Prolog
Montag, 7. Januar 2002, Buenos Aires
No one left to scream or shout
Ein fernes Land. Eine fremde Stadt. Die Wohnung eines gewissen Fred Tantani. Ich liege mit geschlossenen Augen im Bett. Ganz still, um meine Geister nicht zu wecken. Vergebens! Schon stampfen sie wieder wutentbrannt über die Straßen, klappern mit Kochtöpfen und hämmern gegen längst geschlossene Banken. Laute Geister! Böse Geister! Mit ihrer immer gleichen Klage. 'Unser Geld! Gebt uns unser Geld zurück! Und unser Leben!' Dann spukt halt weiter. Aber ändern könnt ihr nichts: Euer Geld ist verloren, euer Leben verpfändet und eure Seele verkauft. Wer wüsste das besser als ich.
Ich schäle mich aus den verschwitzten Laken, tapse über schartige Holzdielen, schlage die unvermeidliche Kakerlake tot und stelle den Plattenspieler an. Sofort erfüllt der freche, widerspenstige Sound einer Hammondorgel den nachtblauen Raum. Schlagzeug und Gitarre setzen ein. Der erste gellende Schrei des Sängers vertreibt auch die letzten Plagegeister. Mein Gegenzauber wirkt! Das dunkle, hypnotische Delirium der Instrumente und die anklagende Empörung in der Stimme von Jim Morrison. Das ist kein Pop, das ist Poesie.
What have they done to the earth? / What have they done to our fair sister? / Ravaged and plundered / And ripped her and bit her / Stuck her with knives / In the side of the dawn.
Jim hat es vor uns allen erkannt. Die Drogen haben ihn nicht vernebelt, sie haben ihn klarsichtig gemacht. Als ob er sich die Augenlider herausgerissen hätte und immerzu in eine furchtbare Zukunft hätte starren müssen, die ich mit so vielen anderen errichtet habe: Die Herrschaft des Kapitals und die Knechtschaft der Völker. Doch niemand kann leben, ohne ab und an seine Augen zu verschließen vor dem Unrecht. Sommer 1971. Eine Badewanne in Paris. When the music's over, / Turn out the light.
Fred Tantani ist Jims Weg der Rebellion auf seine ganz eigene Art zu Ende gegangen - dreißig lange Jahre lang. Von 1971 in Paris bis 2001 in Buenos Aires. Und als er vor einer Woche endlich am Ziel angekommen ist, hat er sich eine Kugel durch den Kopf geschossen. Nicht so, wie es manche Anfänger machen, die dann nur blind werden oder blöde. Nein, wie ein Profi. Lauf in den Mund. Richtiger Winkel. Abgedrückt. Weil er das System nicht in die Luft sprengen konnte, hat er sich sein Gehirn weggeblasen. So könnte es gewesen sein. Music is your only friend until the end, / Until the end, until the end.
Zurück ins Bett, den Kopf unters Kissen. Zurück ins Chaos der Krise. Zurück in die brennende Stadt am Südrand der Erde: Straßenfluchten, in denen die Wut kocht - heißblütig, ohnmächtig, ohne Sinn und Verstand. Die Sprechchöre der Demonstranten. 'Die Armen liefern die Leichen, der Mittelstand muss weichen, das Kapital dient nur den Reichen.' Einer von Tantanis letzten Sätzen. 'Ihr könnt die Entfernung zu mir immer nur halbieren. Aber so holt ihr mich nie ein.' Er hat Recht behalten. Persian night / See the light / Save us! / Jesus / Save us!
Als ich wieder aufwache, ist der nächtliche Spuk vorbei. Nur der Röhrenverstärker der Stereoanlage brummt noch wie ein letztes Echo des Aufruhrs. Nachdem ich ihn ausgeschaltet habe, höre ich nur noch das gleichgültige Rauschen des Verkehrs auf der Nueve de Julio einen Block weiter oben, das Knattern eines Busses auf der Tacuarí ein paar Meter weiter unten und das Klappen von Fensterläden in der Nachbarwohnung. Da ist das Morgenschwätzchen zweier alter Weiber, das in der weichen Melodie des argentinischen Spanisch dahinfließt. Und da ist eine italienische Opernarie, die munter aus irgendeinem halbgeöffneten Fenster hinaussprudelt und dann die Calle Chile Richtung Rio de la Plata hinunterplätschert.
