Kann man es einem "Nicht-Ostpreußen" abnehmen, wenn er sich für ein Land interessiert, das es schon lange nicht mehr gibt?Ich war 12 Jahre alt, als mir ein Lehrer von Königsberg erzählte und mich neugierig machte. Ich hörte von britischen Bombern, die in den Augustnächten 1944 Phosphor über der Stadt versprühten, und lauschte seinen Erzählungen über den Festungskampf, der mit der Kapitulation am 9. April 1945 endete. Er sprach vorsichtig von Breschnew, der die fremde Kultur im früheren Königsberg, das nun Kaliningrad hieß, ausmerzen wollte und 1969 die Reste des Königsberger Schlosses sprengen ließ. Er konnte wunderbar erzählen von den alten Vierteln an den beiden Pregelarmen und von der Dominsel. Ich ging in die Stadtbibliothek und fragte nach Büchern über Königsberg. Pikiert antwortete mir die Bibliothekarin, daß Kaliningrad jetzt eine moderne, sowjetische Großstadt sei ... .Als ich im Frühjahr 1999 im "Ostpreußenblatt" für ein recht persönliches Kochbuch um Übermittlung von Rezepten, Erinnerungen und Dokumenten bat, erhielt ich ein überwältigendes Echo. Briefe, Pakete und persönliche Gespräche erbrachten eine erstaunliche Fülle an einmaligen Erinnerungen.Nun ist das "Ostpreußen-Geschichts-Kochbuch" fertig und vieles an Material konnte nicht berücksichtigt werden. Deshalb habe ich vor allem die Speisen und Menüfolgen in das Buch aufgenommen, die noch weitgehend unbekannt sind oder nur einem kleinen regionalen Kreis zugänglich waren. Alle Rezepte sind, wenn nicht anders vermerkt, für vier Personen berechnet. Liebenswerte Menschen lernte ich kennen in den neuen und alten Bundesländern, die mit großer Verbundenheit von ihrer ehemaligen Heimat sprachen. Ich danke ihnen für die unvergeßlichen Gespräche und ihre Bereitwilligkeit, mir das historische Material uneigennützig zu schenken oder leihweise zu überlassen. Ich lernte ein Land kennen, das über eine hohe Kultur verfügte und von der Bescheidenheit und dem schöpferischen Einfallsreichtum seiner Menschen geprägt war. Bemerkenswert und für mich als sehr ähnlich empfindenden Thüringer beeindruckend der Stolz der Ostpreußen auf ihre Familientraditionen, auf alte Bräuche und das weite schöne Land.Von Ella Brachmann und ihren Eintopf-Spezialitäten aus der Kalcherschen Werksküche in Schloßberg bis zu den Traditionsgerichten von Schloß Schlobitten spannt sich ein bunter, erstaunlich vielfältiger Bogen. Das liegt sicher daran, daß die Erinnerungen der Befragten so lebhaft und gegenwärtig sind - vieles wurde wieder und wieder in den Familien erzählt. Und diese Erinnerungen sind wohl auch Ausdruck der patriarchalischen Verbundenheit der Ostpreußen mit ihrem Land und den Menschen, resultierend aus starkem Traditionsbewußtsein und dem Aufeinanderangewiesensein im arbeitsreichen Alltag. So werden alltägliches Leben und außergewöhnliche Schicksale nacherlebbar. Wandel der Geschichte: Heute ist es wieder möglich, jenes versunkene Land, seine Städte und Dörfer zu bereisen. Ostpreußen, das Kernland Preußens, das nach dem Alliierten Kontrollratsgesetz vom 25. Februar 1947 nicht mehr existiert, lebt in seinen früheren Bewohnern und ihren Nachkommen weiter, wie auch in seinem historischen Erbe, das aus der preußisch-deutschen Geschichte nicht mehr herauszulösen ist.Ich bedanke mich bei allen, die mir geholfen haben, daß dieses Buch entstehen konnte. Besonderen Dank auch meinen beiden Arbeitskolleginnen, Frau Krista Seyfarth und Frau Beate Korn aus Gera, die mir beim "Übersetzen" alter Familiendokumente eine wichtige Hilfe gewesen sind.
Gera, im Herbst 2000
Ella Brachmann 1932
Ella Brachmann (1914-1995) erinnerte sich bei unserem Zusammentreffen noch lebhaft an die Zeit in Schloßberg (vormals Pillkallen, heute Dobrowolsk) und an ihre Tätigkeit in der Werksküche der Firma Kalcher.Kalcher - der Name stand für einen aufstrebenden Handwerksbetrieb. Frau Brachmann schwärmte von der 40-Jahr-Feier des Betriebes im "Schützenhaus" Schloßberg. An drei langen, mit Blumen geschmückten Festtafeln speisten die Festgäste, die zum Firmenjubiläum geladen waren. Der Chef Hans Kalcher, er war Maurermeister und Zimmermeister, sah an dem Abend sehr gut aus mit dem Eisernen Kreuz am weißen Band am Rockaufschlag.Er engagierte sich energisch für Schloßberg und es ist sein Verdienst, daß vieles der Nachwelt erhalten geblieben ist: die Post und das Rathaus, etliche Straßenzüge und die Parkettfabrik. Hier, in der Parkettfabrik, arbeitete Ella Brachmann zu jener Zeit, als die Firma Kalcher & Söhne aufblühte.Hans Kalcher finanzierte 1919 auch die elektrische Lichtanlage im damaligen Pillkallen und dann später in Schloßberg mit. (Am 16. Juli 1938 wurde die Kreisstadt Pillkallen in Schloßberg umbenannt.) Im neuen Königsberger Bahnhof sind viele Ziegel und das begehrte Parkett aus Pillkallen verbaut worden. Schloßberg verdankt Hans Kalcher viel, erzählte Ella Brachmann. Sie erwähnte die Badeanstalt, die ihrer Familie viel Freude beschert hat, den neuen Schießstand in den alten Kiesgruben, den Saal im "Schützenhaus" und die Rollschuhbahn, die Hans Kalcher zu neuem Leben erweckte.Die Zeit ist vergangen. In Meerane fand Ella Brachmann eine neue Heimat. 1990 reisten Freunde von ihr in das Dobrowolsker Gebiet. Auf zahlreichen Fotos und mit der Filmkamera hielten sie ihre Eindrücke fest - für Ella Brachmann eine schmerzlich-schöne Erinnerung. 1995 ist Ella Brachmann gestorben.
Gemüsesuppe nach Familie Horn, Schloßberg um 1940
Sellerie, Mohrrüben, Pastinaken (weiße Rüben), grüne Bohnen, Porree (nur die weißen Enden!), Blumenkohl, Wirsingkohl, Rindfleisch (Querrippe, gut durchwachsen), SalzDas Gemüse in beliebiger Form zerkleinern, in einen Kochkessel geben, mit Wasser auffüllen, salzen. Das große Stück Rindfleisch dazugeben und aufkochen lassen. Dann abschäumen und an nicht zu heißer Stelle auf dem Herd gar kochen.