Sie wurde sonst nie so früh wach. Sie blieb mit weit offenen Augen in dem dunklen Schlafzimmer liegen und lauschte auf seine Geräusche. Zuerst auf das hektische Klingeln des Weckers, das so schnell abgewürgt wurde, wie es angefangen hatte, sicher hatte er schon darauf gewartet. Es war halb sieben, das wusste sie. Danach war es für einen kurzen Moment still, und dann hörte sie, wie seine Zimmertür sich lautlos öffnete, um ebenso lautlos wieder geschlossen zu werden. Darauf folgten leise Geräusche, von der Tür bis zum Badezimmer. Er wusste, dass Fremde im Haus waren, und er wollte keinen Lärm machen, denn sicher hielt er sie dafür. Fremde, die hier eigentlich nichts zu suchen hatten, die herkamen, störten, sich einmischten und die Jahre voller schlichter Routine und Sicherheit aus dem Gleichgewicht brachten.Sie kannte ihren Vater nicht. Im Grunde wusste sie nicht, wer er war. Wie er als Junge ausgesehen hatte, als Kind oder in ihrem eigenen Alter. Auf dem Hof gab es nicht ein einziges Fotoalbum. Es war wie eine Geschichte, von der sie nie ein Teil gewesen war, in deren Zentrum sie sich aber nun plötzlich aufhielt. An diesem Tag jedoch würde sie abreisen und sich wieder in ihre eigene Geschichte einklinken. Daran dachte sie, als sie hier lag, dass sie abreisen würde, bevor sie ihn kennengelernt hatte. Der Einzige, den sie kannte, war der Schweinezüchter, der, der sich so gern im Stall einschloss, dessen Stimme sang und lebendig wurde, wenn er von den Eigenheiten der verschiedenen Sauen erzählte, von den frechen Streichen der Ferkel, von den großzügigen Würfen und den Wachstumskurven. Im Stall sah sie ihn, im Stall war er präsent, wenn er in seinem verdreckten Overall dastand und sich in die Koben bückte, um eine Sau von einer Vierteltonne hinter den Ohren zu kraulen, während er das Tier strahlend anlächelte und sein Blick hell und leicht war.Sie hörte, wie er Wasser ließ, mitten in die Schüssel, das konnte er einfach nicht geräuschlos, egal, wie viele Gäste im Haus auch schlafen mochten. Sie lauschte auf die letzten Tropfen, horchte, wie er abzog. Sie hörte danach kein Wasser im Waschbecken, hörte nur, dass die Tür abermals geöffnet und geschlossen wurde, ehe er langsam die Treppe zur Küche hinunterging. Dann hörte sie, wie er Wasser in den Kaffeekessel gab, vermutlich auf den alten Kaffeesatz vom Vortag, danach war es still.Und in der Stille gab sie sich alle Mühe, sich ihre Wohnung zu Hause in Oslo ins Gedächtnis zu rufen: Die Bilder an den Wänden, die Bücher in den Regalen, die kleine Glasschale mit den blauen Badeperlen, den Staubsauger im viel zu engen Schrank auf dem Flur, den Anrufbeantworter, der blinkte, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, den Korb für die schmutzige Wäsche, den Stapel von alten Zeitungen gleich neben der Eingangstür, die antike Blechdose, die sie immer wieder mit Keksen füllte, die Pinnwand mit abgerissenen Kinokarten und Bildern von Hunden und deren Besitzern. Sie versuchte, sich das alles vorzustellen, und schaffte es auch. Sie freute sich darüber. Aber sie wusste nicht, wer er war. Sie wusste nicht, wen sie hier verließ. Seine Schweine kannte sie besser als ihn.Nun hörte sie die Haustür und seine Schritte im Anbau. Ihre Finger griffen nach dem Telefon auf dem Nachttisch und drückten auf die Tasten. Es war zehn vor sieben. Sie wartete auf das Geräusch der Stalltür, die hinter ihm ins Schloss fiel, dann sprang sie aus dem Bett und lief durch das eiskalte Zimmer, riss ihre Kleider an sich und stürzte ins Badezimmer, um sich anzuziehen. Wie er, schlich auch sie. Nur tat sie es blitzschnell und nicht auf seine Altmännerweise. Im Badezimmer nahm sie noch schwach seinen Geruch wahr. Das Bad war kalt, die einzige Wärmequelle war eine kleine rostige Heizsonne, die über dem Toilettenspiegel an der Wand angebracht war. Sie musterte ihr Gesicht, während sie sich die Hände wusch. Sie brachte es nicht über sich zu duschen und wollte warten, bis sie nach Hause kam, wo sie nicht in einer glitschigen Badewanne stehen und Resopalplatten anstarren musste, die an den Rändern von Wasserschäden aufgequollen waren, um sich danach mit einem fast durchsichtigen verschlissenen Handtuch abzutrocknen. An diesem Abend würde sie unter ihrer eigenen guten Dusche stehen, mit Fußbodenheizung unter den Keramikfliesen.Sie schloss die Tür auf und lauschte, bevor sie vorsichtig die Klinke seiner Schlafzimmertür drückte.Das Zimmer war ein wenig größer als das, in dem sie geschlafen hatte und das eigentlich Erlends altes Zimmer war.Sie schaltete die Deckenlampe ein, er würde es nicht sehen, das Fenster schaute nicht auf den Hofplatz, sondern auf den Fjord, genau wie ihres.Die Wände waren vor Jahrzehnten einmal grün angestrichen worden. Der Boden war einst grau gewesen, jetzt war er bis auf das Holz abgenutzt, und vor der Tür und dem Bett, wo seine Fußsohlen den Boden trafen, wenn er zu Bett ging und aufstand, zeichnete sich ein Halbmond ab. Das Fenster war mit Eisblumen bedeckt, blendend weiß vor dem Wintermorgen draußen, in verschlungenen Formen und Mustern.Die Eisblumen waren das einzig Schöne in diesem Zimmer.Kein einziges Bild an den Wänden. Ein Bett, ein Nachttisch, ein Flickenteppich, eine Kredenz vor der einen Wand. Sie ging zu ihr hin und öffnete die Türen. Leer. Sie stand hier nur als Möbelstück vor einer Wand. Aber in der einen oberen Schublade lagen aufeinandergestapelt gehäkelte Decken aus blankem Baumwollgarn, sie waren identisch im Muster, hatten aber unterschiedliche Farben. Sie fror jetzt, vermutlich hatte er das Fenster erst nach dem Aufstehen geschlossen.Das Laken unter der zur Seite geschlagenen Bettdecke war schmutzig, vor allem am Fußende, wo hier und da runde Wollfussel lagen. Vielleicht schlief er mit Socken! Was hatte sie in seinem Zimmer eigentlich zu suchen? Hier konnte sie ihn ja wohl kaum kennenlernen. Das hier war sein Ruheraum, hier war er niemand; niemand war jemand, der ruhte und schlief. Aber wie viele Abende hatte er sich hier wohl hingelegt, in die Finsternis hinausgestarrt und nachgedacht. Hatte er an sie gedacht? Sie vermisst? Es vermisst zu wissen, wer sie war?