Dieses Lese- und Bilderbuch bietet weder Literatur noch aufs Blatt gebannte Kunst fürs Auge. Vielmehr ist MO-NO Musik - eine Musik zum Lesen; genauer: Musik für einen Leser. Die Lektüre des Buchs will im Kopf des Lesers Musik entstehen lassen, sodass er, im Lesen allein seiend - mono -, zum Ausführenden von Musik wird, für sich selbst Musik macht.
Das Buch enthält teils Texte, die zum Hören und Verknüpfen gerade passierender Klänge verleiten wollen. "Achten Sie auf das, was von draußen hereintönt - Wind, Wasser, rauschende Bäume - rollender Verkehr, Signale - Stimmen, Vogelgezwitscher, Hundegebell - oder das? - Allmähliche Veränderung des einen zum anderen -zugleich Verschiedenes-Übergänge sprunghaft, sacht - so klang es doch schon vor einiger Zeit, ja vor ..."
Teils beschreiben die Texte Klänge, die nur vor-zustellen sind, also vom Leser imaginativ erzeugt werden: »Eine Stille - wo nichts mehr von draußen hereintönt - vielleicht Ruhe riesiger Weite - über den Wolken ... Ozean ..." "Ein stechender und eindringender Ton, der Schlieren nach sich zieht - mit dem Hauch eines Englisch Horns (traurige Weise). Ist es jener vom Turbinenbohrer eines Zahnarztes, welcher in Sie fährt ... Lassen wir ihn übergehen in das Mikroglissando einer des nachts den Kopf umschwirrenden Schnake ..."
Weiter enthält das Buch Noten - freilich kaum solche, wie man sie gewohnt ist (die man spielen könnte), vielmehr welche, die sich nur durch Betrachtung erschließen und so zur Einbildung unwirklicher Klänge anleiten. Manche Noten wecken durch perspektivische Darstellung die Illusion von Klängen im Raum, andere sind deformiert und verzerrt; wieder andere zeigen ein gewisses Innenleben, wie wenn in Tönen nochmals welche wüchsen - kleine Töne, sozusagen Mini-Klänge. Auf einem Streifen läuft eine Komposition ("Umrisse I) ab, die nur aus komponierten Pausen besteht, wodurch komponierte Stille dargeboten wird.
So möchte das Buch den lesenden Hörer (den hörenden Leser) zur Musik der Klänge führen, die uns umgibt, aber ihn auch auf die Spur jener imaginären Musik setzen, welche sich ständig in uns bildet, nämlich aus realen wie irrealen Klängen hervorwächst.
Dieter Schnebel
Rezensionen / Stimmen
Anders als die Schallplatten- vermag die Buchproduktion auf Veränderungen von Publikumsinteressen, auf Trends flexibler zu reagieren: dank einer größeren Vielfalt der Verlage und dank dem geringeren Risiko bei kleineren Auflagen. Insofern nehmen bestimmte Veröffentlichungen den Charakter von allgemeineren Tests an. Allgemeineres Interesse im musikalischen Bereich beanspruchen dabei vor allem Publikationen, die neuere Entwicklungen der Musik dokumentieren oder sich mit ihnen auseinandersetzen. Das gilt von den in letzter Zeit erschienenen vor allem für eins der ungewöhnlichsten Musikbücher.
"MO-NO": das ist der Titel des Buchs. Der Autor heißt Dieter Schnebel. "MO-NO": das liest sich wie eine Abkürzung. Schnebel ist ein Musiker. Deutet "MO-NO" darum auf Monodie oder auf Monotonie? Das Buch klärt das nicht ausdrücklich. Ebensogut ließe sich sein Titel auf ein monologisiertes No-Theater beziehen. Ebensogut auf einen negativen Monolog.
