Zwei großartige Erzählungen von Jerome D. Salinger
»Bereits vor der Veröffentlichung seines Romans The Catcher in the Rye (1951) (dt. Der Fänger im Roggen) hatte Salinger in Kurzgeschichten von der Familie seines Helden, Holden Caulfield, erzählt. Drei Jahre vor Erscheinen des Romans begann in seinen Stories neben dem Namen Caulfield der der Familie Glass aufzutauchen, jener sensiblen, jüdisch-amerikanischen Familie, die den sparsam publizierenden und seit 1965 verstummten Autor seit 1953 ausschließlich beschäftigte. Die bis 1965 entstandenen Erzählungen - neben Franny and Zooey noch Raise High the Roof Beam, Carpenters (Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute), Seymour: An Introduction (Seymour wird vorgestellt) und Hapworth 16, 1924 - hat Salinger selbst Teile einer auf lange Sicht geplanten Familienchronik genannt. Frances, genannt Franny, und Zachary Martin, genannt Zooey, sind die jüngsten der sieben Kinder von Bessie und Les Glass, einem nach New York eingewanderten, im Schaugeschäft einst international bekannten Künstlerpaar. In der ersten Geschichte fährt die zwanzigjährige Studentin Franny übers Wochenende zu ihrem Freund Lane Coutell, der sie zum Footballspiel der Yale-Universität eingeladen hat. Obwohl sie sich wochenlang auf das große Ereignis und auf ihren Verehrer gefreut hat, gerät sie nach der Ankunft in eine seelische Krise. Plötzlich ist sie des Studienbetriebs, ihrer Lehrer und ihrer schauspielerischen Zukunftspläne überdrüssig. In einem Restaurant, in dem sie Lanes wichtigtuerisches literarisches Geschwätz über sich ergehen läßt, wird ihr klar, daß sie nicht nur eine Außenseiterin ist, sondern daß sie auch sich selbst satt hat: »I am just sick of ego, ego, ego.« Obwohl sie schon fast überzeugt ist, daß der junge Mann, dem sie das Wochenende verdorben hat, ihr nicht weiterhelfen kann, erzählt sie ihm von einem Buch, das sie bei sich trägt und in dem ein russischer Pilger seinen Weg zur Befreiung vom Selbst und zum Aufgehen in Gott schildert. Nachdem sie Lane mit beschwörenden Worten erklärt hat, daß sie den gleichen Weg suche, erleidet Franny einen Zusammenbruch. Die zweite Geschichte spielt zwei Tage später in der New Yorker Wohnung der Familie Glass, wo die zurückgekehrte Franny teilnahmslos im Wohnzimmer liegt. In der ausschließlich aus langen Dialogen und fast surrealistisch anmutenden Beschreibungen verschiedener Räume bestehenden Erzählung treten neben Franny der fünfundzwanzigjährige Fernsehdarsteller Zooey und Mutter Glass auf, im Geist anwesend sind jedoch auch die anderen Geschwister, vor allem die beiden ältesten: Buddy, der als Schriftsteller in einem kleinen Collegeort lebt, und Seymour, der bereits vor sieben Jahren Selbstmord begangen hat (vgl. die Kurzgeschichte A Perfect Day for Bananafish aus Nine Stories, 1953). So heftig Zooey sich dem Einfluß, den die beiden auf ihn und Franny ausüben, zu widersetzen scheint (»Das ganze gottverdammte Haus stinkt nach Gespenstern«), es sind schließlich doch ihre Lehren - vor allem die des allgegenwärtigen Seymour -, die ihn einen Weg finden lassen, Franny über die Krise hinwegzuhelfen. Aus Seymours unverändert gebliebenem Zimmer, über Seymours immer noch angeschlossenes Telefon vermittelt er ihr eine »Botschaft« des toten Bruders
. In der Einleitung zu Zooey, in der er sich mit Buddy Glass identifiziert, kommt Salinger dem Einwand zuvor, daß seine Texte die Form der Erzählung sprengen. Er nennt seine Berichte über die Familie Glass »eine Art Heimkino in Prosa«. Vor allem in der zweiten Geschichte fordert diese Technik vom Leser die Bereitschaft, sich nicht von einem Thema, sondern allein von den Geschöpfen fesseln zu lassen, die der Autor so sehr zu lieben scheint, daß er kaum mehr darzustellen sucht, warum sie eigentlich liebenswert sind. Sie gewinnen einzig aus ihren endlosen Suaden Gestalt: Als Kinder frühreif, übersensibel und erstaunlich belesen (in einem Radioquiz wurden alle sieben jahrelang dem Publikum als Wunderkinder präsentiert), sind sie auch als Erwachsene absurd-originell geblieben - eine »Rasse« für sich. Sie haben Kafka und Dostojevskij parat, suchen Antworten bei den Mystikern Asiens und Europas und halten die Wertskala der Gesellschaft, in der sie leben, für »phony« (deutsch etwa: angeberisch, heuchlerisch, verlogen). Der um einige Jahre jüngere Holden Caulfield aus The Catcher in the Rye steht seiner Umwelt ähnlich gegenüber, auch er muß, wie sein