Anfang
Im Zug von München nach Klais beginne ich mit den Aufzeichnungen. Es ist Februar. Föhnwetter, blauer Himmel, fünfzehn Grad, eine milde Sonne. Hier fuhr er entlang.
An der Bahnstrecke sitzen die Leute in ihren Gärten in Liegestühlen, als sei schon Mai.
Was hat er vom Zugfenster aus gesehen? Falls er überhaupt etwas sah, und nicht die Todesangst seine Wahrnehmung trübte.
Die Bäume - viele sind älter als siebzig Jahre - also muss er sie gesehen haben. Zu welcher Tageszeit sah er sie? Wie lange brauchte der Zug damals? Nichts ist sicher. Nichts wird man mehr genau wissen können, niemals mehr.
Bei geschlossenen Augen zeichnet die Sonne groteske Reflexe aus Licht und Schatten auf die Lider. Ein Flirren.
Er hatte sicherlich die Augen offen. Er wird nicht gewagt haben, sie auch nur für einen Moment zu schließen.
Die wenigen, die ich noch fragen konnte, bestätigten, dass das Wetter genauso war. Ein strahlender Vorfrühling, der den Beteiligten grotesk und grausam erschien, eine Vorankündigung nahen Lebens, des Wiedererwachens der Natur und mitten darin ein sinnloses Sterben, wie zufälliger Tod.
Der Zug passiert Starnberg. Links liegt der See. Das Strandcafé ist um diese Jahreszeit noch geschlossen, eine auf spätere Tagestouristen und sonnenhungrige Urlauber wartende Idylle. Nach etwa einer halben Stunde Fahrt erreicht der Zug Tutzing.
Bestimmt hatte er Angst vor Kontrollen, war er nervös, konnte kaum erwarten, dass der Zug endlich weiter fuhr. Vielleicht bereute er flüchtig, seine Uniform verbrannt zu haben. Sah den Moment wieder vor sich und Lilos schreckgeweitete Augen, als sie sagte: "Damit schneidest du dir jeden Rückweg ab."
"Es gibt keinen Rückweg", hatte er ihr geantwortet, aber in dem Augenblick, als er das sagte, glaubte er wahrscheinlich selbst noch nicht so bedingungslos daran. Erst später, jetzt vielleicht, hier.
Es ist angenehm, in der Sonne am Fenster zu sitzen. Eine Schulklasse, die sich wohl auf einem Ausflug befindet, steigt in Tutzing aus. Es wird augenblicklich spürbar stiller im Abteil. Die Fahrt geht durchs Alpenvorland. Grauer Mischwald, Schneereste in den Senken. Dazwischen trockene Hochebenen, bleiches Gras. Links ein kleiner See, auf dem noch Eis schwimmt, ein Schwan am Ufer. Zwiebeltürme. Weilheim. Zugefrorene Tümpel. Am Bahnhofsgebäude ein rostiges Schild mit der Ortsaufschrift. Hing es damals schon? Hinter Weilheim tut sich links der Blick in die Berge auf, eine blassblaue Silhouette, sich scheinbar entfernend.
Endlich, muss er gedacht haben. Hinter diesen Bergen erhoffte er sich die Rettung.
Auch zur Rechten sieht er jetzt Bergketten. Die Gipfel im Schnee. Langsam, aber stetig, fährt er auf die Berge zu. Eine Melodie schießt ihm durch den Kopf, er denkt flüchtig an Tschaikowskys Symphonien, er sieht das Klavier, die Balalaika, seine Zeichnungen . und es durchzuckt ihn ein Schmerz wegen der Dinge, die er zurücklassen musste und jetzt schon vermisst, die er künftig immer vermissen wird. Einst, in einem anderen Leben, haben sie zu ihm gehört, einem Leben, aus dem er gerade verzweifelt hinaus fährt, mit unbekanntem Ziel. Und Hans . - er bricht den Gedanken ab.
Hinter Uffing matschige Feldwege, Traktorspuren im Schlamm, rechts der Staffelsee, dahinter nah, viel näher schon, die Kulisse der Berge, Sonnenlicht in den Schneehängen, ein perfektes Modell für romantische Ölbilder, im Vordergrund Maulwurfshügel in den Wiesen, immer sehen sie ein bisschen wie frische Gräber aus. Könnte man sich doch unter der Erde verstecken! Bei Murnau schimmert der See weißlich vom Eis. Starres Wasser. Die Ohren dröhnen von der Stille.
Er kann sich nicht satt sehen. Wie herrlich das Land ist. Diese Landschaft wird bleiben. Bleiben. Alles überstehen. Rechts rücken die Berge zum Greifen nahe. Ununterscheidbare Gipfel. Es geht ihm nicht schnell genug. Fahr, fahr. Ein Bachlauf in den Wiesen. Alles fließt von München fort. Fort. Pferde. Höfe. Die schroff aufragenden Hänge. Da hinüber jetzt. Weiter. Birken, Tannen, nasses Heu, Bretterhütten, abgestellte Güterwaggons, das gleichmäßige Rattern des Zuges. Seine Unruhe wächst.
Einmal ein Hund an einem Gatter. Dann Schafe. Zottige Ponys im Schlamm. Eine Stille draußen, die zwischen den Schneeflecken ausgebreitet ist. Man fürchtet sich, sie aufzustören. Schon ein Blick zuviel verrät die Landschaft. Entlang der Loisach. Das Selbstbewusstsein der Gebirgsflüsse, unbeschwerte, zur Schau gestellte Kraft. Vom Zugfenster aus sieht man die Eiszapfen schnell in der Sonne schmelzen. Über Ohlstadt, Eschenlohe nach Oberau. Der Zug hält quietschend. Niemand steigt ein. Langsam wird es klar: Dies ist ein harmloser Ausflug. Oder aber eine Flucht.
