Wie ich Gerichts-Berichterstatter wurde
I GROSSE PROZESSE
Mordprozess Krantz
Bilder vom Flessa-Prozess
Der Fall Strasser
Der Fall Heydebrand
Amtsgerichtsrat Josephsen
Sanitätsrat Böhme
Lehren des Falles Gerth
Angerstein
Gnade für Leiferde?
Der Mörder Schröder
II DER MENSCH, DER SCHIESST
Die große Wut des kleinen Mannes
Unverschworene Verschwörer
Psychologie im Gerichtssaal
Das Schießen im Walde
Hackbusch
Der heilsame Schuss
Blind, halbblind, sehend
Der Sachverständige
Mensch und Hund
III REVUE
Der Tag der Präsidenten im Barmat-Prozess
Kutisker-Gänse
Regierungsräte in Moabit
Staatsanwalt Jacoby I
Verspielt
Gericht vor Gericht
Ein ungetreuer Postschaffner
Der Mann von 40 Jahren
Fünfzig Prozent
Die sachverständige Lebedame
Der Jurist und die Bajadere
Der schwarze Harry und der eiserne Willy
Heinrich Sklarz
Oertels Kriegnotenstreich
Widuwilt
Die alte Geschichte
Der Vater keiner Kinder
Erdgeist
IV DIEBE?
Die Glückspilze
Der Schattenfürst
Der Frechdachs
Wald
Der Fassadenkletterer
Der Räuber aus Reklamesucht
Triumph der Wissenschaft
Der Phantasist
Dr. Hauck
Das Bothmer-Urteil
Phryne ohne
Die Kette
Um 20 Mark 10 Jahre Zuchthaus - und freigesprochen
Statt fünf Jahre Zuchthaus ein Jahr Gefängnis
Der letzte Fall im alten Jahr
V MENSCHLICHES
Wanderer auf Erden
Der Menschheit Krümel
Mittelalter
Kawruleit
Hausfriedensbruch auf der Polizeiwache
Die Schriftstellerinnen
Der erschöpfte Richter
Intermezzo
Mit Fischen in der Halle ...
Der Schattenriss an der Wand
Der rüstige Witwer und das Fräulein vom Amt
Die böse und grausame Mutter
Kinderaussagen
Märchenhaftes
Wer ist verantwortlich?
Der Geier, der Adler, der Kiebitz und die Rose
Die Kleine vom Großherzog
Ein Leutnant ging vorüber
Das W.C. vor dem Kompetenz-Gerichtshof
VI KAMPF GEGEN DIE EIDESSEUCHE
Die Familie und der Staat
Wie man so schwört
Judith
Der Meineidmaler und sein Zeuge
Glück in der Justiz
Das Doppelkinn der Frau T.
Die er kennt, sagt er du
Adele berichtigt ihre Biographie
Die Meineidskönigin
Der Fall Eggert
Meineidsverfahren als Waffe
Meineid für nichts und wieder nichts
Freispruch des Angeklagten - Verurteilung des Staatsanwalts
Der Meineid des Tages
Krause und die Juristen
Der Meineid aus Fahrlässigkeit des Richters
Die spacke Badewanne
Liebe im Ausschuss
Länder ohne Meineidsverfahren!
VII RICHTER UND RECHT
Richterporträts aus Moabit
Nicht Fall Marschner - Fall Schwurgericht
Das Beratungsgeheimnis bei uns - und bei andern
Der falsche Schöffe
Wie macht man Schöffen?
Die Atmosphäre von Moabit
Blind, halbblind, sehend
Diese Schwurgerichtsverhandlung zeigte im Zuschauerraum eine merkwürdige Zweiteilung: rechts saßen nur junge Mädchen, links nur junge Männer - offenbar unter dem Schutz ihrer Lehrer. Was sie sonst lernen, wurde nicht bekannt. Hier im Schwurgerichtssaal lernten sie Vatermord.