Ein neuer Tag beginnt, das Leben geht unbeirrt weiter. Es ist ja nichts Bemerkenswertes passiert. An der Peripherie, zumal an ihren südlichen Enden, kann es schon einmal vorkommen, dass ganze Länder von der Weltkarte fallen. Manchmal tauchen sie sogar wieder auf. Wer kennt das nicht? In den Nachrichten hört man Meldungen über Kindersoldaten, Massaker, Massenvergewaltigungen und denkt sich, 'Sieh an, sieh an, den Kongo gibt's ja auch noch'. Aber im Gegensatz zum Kongo verfügte Argentinien noch bis vor Kurzem über alle uns Europäern vertrauten Merkmale einer modernen Zivilisation: ein marodes Rentensystem, eine hohe Selbstmordrate und eine zufriedenstellende Psychiaterdichte. Vor einem Jahrhundert lag Buenos Aires sogar gleichauf mit Paris. Die argentinische Oberschicht verbrachte ihre Zeit lieber an der Seine als am Rio de Plata, weil dort alles billiger war und auch nicht viel unkultivierter. 'Riche comme un Argentin', hieß es damals in der alten Welt. Die Ökonomen sagten dem Land den Aufstieg zu einer der führenden Mächte des 21. Jahrhunderts voraus - übertroffen nur vom Britischen Empire, dem Zarenreich und Belgien mit seinen unermesslichen Kronschätzen im Herzen Afrikas.
Nun hat die Argentinienkrise ein ganzes Volk ins Elend gestürzt und für den Rest der Menschheit ist das eine Randnotiz. Ein unbedeutender nationaler Unfall am Seitenstreifen der inzwischen gut ausgebauten globalen Waren- und Geldautobahnen. Mehr nicht. Nur in der englischen Presse habe ich vor einiger Zeit drastische Schlagzeilen gelesen. 'Das Schicksal ist grausam' und 'Schlimmer konnte es nicht kommen' hat sie mit Hinblick auf Argentinien getitelt. Aber bei genauerem Hinsehen war der Grund nicht die Krise, sondern die Auslosung der Gruppen für die nächste Fußballweltmeisterschaft. Die englische Nationalmannschaft hatte es in dieselbe Gruppe wie die argentinische verschlagen und die Erinnerung an das Viertelfinale von 1986 war noch frisch. Zwei Tore wie ein kalter Stich ins Herz der englischen Fans. Zwei Tore für die Ewigkeit. Beide durch Maradona. Das erste hat er regelwidrig mit der Hand erzielt und 'die Hand Gottes' getauft, das zweite im Alleingang so genial herausgespielt, dass die Engländer es bis heute zähneknirschend 'das verdammte Wunder' nennen.
Doch an diesem Morgen in Buenos Aires scheint nichts ferner als Gott oder eines seiner Wunder. Der Himmel hängt grau und tief, die Luft liegt schwer und drückend - und wenn Argentinien überhaupt noch auf etwas wartet, dann auf die nächste Runde von Sozialkürzungen.
Eine halbe Stunde später sitze ich am Tresen des Cafés, das sich im Erdgeschoss von Tantanis Wohnhaus befindet. Es ist nach der amerikanischen Tänzerin Isadora Duncan benannt, die hier vor hundert Jahren, einzig in die blauweißblaue Fahne mit der Sonne gehüllt, die argentinische Nationalhymne getanzt hat. Die Geschichte wurde zum Skandal der Saison, das Café zu einem legendären Treffpunkt der Bohèmiens. Aber das ist lange her. Heute bin ich der einzige Gast. Und der Pächter, ein übel gelaunter und schlecht rasierter Mann in den späten Fünfzigern, blättert in einer Zeitung, die tatsächlich mit dem neuesten Sparpaket für Argentinien aufmacht.
'Ich kann mich noch an die Zeiten erinnern, als die neuesten Nachrichten mit lauter Stimme von den Zeitungsjungen ausgerufen wurden', sagt er und saugt nachdenklich einen Schluck Maté durch einen Metallhalm aus einem hohlen Kürbis. 'Die führenden Blätter Argentiniens hießen damals Crítica und La Razón - und weil ich mich in jener Zeit für Philosophie interessierte, musste ich auf den Straßen der Stadt immer an Kant denken: >Kritik! Vernunft!<.' Er lächelt traurig und tippt auf die Schlagzeilen. 'Sieht so aus, als wären die beiden Hübschen schon lange wieder ausgewandert.'
Ich nicke.
Er schlägt die Zeitung zu und schiebt sie beiseite. 'Stimmt es, was man über Fred sagt?', fragt er und sieht mich direkt an. 'Dass er für das Volk gestorben ist. Dass er sich für die Menschen geopfert hat.' Er macht eine Pause. 'Und dass er ein besonderes Schwert bei sich trug. Ein mystisches Schwert. Das Schwert der Engel.'
Ich wiege den Kopf. 'Ja, das Schwert, das trug er bei sich. Der Rest ist Aberglaube. Und das mit dem Volk - nun, das muss das Volk selbst entscheiden.'