Musik zum Lesen: Das ist der Untertitel des Buchs. Er scheint die Eröffnung einer Gattung zu verkünden. Der Musikwissenschaftler Friedrich Blume fragte 1958: "Was ist Musik?" Besser passten zu seinen Antworten die Fragen "Was ist doch Musik, und was ist schon nicht mehr Musik?". Zur Abgrenzung bemühte Blume die Natur und das Wesen der Musik. Für ihn waren das Invarianten. Geschichtliche und soziale Varianz des musikalischen Materials bemühte er nicht. Nicht nur die Komponisten der neuen Musik haben auf Blumes Begriffsmanöver heftig reagiert. Seitdem sind diese für die aktuelle Diskussion uninteressant geworden - wie entsprechende Fragen an die visuelle Kunst, an die experimentelle Literatur, an den unkommerziellen Film. Wenn sie auch von einigen unermüdlichen Wesenspuristen von Zeit zu Zeit wieder hervorgeholt werden. Doch ist auch Musik zum Lesen Musik.
Das Buch hat in der angelsächsischen Literatur einige Vorläufer. Dazu gehört John Cages "Notations", ein kunstvoll aus Notenfaksimiles und Gedanken über Notation komponierter Band. Dazu gehören auch die nach musikalischen Verfahren angeordneten Essaybände "Silence" und "A Year from Monday" von John Cage sowie einige Bücher der Fluxus-Literaten um Dick Higgins. Doch geht "MO-NO" in entscheidenden Punkten über Vorläufer hinaus. Während die Bücher von Cage neben der graphisch komponierten eine informativ-semantische Schicht enthalten, die leicht schon im Lesevorgang von der musikalischen abgehoben werden kann, ist Schnebels Buch allein musikalisch organisiert. Noten und musikalische Vortragszeichen, verbale Beschreibungen und Graphisches dienen fast ausschließlich der Imagination von Klängen und Klangverläufen.
Freilich ist auch Schnebels "MO-NO" noch nicht der reinste Typ einer Musik in Buchform. Entstanden ist diese "Lesemusik" aus der Leinwandmusik "Ki-No", bei der über Durchzieh- und Diaprojektoren zugleich mit gesprochenem Wort und begleitenden Schlagzeugklängen musikalische Anweisungen und Zeichen in mehreren Schichten auf eine Leinwand projiziert werden. "MO-NO" ist eine Übersetzung von "Ki-No" in Buchform. "MO-NO" bietet zwei Versionen der vieldeutigen "Ki-No"-Musik. Darum endet es auch mit "Ende". Die Diapositiv-Verläufe sind auf den Seiten des Buchs neben- und übereinander abgebildet. Sprechtext und die Verläufe, die ursprünglich für den Durchziehprojektor gedacht waren, sind auf gelben Karten zum Nebenbei-Mitlesen beigefügt. Das Buch bietet je eine Version beim Lesen von vorn und von hinten. Auf einigen mittleren Seiten durchdringen sich die beiden Versionen. Die zweite Fassung bringt dazu (in der Übersetzung von Margarete Rühle) alle Wortbestandteile in englischer Sprache.
Auch ästhetisch, nicht nur formal, ist Schnebels "MO-NO" Cage verpflichtet. Ein beigefügtes gelbes Blatt enthält vier Cage-Zitate, die programmatisch die Kompositionsprinzipien charakterisieren. Verzicht auf die Kategorie des Zusammenhangs. Addierbarkeit zusammenhanglos konzipierter Musik mit Alltagsgeräuschen ("Zusammenhang des Zusammenhanglosen"). Leere, Schweigen zwischen den Klangereignissen als Mittel zur Auflösung des Zusammenhangs und zur Individualisierung der Töne und Klänge. Und absolute Stille ("nichts mehr") am Paradigma eines schalltoten Raums als Medium zur Wahrnehmung der Akustik der menschlichen Körperlichkeit, des Atems, der Herzschläge, des Nervensystems: "Und nun hören Sie sich selbst."
Insofern hat Schnebels Buch wie Cages Musik auch eine ontologische Dimension: das reine Sein der Töne soll zu Gehör gebracht, das Sosein der alltäglichen Umwelt als Musik oder doch als Material für Musik wahrnehmbar gemacht werden. So sind über die ersten Seiten folgende Aufforderungen in verschiedenen Schriftarten und Schriftgrößen verteilt: "Bitte seien Sie nun ruhig! ganz ruhig/regungslos/den Atem anhaltend/konzentriert/ und /lauschen Sie!/da/da/wie diese Stille klingt/was da lebt, atmet, sich bewegt, / knistert, knarrt, summt, schwirrt, / rauscht, hallt, verhallt,/vibriert,schwingt/- tönt ..." Später werden Wind, rollender Verkehr und Hundegebell zitiert.