Wohingegen Angehörige der jüngsten Dichtergeneration leider fehlten. Vielleicht, weil sie sich einbilden, auf diesem Gebiete nichts mehr lernen zu können. Und dennoch wären sie um manche Erfahrung reicher geworden - so um die, daß ein richtiges Vatermördchen unendlich banal sein kann, ohne jede Stufung und Ballung, gänzlich unpathetisch; trotz der traurigsten familiären Grundlage mit einem nicht unversöhnlichen Ausgang.
Angeklagt war ein 19 jähriger Gärtnergehilfe, ein rechtes Stiefkind der Natur. Sein Vater, ein auf einem Auge ganz, auf dem andern halb erblindeter Ziehharmonikaspieler, lebte mit seiner Frau in Unfrieden, wodurch fünf Kinder auf die Welt kamen. Dieser Junge wurde bald nach der Geburt zu fremden Leuten gegeben, wuchs teils bei diesen, teils in Waisenhäusern auf, lernte das Gärtnerhandwerk, erkrankte an Rheumatismus und Herzleiden und kam so schließlich wieder mal zu seinem Vater zu Besuch. Der Vater hatte längst die Ehefrau verlassen, war zu einer anderen Frau gezogen und stand gerade vor dem Ehescheidungstermin. Da wollte er denn haben, daß der Junge mit zum Termin käme, um zuungunsten der Mutter auszusagen. Das wollte der Junge nicht. Als dann der Prozeß für den Vater ungünstig ausging, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Es kam zu Handgreiflichkeiten, der Vater würgte ihn ein zweites Mal in der Trunkenheit, worauf sich der Sohn zu seinem Schutze einen Revolver kaufte. Dann kam es wieder zu einer Szene, weil der Vater eine Patrone gefunden hatte und hieraus auf die Anwesenheit des Revolvers schloß. Er wollte den Jungen bei der Polizei anzeigen. Da ging plötzlich der Revolver los, brachte dem Vater eine ungefährliche Wunde an der Schläfe bei - der Junge stellte sich selbst der Polizei.
Dies der (nicht genaue) Sachverhalt. Den genauen kennt man nicht, denn die Verhandlung war reicher an Mißverständnissen denn an Aufklärungen. Der Junge, ein ganz stattlicher Bursche, zeigte sich merkwürdig stumpf und ungelenk im Umgang mit Juristen. Und als man ihm in der Mitte des Gerichtssaales die Waffe noch einmal in die Hand drückte, ihn dem Vater gegenüberstellte und ihn aufforderte, zu zeigen, wie er nun eigentlich geschossen habe, versagte er vollkommen. Nur behauptete er, gewissermaßen in Notwehr gehandelt zu haben, um sich gegen den auf ihn zustürzenden Vater zu schützen. Diese Aussage erweckte das sichtliche Mißfallen der Juristen, das sich aber alsbald in verstärktem Maße gegen den Vater richtete, als auch dieser erklärte, er sei auf seinen Sohn losgegangen, als die Waffe losging. Und auch die Braut bezeugte diese den Sohn ent-, den Vater belastende Darstellung.
Das schien dem Gericht deshalb unglaublich, weil Vater und Braut vor Polizei und Untersuchungsrichter bisher immer übereinstimmend ausgesagt hatten, der Schuß sei erst gefallen, nachdem der Wortwechsel schon seit zehn Minuten beendet gewesen sei. Entweder hatte nun der Vater vor der Polizei eine wissentlich falsche Anschuldigung gemacht - oder er machte vor Gericht eine falsche Angabe - eventuell unter Eid, Die Braut aber sagte ganz offen, sie habe bisher die Unwahrheit gesagt, aber unter Eid müsse sie doch mit der Wahrheit heraus - worauf ihr der Vorsitzende mit erhobener Stimme eine sofortige Verhaftung androhte. Andererseits kam er zu der Überzeugung, daß dem Vater der Junge nun leid tat, und daß er deshalb die günstigere Aussage machte.
'Wollen Sie eigentlich, daß Ihr Sohn bestraft wird?'
'Nein, das will ich nicht.'
Und an die Braut des Vaters wurde die Frage gerichtet:
'Haben Sie ein festes Eheversprechen des Vaters, sind Sie seine Verlobte?'
'Jawohl, wir wollen uns heiraten.'
'Stehen Sie gut mit ihm?'
'Halb und halb, mal so, mal so.'