einstiger Lehrer ihm rät, selbst herausfinden, wohin er gehen will. Aber er sucht bei seiner Auseinandersetzung mit den »phonies« den direkten Kontakt mit dieser Umwelt, bevor es ihn schließlich zu seinen Geschwistern treibt (auch hier spielt der tote Bruder eine Rolle). In Franny and Zooey dagegen kommt die Bindung an die Familie einer Flucht vor der Gesellschaft, mehr noch, fast einem Verzicht auf Individualität, gleich. Der Narzißmus der Geschwister Glass ist ein »Familiennarzißmus«, und wenn Franny mit Hilfe der Brüder zur »Außenwelt« zurückfindet, so ist dennoch sicher, daß sie sich bei jeder künftigen Krise zu ihrem Clan zurückziehen wird, um von ihresgleichen zu hören, wie »der Krieg gegen das System« weitergeführt werden soll. Auch dieses Buch wurde zum Bestseller, auch hier fasziniert Salingers Begabung, in einem bis in die feinsten Nuancen stilisierten Idiom zugleich Ausdrucksweise und Bewußtseinslage seiner jungen Außenseiter wiederzugeben. Er spricht die Sprache, deren Forum der >New Yorker< ist und die ihre Nachahmer in der amerikanischen Collegejugend gefunden hat.« Gertrud Baruch Aus: Kindlers neues Literaturlexikon, © 1990 by Kindler Verlag GmbH, München. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung.
Rezensionen / Stimmen
»Das Buch hat einen solch frechen Charme, dass es weniger befriedigend als vielmehr aufmunternd wirkt.«
Jerome David Salinger wurde am 1. Januar 1919 in New York als Sohn eines polnisch-jüdischen Vaters und einer deutsch-schottisch-irischen Mutter geboren. Er besuchte die McBurney School in Manhattan, wo er Artikel für die Schülerzeitung schrieb und Theater spielte. Auf den Abschluss folgte die Ausbildung an der Valley Forge Military Academy in Wayne, Pennsylvania. In diese Zeit, 1934 bis 1936, fallen Salingers erste literarische Versuche: Er ist Filmkritiker und Herausgeber der Kadettenzeitschrift Crossed Sabres. Nach der Ausbildung auf der Militärsschule, begann J.D. Salinger ein Studium der Sonderpädagogik an der New York University, ging dann allerdings für etwa fünf Monate nach Europa und absolvierte auf Drängen seines Vaters, der selbst im Fleisch-Importgeschäft tätig war, in Wien eine Ausbildung in einem Schlachterbetrieb. 1938 begann er ein Studium am Ursinus College in Collegeville, Pennsylvania, verließ es aber letztlich ohne Abschluss. In dieser Zeit verdiente er sein Geld als Theaterkritiker und Kolumnist bei Ursinius Weekly. 1939 besuchte Salinger einen Abendkurs im Kreativen Schreiben an der Columbia University School of General Studies, der von dem langjährigen Redakteur von Story Magazine, Whit Burnett, geleitet wurde. 1942 wurde Salinger in die US-Armee eingezogen. In Paris lernte er den Schriftsteller Ernest Hemmingway kennen, der ihm großes Talent bescheinigte. Beide hielten lange Briefkontakt. Nach dem Krieg ließ sich Salinger psychotherapeutisch behandeln, quittierte den Dienst in der US-Armee und arbeitete danach in Gunzenhausen für eine Abteilung des Nachrichtendienstes. J. D. Salinger war mehrmals verheiratet und hatte zwei Kinder mit seiner ersten Ehefrau Claire Douglas. Seit 1953 lebte Salinger zurückgezogen in Cornish und veröffentlichte 1965 im New Yorker seine letzte Kurzgeschichte. Sein letztes Interview gab er 1980 Betty Eppes von The Baton Rouge Advocate. Salinger starb am 27. Januar 2010 in Cornish, New Hampshire, im Alter von 91 Jahren.
Werk 1940 veröffentlichte Salinger seine erste Kurzgeschichte The Young Folks im Story Magazine. Ein Jahr später versuchte er, seine Kurzgeschichten im New Yorker unterzubringen, doch die Redaktion lehnte die Geschichten, darunter Lunch for Three, Monologue for a Watery Highball und I Went to School with Adolf Hitler, ab. Zum Ende des Jahres wurde schließlich Slight Rebellion off Madison zur Veröffentlichung angenommen, erschien allerdings erst 1946. Salingers literarische Arbeit wurde von Autoren wie Ernest Hemingway, Gustave Flaubert, Rainer Maria Rilke sowie einigen der russischen Klassiker beeinflusst. Als sein bekanntestes Werk gilt der Roman Fänger im Roggen. Bei Erscheinen war es in einigen angelsächsischen Ländern verboten, da es Vulgärausdrücke enthielt. Daneben hat Salinger zahlreiche Kurzgeschichten geschrieben, die sich oft um die Glass-Familie aus Der Fänger im Roggen drehten. Bis heute gilt er als einer der meistgelesenen Autoren der Nachkriegszeit, auch in Deutschland gehört Der Fänger im Roggen zur Schullektüre im Englischunterricht.
