ihr unerwartet viel Vergnügen. Als dämmerungsaktive Tiere war genau jetzt ihre Zeit.
Hoch an einer Flanke der montaña gelegen, war der Zitrushain der trockenste Punkt dieser üppig grünen, feuchten tropischen Insel, auf der die Etrogbäume wider Erwarten Wurzeln geschlagen hatten. Sie waren hier weit weg von den trockenen, sandigen Böden ihrer Heimat am Mittelmeer, gediehen aber dennoch recht passabel. Darin glichen sie den ersten tuganischen Siedlern, die mit Taschen voller Saatgut zunächst von Europa nach Recife und später vor erneuter Verfolgung von Recife in die Sicherheit, Selbstbestimmung und mondähnliche Isolation dieser winzigen, unbewohnten Insel geflohen waren, die sie Tuga de Oro genannt hatten. Sie war nun ihre Heimat, und mehr brauchten sie nicht.