Die Tante kam nicht einfach zu Besuch, sie kam auch nicht, um Esthers Klavierspiel zu überwachen, sie kam, um Esther und Jonas abzuholen und für eine Woche, vielleicht sogar zwei Wochen mit sich nach Berlin zu nehmen, in die große Stadt auf der anderen Seite Deutschlands. "Bis sich die Lage entspannt hat", würde sie später sagen. Einmal quer durch die ganze Bundesrepublik musste man fahren, über Osnabrück, Hannover, Wolfsburg und dann über die Grenze, am "Kontrollpunkt Helmstedt", die Transitstrecke entlang durch die DDR. Die Tante stand lächelnd in der Tür, sie hatte mehrfach geklingelt, ungeduldig, und machte keine Anstalten, hereinzukommen. Lieber ließ sie sich bestaunen. Jonas kam aus dem Garten gelaufen, blieb neben seiner Mutter stehen und sah abwechselnd zu ihr und zu der Tante.
Auch Esther hatte es klingeln gehört und ihr Klavierspiel unterbrochen.
"Tja, ihr Lieben. So schnell sehen wir uns wieder. Und es sieht so aus, als würden wir eine Weile miteinander auskommen müssen. Aber keine Sorge, ich habe mir ein paar schöne Dinge für euch überlegt."
Die Tante sagte das mit einem Zwinkern, das offensichtlich Esther galt, und klatschte in die Hände.
"Wir werden zusammen in die Oper gehen!"