Publikationen Romane und Sammlungen Neun Erzählungen, aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld, Kiepenheuer & Witsch 2012. (OT: Nine Stories, Little, Brown and Company 1953); zuerst 1966 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, von Elisabeth Schnack, Annemarie u. Heinrich Böll übersetzt. o A Perfect Day for Bananafish (1948)o Uncle Wiggily in Connecticut (1948)o Just Before the War with the Eskimos (1948)o The Laughing Man (1949)o Down at the Dinghy (1949)o For Esmé-with Love and Squalor (1950)o Pretty Mouth and Green My Eyes (1951)o De Daumier-Smith's Blue Period (1952)o Teddy (1953) Der Fänger im Roggen, aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld, Kiepenheuer & Witsch 2003. (OT: Catcher in the Rye, Little, Brown and Company 1951.); zuerst 1954 als Der Mann im Roggen im Diana-Verlag Zürich erschienen, von Irene Muehlon ins Deutsche übersetzt. Franny und Zooey, aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld, Kiepenheuer & Witsch 2007. (OT: Franny and Zooey, Little, Brown and Company 1961) o Franny (1955)o Zooey (1957) Hebt an den Dachbalken, Zimmerleute und Seymour, eine Einführung, aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld, Kiepenheuer & Witsch 2012. (OT: Raise High the Roof Beam, Carpenters and Seymour: An Introduction, Little, Brown and Company 1963.)o Raise High the Roof-Beam, Carpenters (1955)o Seymour: An Introduction (1959) Three Early Stories (2014) o The Young Folks (1940)o Go See Eddie (1940)o Once a Week Won't Kill You (1944)
Kurzgeschichten Lunch for Three Monologue for a Watery Highball I Went to School with Adolf Hitler The Hang of it, in Collier's Magazine 1941. The Heart of a Broken Story, in Esquire 1941. The Long Debut of Lois Taggett, in Story Magazine 1942. Personal Notes of an Infantryman, in Collier's Magazine 1942. Mrs. Hincher, unv. 1942. The Last and Best of the Peter Pans, unv. 1942. The Varioni Brothers, in Saturday Evening Post 1943. The Varioni Brothers, in Saturday Evening Post 1943. Both Parties Concerned, in Saturday Evening Post 1944. Soft-Boiled Sergeant, in Saturday Evening Post 1944. Last Day of the Last Furlough, in Saturday Evening Post 1944. The Children's Echelon, unv. 1944. Two Lonely Men, unv. 1944. The Magic Foxhole, unv. 1944. A Boy in France, in The Saturday Evening Post 1945. Elaine, in Story Magazine 1945. The Stranger, in Collier's Magazine 1945. I'm Crazy, in Collier's Magazine 1945. This Sandwich Has No Mayonnaise, in Esquire 1945. Birthday Boy, unv. 1946. Slight Rebellion Off Madison, in New Yorker 1946. A Young Girl in 1941 with No Waist at All, Mademoiselle 1947. The Ocean Full of Bowling Balls, unv. 1947. The Inverted Forest, Cosmopolitan 1947. A Perfect Day for Bananafish, in New Yorker 1948. A Girl I Knew, in Good Housekeeping 1948. Paula, unv. 1948. Blue Melody, Cosmopolitan 1948. Uncle Wiggily in Connecticut, in New Yorker 1948. For Esmé - with Love and Squalor 1950 Hapworth 16, 1924, in New Yorker 1965.
Filme1949 My foolish heart, nach Uncle Wiggily in Connecticut
Literatur Peter Freese : J. D. Salingers Nine Stories: Eine Deutung der frühen Glassgeschichten. In: Paul G. Buchloh u.a. (Hg.): Amerikanische Erzählungen von Hawthorne bis Salinger · Interpretationen (= Kieler Beiträge zur Anglistik und Amerikanistik, Bd. 6). Karl Wachholtz Verlag, Neumünster 1968, S. 242-283. Peter Freese: Jerome David Salinger. In: Ders.: Die amerikanische Kurzgeschichte nach 1945 · Salinger · Malamud · Baldwin · Purdy · Barth. Athenäum Verlag, Frankfurt am Main 1974. Ian Hamilton: Auf der Suche nach J. D. Salinger. Limes-Verlag, Berlin 1989. Klaus W. Vowe: J.D. Salinger: Just Before the War with the Eskimos. In: Michael Hanke (Hrsg.): Interpretationen. Amerikanische Short Stories des 20. Jahrhunderts (=Reclams Universal-Bibliothek Nr. 17506). Reclam, Stuttgart 1998. Joyce Maynard: Tanzstunden. Mein Jahr mit Salinger, Piper, München 2002. Kenneth Slawenski: Das verborgene Leben des J. D. Salinger. Rogner & Bernhard, Berlin 2012.