Es ließe sich einwenden, dass durch die Aufforderung oder Einladung, die Umweltgeräusche als Musik zu erleben, der Hörer, das Individuum zu einer unkritischen Versöhnung mit seiner Umwelt aufgefordert wird. Doch würde dieser Einwand auf dem traditionellen Missverständnis der Funktion von Musik beruhen, das Leben zu verschönern, angenehmer erscheinen zu lassen. "So äußert sich in den alltäglichen Klängen insgesamt der Weltzustand", notiert Sehnebel in den beigefügten "Assoziationen". Und nirgends steht, dass man ihnen ergriffen lauschen soll.
Schnebels "MO-NO" bezieht auch schreiendes Unrecht und Elend in Form eines Auschwitz-Bilds und eines Vietnam-Bilds ein, nicht um mit Unrecht und Elend zu versöhnen, sondern um es in der Hörvorstellung des Lesers zum Schreien zu bringen. Inwieweit das gelingt, ist so wenig vorauszusehen wie die angemessene Rezeption einer Beethoven-Sonate oder einer Brahms-Sinfonie. Freilich ist das Bild einer kreuzförmigen Leiche eines ausgemergelten Auschwitz-Häftlings in einen musikalischen Zusammenhang gerückt. In der Serie der stark verkleinerten Bildchen der englischen Fassung gerät sie zu einem graphisch notierten Klang. So möchte Schnebel ein altes Problem geistlicher Komposition lösen: die Darstellung der Kreuzigung im Notenbild.
Auch sonst steckt das Buch voller Reminiszenzen, Zitate, Verweise und Anknüpfungen, von Benns "nevermore" bis zu Stockhausens "Klavierstück VIII", von Cordiers herzförmig notiertem Rondeau "Belle, bonne" aus dem fünfzehnten Jahrhundert bis zu dem Zusammenhang zwischen Pollocks "action painting" und der graphischen Notation. Makroorgel und Futurophone verweisen auf die monströsen Instrumente der Futuristen. Zugleich an Mahler und an utopische Fluxus-Visionen erinnert die "Sinfonie der 999".
Vollends ins Gebiet der Art Fiction gehören Anweisungen wie "583,47 Flöten" und "Wie in einem Aquarium". Auch vermeidet Schnebel in seinen Höranregungen keineswegs Klischees und Trivialitäten. Comic-artig heißt es "Stahl dringt lautlos ins Fleisch". An anderer Stelle soll "Musik Ihres Lebens" imaginiert werden. Auf einem Blatt kontrapunktieren Revolution, Luftangriffe und Rummel in Form dieser drei Wörter miteinander, so, als ob es dabei um Crashs, Bangs oder Zocks ginge.
Die Fülle von Beziehungen, Verweisen und Anspielungen macht das Buch mehr noch als eine komplexe klingende Musik vom Grad der Einweihung und musikalischen Bildung des Aufnehmenden abhängig. Dabei sind die Buchseiten nicht einmal besonders vollgestopft davon. Im Gegenteil. Tendenziell, so lässt sich Schnebels experimenteller Ansatz auch verstehen, gehört das Buch zu jener Ästhetik, nach der es bis zu einem gewissen Grad jedem Rezipienten möglich ist, mit seinen eigenen Erfahrungen ein ähnliches Buch zu entwerfen. Aber so offen und bar aller Maßstab setzenden Qualitäten ist es nun auch wieder nicht, dass es nicht andere Versuche mit dem Schatten des Epigonentums verdunkeln würde. Einstweilen ist auch noch kaum vorstellbar, wie die Gattung sich weiterentwickeln könnte. Darum wird das ungewöhnliche Buch wohl mindestens für einige Zeit singulär bleiben.
Reinhard Oehlschlägel, Frankfurter Rundschau, 24. Oktober 1970