Ungefähr hier könnte er schon vorsichtig aufgeatmet haben. Bald. Bald!
Die Berge so nah. Schnee auf den Dächern. Nackter Fels und unwahrscheinliche Schneeschrägen, Abgründe, unwegsames Gelände. Dort hinauf, wer könnte das jetzt wagen? Nur ein Verzweifelter forderte das heraus. Nein. Nicht einmal er. Was liegt hinter der Bergeinsamkeit?
Endlich Garmisch. Seine Angst nimmt wieder zu. Er spürt sein Herz, einen Klumpen, beschwerlich, steinig. Das Alleinsein schmeckt bitter unter der Zunge. Niemand erwartet ihn. Nirgends. Niemand weiß in dieser Minute, wo er sich befindet. Der Zug steht lange in Garmisch am Bahnsteig. Zu lange. Die Angst wandert tiefer. Sitzt im Bauch. Ein Kreisel. Leichter Schwindel. Er hält sich am Fenster fest. Für einen Moment hinterlässt seine warme Hand auf der kalten Scheibe den Hauch einer flachen Spur. Schon gelöscht.
Ich höre ein Martinshorn, draußen in der Stadt, es kommt schnell näher, entfernt sich dann wieder. Bis auf ein älteres Paar weiter vorne im Wagen, bin ich allein, eingehüllt vom Schweigen der Reise. Niemand steigt ein.
Menschenskind, fahr. Fahr doch! Er schließt kurz die Augen, spürt seine Müdigkeit in allen Knochen, dahinter die Anspannung. Nicht einschlafen. Endlich. Die Türen zu. Er fährt. "Nächster Halt des Zuges ist Klais."
Die Berge im Mittagslicht. Erhaben. Wie klein sind wir dagegen, wie lächerlich. Er hatte den unsinnigen Gedanken, die Nähe der Berge gewähre ihm Schutz. Eintauchen zu können in die stumme Bergwelt. Holz werden, Stein, Schnee. Niemals vorher wird er eine solche Stille empfunden haben. Etwas, das ihn abgrenzte. Ein für allemal.
Das Tal verengt sich. Links Baumhänge direkt am Bahndamm. Schmale Wege. Es bleibt nicht viel Land, auf das ein Flüchtender seinen Fuß setzen könnte. Der Schnee zeigt seine Spur. Er macht ihn lächerlich klein. Unbedeutend.
Der Zug schiebt sich durch das Hochtal, langsam, zielstrebig, in stetiger Vorwärtsbewegung. Waldsenken. Schneebecken. Dazwischen das Laub vom Vorjahr und viel trockenes Geäst. Wie trocken das alles. Hell. Klar. Von einer harten Klarheit, die sich widerspiegelt im eigenen Kopf. In dieser Klarheit kann jeder Schritt der letzte sein. Ein Kruzifix am Weg. Vertrocknete Blumen. Unberührte Schneeflächen, Wildspuren. Dann zwei Skiläufer. Das Tal öffnet sich.
Vor ihm die Berge, er fährt direkt darauf zu.
Der Bahnhof - ein kleines Häuschen, alpenhausähnlich, rechts davon einige alte Holzschuppen, das stand sicher alles damals schon. "Deutschlands höchstgelegener Intercity-Bahnhof. 933 m", steht heute stolz an der Hauswand. Zwei Geleise in der Landschaft, weiter nichts. Fällt schwer, hier nicht aufzufallen.
Hier stand er also. Vor sich das Karwendelgebirge, die österreichische Grenze. Hinter sich sein Leben. In Nikolais Jacke, in Lilos Pullover, mit Nikolais Pass. Ich nehme an, ihn fror. In jenem Februar 1943, am fünften Tag seiner Flucht.
2
Ich stelle mir vor, er kam wie irgendein Bergwanderer vor Einbruch der Dunkelheit in Klais an. Als er aus dem Zug stieg, fiel die Anspannung, die ihn während der Fahrt von München wach gehalten hatte, von ihm ab und er spürte, wie müde er war. Noch auf dem Bahnsteig begann es in dünnen Flocken zu schneien und er stand, eingehüllt in Nikolais Jacke, die kaum Wärme gab, für einen Moment wie gefangen in seinem Körper da. Die Stille um ihn, die er schon auf der Zugfahrt gespürt hatte, nahm zu. Sie hatte etwas Endgültiges. Zwei Geleise in der Landschaft, weiter nichts. Dazu das kleine schäbige Bahnhofsgebäude. Alles machte den Eindruck, als sei es vor geraumer Zeit verlassen worden und Alex fragte sich mit aufsteigender Verzweiflung, ob es tatsächlich richtig war, hierher gekommen zu sein. Aber er hatte keine Zeit für lange Überlegungen. Seine Entscheidung war sowieso gefallen und jetzt nicht mehr rückgängig zu machen. Er musste sehen, dass er nach Elmau hinaufkam, bevor es stockdunkel war. Außerdem sollte er so schnell wie möglich vom Bahnhof weg, bevor er sich verdächtig machte. Ein einzelner junger Mann, der nicht in Uniform und ohne Gepäck einfach so in der Gegend herum stand, konnte nicht lange unentdeckt bleiben.
Er hatte nicht bemerkt, ob außer ihm noch jemand hier ausgestiegen war. Sollte das aber der Fall gewesen sein, so hatte die einsetzende Dämmerung und das heftiger werdende Schneetreiben ihn bereits verschluckt. Alex blickte sich um.