In dem Seelenbild des Vaters zeigen sich noch einige Eigentümlichkeiten. Er ist nämlich gegenüber den anderen Kindern ein scheinbar sehr zärtlicher Vater, nachdem ihm diese Kinder vom Jugendamt abgenommen sind. Er hat eine schreckliche Wut auf das Jugendamt und behauptet, seinen Sohn nur gewürgt zu haben, weil er diesen in der Trunkenheit für einen Abgesandten des Jugendamts hielt.
Auf die Frage des Vorsitzenden, womit er seinen Unterhalt verdiene, sagt er:
'Ich spiele Ziehharmonika auf den Jahrmärkten - ich habe einen Gewerbeschein -'
'Dazu brauchen Sie doch keinen Gewerbeschein - das ist doch Bettelei -'
'Ich spiel doch Ziehharmonika - ich habe einen Gewerbeschein als Musiker -'
'Das ist doch keine Musik, sondern höchstens ein unangenehmes Geräusch -'
Ein Beisitzer mischt sich hier ein.
'Haben Sie ein Schild auf der Brust getragen: >Erblindet<?'
Nur zögernd räumt es der Mann ein.
'Das ist doch Betrug!' ruft der Beisitzer.
Der Ziehharmonikaspieler steht zerknirscht da, in dem beschämenden Bewußtsein, auf dem einen Auge noch etwas sehen zu können.
Der Staatsanwalt beantragte wegen versuchten Totschlags eine Zuchthausstrafe von 2 1/2 Jahren, da von Notwehr keine Rede sein könne. Der Verteidiger Dr. Themal nahm sich des Angeklagten aufs wärmste an, indem er die Lage des kranken, stellungslosen Jungen schilderte, der fast von Geburt an außerhalb des Elternhauses aufwachsen mußte und der nun, von seinem Vater auch noch körperlich mißhandelt und aus dem Hause gewiesen, sich mit der Schußwaffe verteidigte, als der Vater neuerdings über ihn herfallen wollte. Aber das Bemühen war vergebens. Das Gericht verurteilte den Angeklagten zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus - Mindeststrafe für den versuchten Totschlag an einem Verwandten aufsteigender Linie.
Dieses Gericht hat ein grausames Urteil gesprochen, und wenn dieser bis heute unbestrafte junge Mensch, dem auch noch von einer Zeugin das beste Leumundszeugnis gegeben wurde, auf dem Wege übers Zuchthaus wirklich ein Verbrecher wird, so möchte man nicht an diesem Urteil - auch nur durch Stillschweigen - die Mitverantwortung tragen.
Die beiden einzigen Zeugen der Tat - der Vater und seine Geliebte - haben vor Gericht ausgesagt, daß der Sohn in Abwehr eines tätlichen Angriffs des Vaters geschossen hat. Möglich, daß diese den früheren Aussagen widersprechende Bekundung nicht auf Wahrheit beruhte - so hatte doch das Gericht mehr als einen Grund, diese Brücke zu betreten. Wenn das Gesetz den Totschlag an einem Verwandten aufsteigender Linie besonders schwer bestraft, so doch deshalb, weil es die Tat eines entarteten Sohnes gegen einen guten Vater im Sinne hat. Der eigentlich moralisch Schuldige ist aber in diesem Falle dieser Vater, der den Sohn wenn nicht zum Ergreifen der Waffe, doch zur Verzweiflung getrieben hat. Und dieser Vater empfindet nun doch Reue; er ist vielleicht kein schlechter, aber selbst ein haltloser, triebhaft handelnder Mensch. Er will nicht die Bestrafung des Kindes, er bekennt (vielleicht fälschlich), den Sohn noch einmal angegriffen zu haben. Da hätte das Gericht die Pflicht gehabt, diesem Vater zu glauben, um auf diesem Wege zu einer möglichst gelinden Bestrafung zu gelangen!
Das Schwurgericht alten Stils hätte anders gesprochen als dieses, in dem der Formalismus und der 'kriminalistische Scharfsinn' der Juristen es so leicht hat, über den gesunden Menschenverstand und einfache Menschlichkeit zu triumphieren.